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Berlin verstehen

Berlin und soziale Kontrolle: Wie wir unsere Mitmenschen erziehen wollen

Berlin und die soziale Kontrolle: Eine Stadt ist eine ständige Herausforderung. Lärm, Chaos, gehetzte Stimmung, Verkehr und Menschen. Viele Menschen. Auf engstem Raum. Da kommt es zwangsläufig zu Reibung. Unser Zusammenleben wird zwar weitestgehend von Gesetzen geregelt, doch jenseits der Rechtslage gelten Übereinkünfte, Eigenheiten, Klischees und Normvorstellungen, die ständig neu ausgehandelt werden. Unentwegt tut schließlich irgendjemand etwas, was einen anderen nervt. Ein Fahrrad saust über den Bürgersteig, ein Kind brüllt, Touristen gucken blöd in die Gegend, der Hund kackt vors Haus oder die WG in ersten Stock feiert mal wieder bis spät in die Nacht. Was macht man also? Gelassen bleiben oder tadeln, rüffeln und zurechtweisen?

Unser Charakter, die eigene Tagesform aber auch Normen und Gebote der sozialen Kontrolle geben vor, wie wir mit den heiklen Situationen umgehen. Reicht ein strenges Wort, artet die Sache in Streit aus oder müssen gar das Ordnungsamt oder die Polizei hinzugezogen werden? Die Bandbreite der Reaktionen ist groß, so wie das Thema selbst. Es geht um zentrale Fragen unseres Miteinanders: Wie wird das Individuum in einer Gruppe gelenkt, wo gibt es Grenzen, wie werden bestimmte Verhaltensweisen geahndet und was müssen wir aushalten und was nicht? Hier zeigen wir an 12 Beispielen, wie in Berlin die soziale Kontrolle im öffentlichen Raum funktioniert.


Nicht über rote Ampeln gehen!

Berlin und die soziale Kontrolle: Eine rote Ampel wird gelegentlich nur als Empfehlung verstanden. Foto: Imago/STPP
Eine rote Ampel wird gelegentlich nur als Empfehlung verstanden. Foto: Imago/STPP

Ein Klassiker der sozialen Kontrolle: „Nicht über Rot gehen, das ist ja ein schönes Beispiel!“. Wer hat diesen Satz in der einen oder anderen Form nicht schon mal gesagt bekommen? Tatsächlich werden in Berlin rote Ampeln gerne mal als Empfehlung verstanden, doch wer über Rot geht bringt sich zwar vermeintlich selbst in Gefahr, aber vor allem wenn Kinder in der Nähe sind, wird die Sache kritisch. Das schlechte Vorbild! Das Level der Empörung steigt rasant. Hier bricht schon mal die preußische Neigung zu Zucht und Ordnung aus und es wird gemaßregelt was das Zeug hält.


Nicht mit dem Fahrrad auf dem Bürgersteig!

Der Gehweg wird oft zum Radfahren genutzt, zum Ärger der Passanten. Foto: Imago/Sabine Gudath
Der Gehweg wird oft zum Radfahren genutzt, zum Ärger der Passanten. Foto: Imago/Sabine Gudath

Sich aufregen, meckern, schimpfen, das gehört zum Verkehr dazu. Es wird geflucht, der Stinkefinger kommt schnell zum Einsatz, jemanden anbrüllen oder eine deftige Zurechtweisung ist nicht selten. „Du Hornochse! Pass doch auf!“, zum Beispiel und gerne mal wird der mahnende Ausruf „Nicht auf dem Bürgersteig!“ vorbeiflitzenden Fahrradfahrern und Fahrradfahrerinnen nachgerufen, denen der Radweg oder die Straße zu unbequem sind. Radfahrer in Berlin: 12 Typen, die unbedingt nochmal üben müssen.


Beim Einparken beobachtet werden

Berlin und die soziale Kontrolle: Parken vor dem Späti kann zur heiklen Angelegenheit werden. Foto: Imago/Jürgen Ritter
Parken vor dem Späti kann zur heiklen Angelegenheit werden. Foto: Imago/Jürgen Ritter

Es sind Momente der Peinlichkeit. Endlich die Parklücke gefunden, zwar knapp bemessen aber immerhin, rein mit der Karre und schnell weg. Doch siehe da, am Späti direkt nebenan hocken ein paar angeheiterte Herren mit etwas zu viel Tagesfreizeit herum und begutachten fachmännisch die Einparkkünste. Das man auf einmal die anderen Autos leicht touchiert, ist eine Selbstverständlichkeit. Die Späti-Herren grummeln und kommentieren. Der Schweiß fließt von der Stirn, das Radio nervt urplötzlich, eine unmögliche Situation. Fliehen oder die Sache durchziehen? Die bierseligen Kontrolleure bleiben aufmerksam.


Runter vom Rasen!

Rasen betreten verboten. Foto: Imago/foto2press
Rasen betreten verboten. Foto: Imago/foto2press

Rasen betreten verboten! Das ist in Berlin tatsächlich kein großes Problem. In den meisten Parks darf man auf die Wiesen und wenn mal nicht, dann läuft da meist kein Parkwächter herum, der das überwacht. Oder doch, sind wir nicht alle auch ein wenig Parkwächter? Das ist das Spannende an der sozialen Kontrolle, sie funktioniert aus der Gesellschaft heraus, nach dem Prinzip: alle kontrollieren alle. Doch die soziale Kontrolle hat natürlich auch ihre institutionellen Körperschaften. Bei der Polizei angefangen, über das Ordnungsamt bis zu Security-Mitarbeitern, Park-Rangern, BVG-Kontrolleuren und nicht zuletzt nicht-menschlichen Kontroll-Instrumenten wie Überwachungskameras oder eben Verbotsschildern. Big brother ist watching you! Nur manchmal ist man selbst auch der große Bruder.


Ihr Hund hat da hingekackt!

Berlin und die soziale Kontrolle: Hier kein Hundekot! Verbotsschild in einem Park. Foto: Imago/Imagebroker
Hier kein Hundekot! Verbotsschild in einem Park. Foto: Imago/Imagebroker

Ein schönes Schild! Der Kampf um die Hundekacke hat in Berlin Tradition. Auf der einen Seite liebt man hier den besten Freund des Menschen mehr als seine Mitmenschen selbst, auf der anderen Seite ist der Hass auf die stinkenden Häufchen enorm. Ein Problem, dass in den vergangenen Jahren zwar abgenommen hat (tatsächlich entsorgen Hundehalter die Hinterlassenschaften ihrer Wauwis immer öfter ins Plasticksäckle verpackt im Müllkübel), doch gelöst ist es nicht. Erwischt man so ein freches Herrchen oder Frauchen, das asozial die Tretmine auf dem Trottoir liegen lässt, folgt sogleich der erhobene Zeigefinger. „Momentchen! So aber nicht!“


Den Hund an die Leine nehmen!

Vorsicht, freilaufender Hund in Prenzlauer Berg. Foto: Imago/Rolf Zöllner
Vorsicht, freilaufender Hund in Prenzlauer Berg. Foto: Imago/Rolf Zöllner

Überhaupt bieten die Vierbeiner einiges an Angriffsfläche. Die Kacke ist das Eine, aber auch frei herumlaufende Hündchen sorgen für Stress. Kommt etwa so ein süßer Pitbull angesaust, der natürlich nur spielen will, kann man schon leicht nervös werden und lauthals den gesetzlich vorgeschriebenen Leinenzwang einfordern. „Nimm den Köter an die Leine, Du Sau!“, ruft man dann dem Eigentümer des Monstrums entgegen und das irritierte Herrchen entgegnet scharf: „Der weiß schon, warum der bellt!“. Alle gegen alle.


Kein Kind muss SO schreien!

Wenn das Kind schreit, ist der tadelnde Blick nicht weit. Foto: Imago/Thomas Trutschel
Wenn das Kind schreit, ist der tadelnde Blick nicht weit. Foto: Imago/Thomas Trutschel

Ob im Verkehr, im Park oder mit dem Hund, die Stadt ist erbarmungslos. Selbst ein moderner Moloch wie Berlin steckt tief drin in gut geölten Kontrollmechanismen. The Neigbourhood Watch. Das ist vielleicht irgendeine Urform der dörflichen Neugierde und des angeborenen und universell-humanistischen ich-weiß-es-besser-als-alle-anderen-Gefühls. Hier geht um das neumodisch bezeichnete Phänomen des „Mom-Shaming“. Mütter mit kleinen Kindern werden von Müttern anderer kleiner Kinder beäugt, kritisiert, getadelt, gerüffelt und scheinheilig beraten. Die Gründe dafür sind mannigfaltig, eigentlich findet sich immer einer. Falsch ernährt, falsch gehalten, falsch erzogen. „SO laut muss kein Kind schreien“. Augenrollen.


Das Kind ist ja viel zu dünn angezogen!

Berlin und die soziale Kontrolle: In den Augen besorgter Mütter, sind die Kinder der anderen meist falsch angezogen. Foto: Imago/Jürgen Held
In den Augen besorgter Mütter, sind die Kinder der anderen meist falsch angezogen. Foto: Imago/Jürgen Held

Offene Formen von Rassismus, Sexismus oder Antisemitismus sind verbale Gewalt und fallen in den strafrechtlichen Bereich, hier greift der Gesetzgeber meist hart durch und diese Ausfälle müssen nicht von den eher „weichen“ Mechanismen der sozialen Kontrolle reguliert werden. Doch gerade Kinder oder ihre Eltern sehen sich oft einer subtileren Form des Mobbings ausgesetzt. Neben dem weiter oben erwähnten „Mom-Shaming“, wird gerne mal an den Kleinen rumgemäkelt. Sie seien zu dünn oder zu dick angezogen, sie sollen nicht so schreien, nicht so toben, sie sind zu ungelenkig oder zu frech. Sie nerven. Irgendwas ist immer.


Jetzt ist Ruhe!

Die einen feiern vor dem haus, die anderen können nicht schlafen. Foto: Imago/Rolf Zöllner
Die einen feiern vor dem Haus, die anderen können nicht schlafen. Foto: Imago/Rolf Zöllner

Wer die Kinder im Kiez zur Ordnung ruft, schaltet auch im eigenen Haus vermutlich schnell in den Beschwerde-Modus. Ach, die lieben Nachbarn. Es ist ein Kreuz. Leider muss man sich in der Großstadt den spärlichen Wohnraum mit fremden Menschen teilen, akustisch jedenfalls. Nur wenige Meter (Zentimeter?) entfernt treiben die nebenan unausstehlichen Schabernack. Etwa Fernsehen schauen oder über den Boden gehen. „Dieser Krach ist doch nicht auszuhalten!“, denkt man schnell. Wenn die Leute auch noch jung sind, ist der Ofen aus. Dann wollen sie auch noch der Geselligkeit frönen und zu lauten Beats legale und illegale Substanzen zu sich nehmen, warum können die nicht mal still sein? „Ruhe jetzt!“


Das gehört in die gelbe Tonne!

An der Tonne, erkennt man die Moral des Menschen. Foto: Imago/Michael Gstettenbauer
An der Tonne, erkennt man die Moral des Menschen. Foto: Imago/Michael Gstettenbauer

Ja, die Deutschen sind ein fortschrittliches Völkchen. In Sachen Umweltschutz macht uns so schnell niemand etwas vor, so denken wir. Recycling wurde doch hier erfunden, ja wo denn sonst? Doch bei den vielen bunten Tonnen im Hof, trennt sich die Spreu vom Weizen. Blau. Gelb. Orange. Grün. Weiß. Schwarz. Wo was rein? Wehe, man wird mal nachlässig und der Nachbar oder die Nachbarin schielen zufällig über den Mülltonnendeckel rüber. Schon holt man sich einen Spruch ab. „Die vergammelten Äpfel nicht in die gelbe Tonne!“, das vergisst man nicht so schnell. Berliner Recyclinghöfe voll: Adressen, Annahme – und wie der BSR die Krise bewertet.


Nun zieh nicht so ein Gesicht!

Kopf hoch, ist doch schönes Wetter. Musst nur rausgehen! Foto: Imago/Westend61
Kopf hoch, ist doch schönes Wetter. Musst nur rausgehen! Foto: Imago/Westend61

Jetzt wird es ernst. Meist widmet sich die soziale Kontrolle organisatorischen Dingen des Alltags. Etwa wie man sich anständig durch den Verkehr manövriert oder Hunde, Kinder und partyfreudige Nachbarn im Zaum hält, ohne das sie größeren Schaden anrichten. Wir leben ja schließlich nicht im Affenhaus! Aber die soziale Kontrolle gebietet gelegentlich auch über die Stimmung in der Bevölkerung. Fällt jemand aus der Reihe, weil er gar zu offensichtlich ein düsteres Gesicht auflegt, bekommt die traurige Gestalt gerne mal erklärt, sie solle es schleunigst sein lassen. Niemand mag depressive Menschen, da kennt die soziale Kontrolle keine Gnade.


Sie könnten sich ja mal eine Hose anziehen!

Berlin und die soziale Kontrolle: Menschen ohne Hosen warten in Berlin auf die U-Bahn. Foto: Imago/Emmanuele Contini
Menschen ohne Hosen warten in Berlin auf die U-Bahn. Foto: Imago/Emmanuele Contini

Berlin, du Stadt der Freiheit! Hier kann man doch nach seiner eigenen Fasson leben. Hier muss man herkommen, wenn man verrückt ist. Du bist Heimat der Paradiesvögel, der sexuell Befreiten, der Nachtschwärmer, Künstler und Hedonisten, einst auch die der Wehrdienstverweigerer. Und tatsächlich, bei aller real existierenden sozialen Kontrolle, die ja nicht immer schlecht sein muss und auf ihre Art die urbane Atmosphäre feinjustiert, ist Berlin offener, bunter und entspannter als viele andere Städte. Ein wenig schauen, was die anderen so machen und im Falle eines Falles tadelnd dazwischenspringen, ist aber auch Teil der Berliner Seele. Aber um es frei nach Klaus Wowereit zu sagen, das ist auch gut so!


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