Nach langer Durststrecke heißt es endlich wieder: Bühne frei für Berliner Künstler:innen! Veranstaltungen wie 48 Stunden Neukölln oder Fête de la musique feiern den Kultursommer. Wir haben mit lokalen Künstler:innen und Kulturschaffenden über ein Jahr Zwangspause und die Sehnsucht nach dem WIR gesprochen.
Ein Vakuum, wo das kulturelle Herz früher schlug
Mundtot. Seit dem ersten Corona-Lockdown im Frühjahr 2020 die unwirkliche Realität vieler Kunst- und Kulturschaffenden. Nach dem abrupten Ende aller Veranstaltungen war der Vorhang gefallen. Es folgte der Stillstand des öffentlichen und kulturellen Lebens auf unbestimmte Zeit. Absagen, Orientierungslosigkeit und Ungewissheit trafen das kulturelle Herz Berlins. An dessen Stelle bis zuletzt ein lautloses Vakuum trat.
Es war der auferlegte Normalzustand einer Stadt, deren kulturelle Identität und künstlerische Anziehungskraft sonst von zufälligen Begegnungen an willkürlichen Orten genährt wird. Einer Stadt, in der Kreativität und Menschsein tagtäglich ein reichhaltiges Angebot hervorbringen. Auf den zahlreichen Vernissagen, Festivals und Konzerten in unserer Nachbarschaft trafen und sahen wir sie: lokale Künstler:innen und Kulturschaffende, die uns zu Zeugen ihrer kreativen Karambolage machten. Doch nach eineinhalb Jahren des Stillstandes bleibt von den rauschenden Festen nur noch eine ferne Erinnnerung.
Auf das lange Nichts folgt nun der große Knall
Im Frühsommer 2021 nun das Comeback: Geschäftiges Getümmel und Begegnungen auf den Straßen, Freunde und Familien, die dem Stadtbild dank Impfungen und Schnelltests wieder geöffneten Cafés, Bars und Parks neues Leben einhauchen. Mit der wieder erlangten Freiheit ist der Ruf nach Euphorie so laut wie niemals zuvor.
Und die Antwort der hiesigen Kulturszene könnte tosender nicht sein. Auf das lange Nichts folgt nun der große Knall: Die post-pandemische Renaissance des kreativen Epizentrums Berlin wird mit zahlreichen Kunst- und Kulturveranstaltungen eingeläutet: dem traditionsreichen Festival 48 Stunden Neukölln etwa oder der Fête de la Musique mit vielen Konzert-Highlights. Dort, wo sich nach langer Abstinenz die Kreativen der Stadt versammeln, präsentieren sie die Resultate ihrer Zwangspause erhobenen Hauptes. Höchste Zeit also, die verschollenen Gesichter und Stimmen aufzusuchen.
Es gibt viel zu sehen bei 48 Stunden Neukölln
Das mannshohe, rostige Gartentor mit der Aufschrift „Dammweg 216“ ist vom Straßenrand nur schwer erkennbar. Geschickt unter dem grünen Dickicht der umliegenden Sträucher und Bäume verborgen, liegt hier der Eingang eines urbanen Garten Edens zwischen Platte und Beton. Und zugleich ein Schauplatz des Kunst- und Kulturfestivals 48 Stunden Neukölln. An einem so außergewöhnlichen Ort wie diesem könnte nichts gewöhnlicher sein: Im Schatten alter Obstbäume und dem Duft frisch gemähten Grases haben Schüler:innen, Kleingärtner:innen und neugierige Spaziergänger:innen einen Platz zum Verweilen. Am anderen Ende des Geländes findet sich eine Ansammlung kleiner und großer Gewächshäuser, in denen reges Treiben herrscht.
Dort treffen wir auf Anna de Carlo, Künstlerin und Kuratorin des Nachbarschaftscampus Dammweg, den Blick zu ihrem neuesten Kunstwerk gewandt. Vor den sanft geschwungenen Grashügeln ihrer organischen Installation „FutureLeaks-Escaping Realities“ betont sie die kommunale und kulturelle Bedeutung des Standortes auf dem Grundstück einer ehemaligen Neuköllner Gartenbauschule. Aus dem Garten, von der Berliner Mondiale kuratiert, einem Projekt des Kulturnetzwerks, sei seit einigen Jahren eine Schnittstelle zwischen lokalen Künstler:innen, Sozialer Arbeit und der ganzen Gemeinde erwachsen.
Dass der Garten nun Schauplatz von 48 Stunden Neukölln ist, liegt für de Carlo angesichts der Vielzahl integrativer Projekte auf der Hand. Besonders für junge oder noch unbekannte Künstler:innen sind es Veranstaltungen mit großer Reichweite, die nach andauernder digitaler Präsenz wieder mehr lokale Aufmerksamkeit erzielen können. So wird zwischen dem 18. und 20. Juni neben De Carlos’ Aufbruch zu neuen Realitäten ein breites Ensemble Berliner Künstler:innen in der botanischen Kulisse am Dammweg 216 zu sehen sein.
Es war ein hartes Jahr für Berliner Künstler:innen
Darunter ist zum Beispiel das 2018 gegründete Videokollektiv Trial & Theresa. Die Künstlerinnen haben dank Materialförderung seitens der Berliner Mondiale ein eigenes Gewächshaus aufstellen können. Ihre Installation „Firehouse Sessions #04: Breathing Fire“, eine Kombination aus Animationen und Video-Elementen im präparierten Treibhaus, soll im Dunkeln des Nachthimmels die Grenze zwischen realem und phantastischem Raum auflösen. Als nachhaltiges Kunstobjekt geplant, wird es auch nach dem Ende der Festivals weiter genutzt und der Nachbarschaft im Gartencampus Dammweg erhalten bleiben.
Für das Künstlerkollektiv ist dies bereits die dritte Teilnahme am traditionsreichen Neuköllner Kunstfestival. Auf die Arbeit an dem diesjährigen Projekt haben homonym, aka Noemi Yoko Nomitor – eine Künstlerin, Schriftstellerin und Journalistin – sowie ihre Kollektiv-Kolleginnen, wie viele andere Berliner Künstler:innen auch, monatelang hingearbeitet. Sie erzählt, dass die kollektive Verwirklichung eines Projektes – von der Ideenskizze bis zum vollendeten Werk – für die Gruppe aus über 20 internationalen Kreativ-Köpfe auch unter nicht-pandemischen Bedingungen eine Herausforderung wäre. Und dass ihre Kunst das Produkt eines lokalen Prozesses, den Impulsen der Umgebung und des Kollektivs ausgesetzt sei. Ohne einen direkten Austausch und künstlerische Reaktion vor Ort sei dies im letzten Jahr nicht möglich gewesen.
Aber auch der interdisziplinäre, kommunale Dialog außerhalb des Kollektivs und die Sichtbarkeit im öffentlichen Raum sind für Trial & Theresa wichtige Gründe für die Teilnahme an kulturellen Veranstaltungen wie 48 Stunden Neukölln.
Trotz aller Vorfreude und Erleichterung, die der Kultur-Neustart mit sich bringt: Als die Künstlerinnen aus ihrem Leben in Isolation berichten, kann auch ein gekonnt akzentuierter Sarkasmus die Wahrheit nicht übertünchen. Für A-li-ce aka Claire Fristot, Video Artist und Teil des Kollektivs Trial & Theresa, ist der bestenfalls halbherzige Beistand der Öffentlichkeit gegenüber der Kunst- und Kulturszene keine große Überraschung. So hätte die Gewissheit, auf unbestimmte Zeit keine sicheren Einkünfte aus der kreativen Tätigkeit beziehen zu können, viele Künstler:innen zu Einzelkämpfer:innen erzogen.
Soziale Medien als Sprachrohr zur Außenwelt
Fernab der grünen Idylle treffen wir die Berliner Künstlerinnen Zoë Claire Miller und Selin Davasse in einem Kreuzberger Atelier-Komplex. Wieder ist es eine Tür, massiv und gusseisern, die dem Innen und Außen einen Namen verleiht. Dahinter öffnet sich ein großzügiges Atelier, steht eine kaltgestellte Flasche Rosé bereit – und die Anpassungsfähigkeit künstlerischer Ausdruckssprache ist Thema.
Miller und Devasse verbindet nicht nur die Hingabe zur künstlerischen Arbeit, sondern auch eine langjährige Freundschaft. Doch das künstlerische Portfolio der beiden Berlinerinnen könnte unterschiedlicher nicht sein: Die Bildhauerin Zoë Claire Miller, geboren im US-amerikanischen Boston, arbeitet vorwiegend mit Skulpturen und Keramiken, in denen sie sich mit Thematiken wie Feminismus, Körperpolitik und Sinnlichkeit auseinandersetzt. Während viele ihrer Künstlerkolleginnen, einschließlich Devasse, die im Lockdown angestaute Kreativität in den digitalen Raum brachten, sah sie sich aufgrund ihres Mediums weiterhin zur analogen Arbeit gezwungen.
Soziale Medien, allen voran Instagram, nutzen die beiden Frauen seit dem Veranstaltungs-Stopp mehr oder weniger exzessiv. Für viele Kunst- und Kulturschaffenden war es das einzige Sprachrohr zur Außenwelt, entgegnet Performance-Künstlerin Selin Davasse, 1992 in der Türkei geboren. Von der Resonanz des Publikums und dem interdisziplinären Austausch um die Live-Performances ist im Lockdown nicht viel geblieben.
Darüber hinaus, sagt sie, habe die dauerhafte Präsenz auf Instagram und Co. ihre Arbeitsweise als Performance-Künstlerin stark beeinflusst. Das schnelllebige Konsumverhalten der digitalen Welt verlange nach verkürzten und präzisen Ausdrucksformen.
Weniger Räume und Geld für Berliner Künstler:innen
Nur einen kurzen Spaziergang entfernt begegnen wir Heidi Sill, Künstlerin und Vorstandsvorsitzende des Berufsverbandes bildender Künstler:innen (bbk) berlin in der SchauFenster Galerie. Während sie uns von der Notwendigkeit öffentlicher Begegnungsorte für lokale Künstler:innen erzählt, schweifen die neugierigen Blicke der Spaziergänger:innen und Flaneur:innen immer wieder über die Ausstellung „behind the scene of hidden tracks“. Ihre Künstlerkollegin Joanna Buchowska, seit den 90ern in Berlin lebend, kuratiert die Show, in der beinah 20 Positionen künstlerischer Wegbegleiter:innen zu sehen sind. Die Präsentation hinter einer massiven Glasfront könnte für die aktuelle Situation der Berliner Künstler:innen kaum sinnbildlicher sein.
Nach Sill hat sich die finanzielle und räumliche Existenz für viele lokale Kunst-und Kulturschaffende prekarisiert. Für die Vorstandsvorsitzende des bbk, einer Schirmherrin eines von der Pandemie besonders betroffenen Berufsstandes, waren die vergangenen Jahre turbulent und arbeitsintensiv. Die politische Interessensarbeit für die finanzielle Unterstützung ortsansässiger Künstler:innen war zwar zäh, aber letztlich früchtetragend: Die 5.000 Euro Soforthilfe für selbstständige Berliner Künstler:innen waren auch eine Folge der Einsatzbereitschaft des bbk.
Doch Sill kritisiert auch die teils fehlende Transparenz und juristische Ungereimtheiten der Soforthilfen, die einigen Kunst- und Kulturschaffenden im Nachhinein mehr Fluch als Segen bescherten. Vereinzelte Empfänger:innen, welche die Hilfeleistungen vorab oder fristgerecht zurückgezahlt hatten, würden sich nun mit juristischen Schreiben und Rückzahlungsforderungen konfrontiert sehen.
Kunst ist auch zum Kaufen da
Zwei Kisten mit leeren Weinflaschen stehen vor dem Eingang zum Projektraum Dzialdov am Maybachufer. Am Abend zuvor wurde hier eine Eröffnung gefeiert. „Es war fast überwältigend! Man hat richtig gespürt, wie sehr sich die Leute nach so etwas gesehnt haben“, sagt Eleonora Sutter, bevor sie zwei ankommende Besucher nach einem negativen Corona-Test fragt. Zusammen mit Georgie Pope hat sie die Ausstellung organisiert. Die beiden sind Anfang 30, arbeiten als Kuratorinnen für private Einrichtungen und machen nebenher eigene Projekte.
In den kahlen Räumen des Souterrain hängen, liegen und stehen Gemälde, Skulpturen, Soundinstallationen und Videoarbeiten. Es sind Werke internationaler, größtenteils in Berlin ansässiger, junger Künstler. Sie gehören zur aufstrebenden Kunstszene der Stadt, bewegen sich jedoch größtenteils noch unter dem Radar von Galerien sowie Sammler:innen.
Für die Frauen ist es bereits die zweite Schau in diesem Jahr und Teil eines Konzepts, mit dem sie den Berliner Kunstmarkt aufmischen wollen. Denn die Ausstellungen sind ein Vorspann für ihr Hauptprojekt, nämlich eine neue Kunstmesse, die sie zur Gallery Week 2022 erstmals veranstalten möchten. Mit „The Fairest“, so der Titel, möchten sie einiges anders machen: Keine Messestände, keine VIP-Empfänge und vor allem diejenigen präsentieren, die kaum Chancen haben, an den teuren und selektiven Kunstmessen teilzunehmen.
Es gebe so viele spannende, junge Künstler, die aber keine Galerie hinter sich und somit einen erschwerten Zugang zum Markt hätten oder Kunst machen, die sich nicht leicht verkaufen ließen wie Video- und Performance-Arbeiten, sagt Sutter.
Eine neue, alternative Kunstmesse für Berlin
Einst bot der Berliner Salon eine offene Verkaufsplattform alternativ zu den etablierten Kunstmessen der Stadt. Heute ist allein die die „Positions Art Fair“ geblieben, eine Veranstaltung klassischen Typs. Die Stadt scheint ihren Ruf schwer loswerden zu können – als ein Kunststandort, an dem zwar unheimlich viel produziert aber verhältnismäßig wenig verkauft wird. Die sehr positiven Resonanzen seit ihrer ersten Ausstellung im März hätten ihnen gezeigt, dass sie auf dem richtige Weg seien, so Pope. In den Vorschauen, im Zweimonatsrhythmus geplant, zeigen sie eine Bandbreite an junger Kunst, die man auch schon für kleines Geld mit nach Hause nehmen kann.
Bereits Ende 2019 hatte das Duo seine Idee entwickelt. Die Corona-Krise erwies sich dafür nicht als Bremse, sondern als ein Katalysator. Denn während der überdrehte Kunstbetrieb plötzlich herunterfuhr, zeitweise sogar zum Stillstand kam, ging es für die gut vernetzten Kuratorinnen richtig los. „Diese Situation hat uns total produktiv gemacht“, sagt Sutter. Es sei auch eine Zeit der Reflexion gewesen, in der man die etablierten Strukturen hinterfragt und die Möglichkeiten Berlins ausgelotet habe.
Pope spricht von einem sensiblen Umgang miteinander und einer neuen Solidarität in der Szene, sodass sie auch mit wenig Ressourcen loslegen konnten. So hat ein ausgestellter Künstler honorarfrei Fotos für ihre Website gemacht, andere stellten Ausstellungsräume kostenlos zur Verfügung.
Konsumstau und Kunst
Das klingt, als sei ein bisschen der Berliner „Arm aber sexy“-Vibe vergangener Tage wiederaufgelebt, wenn auch das Unprätentiöse Teil ihres Messekonzepts ist. Denn „arm“ ist Berlin nicht mehr, und das stimmt auch Pope zuversichtlich für die Zukunft von „The Fairest“: „Es gibt in dieser Stadt Menschen mit Geld und Interesse an Kunst, gerade aus der Tech-Branche. Aber auch junge Sammler, die keine Großverdiener sind.“
Die müssten jetzt eigentlich jede Menge Geld gespart haben, das sonst für Reisen, Ausgehen oder Kunstkäufe ausgegeben wurde. Der Verband der deutschen Galerien vermeldete jüngst einen Umsatzrückgang von 40 Prozent für 2020. Ob die lokalen Künstler:innen nun von dem so oft beschworenen pandemiebedingten Konsumstau profitieren werden?
Sollten die Berliner:innen nun ihr unfreiwillig Erspartes für Kunst raushauen wollen, werden ihnen Holm Friebe und sein Team ebenfalls unterstützend zur Seite stehen. Die planen nämlich für diesen Sommer eine Neuauflage ihrer Kunstversteigerung „Direkte Auktion“ aus dem vergangenen Jahr.
Direkte Auktion: Hilfe zur Selbsthilfe
Im November 2020 initiierte der Publizist und Mitbegründer des Kreativ-Netzwerks Zentrale Intelligenz Agentur mit der Künstlerin Bettina Semmer eine Auktion, die den Kunstschaffenden schnell Geld in die leeren Kassen spülen sollte. Viele von Friebes Freund:innen sind Künstler:innen im Mittelfeld und konnten von ihrer Kunst gut leben.
Mit Fortschreiten der Krise wurde es auch für sie finanziell mehr als eng, sie fielen durch das bis dahin angebotene Förderungsraster der Politik. Einigen drohte irgendwann sogar die Privatinsolvenz. „Das gab uns den Impuls, das Format Auktion, bei welchem sich gewöhnlich reiche Menschen Werke toter Künstler zuschieben, so zu hacken, dass es den lebenden, in Berlin arbeitenden Künstlern zugutekommt“, sagt Friebe. Wer sich eine 30.000-Euro-Küche in seine Eigentumswohnung baue, der solle seine Kunst nicht bei Ikea kaufen, sondern in die vielfältige Kunstszene Berlins investieren.
Der Kerngedanke der „Direkten Auktion“ ist, dass nicht wie sonst bei Auktionen üblich die Kunstbesitzer:innen, sondern die Kunstschaffenden selbst profitieren sollen. Sie konnten sich direkt für den Angebotskatalog bewerben, der von einem Kurator:innen zusammengestellt wurde. Auch Galerien
konnten Arbeiten einliefern. Das kooperierende Auktionshaus Jeschke van Vliet verzichtete auf die übliche Provision und drei Viertel der Verkaufserlöse gingen an die Künstler:innen selbst. Die Krise scheint zu ermöglichen, was zuvor durch Konkurrenz erschwert war. Dem stimmt der Organisator zu und findet zudem, dass die Aktion sehr berlintypisch sei : „Wenn Luftbrücke ist, dann rücken wir alle zusammen und krempeln die Ärmel hoch, anstatt zu jammern. Selbst Künstler, die sich nicht mögen und Galerien, die sonst nicht miteinander kooperieren würden, springen über ihren Schatten.“
An drei Tagen wurden über 400 Werke angeboten, rund die Hälfte davon für insgesamt 280.000 Euro verkauft. Das klingt nicht nach viel. Dennoch kann man die Aktion als einen Erfolg verbuchen. Laut Friebe haben nämlich 50 Prozent der Käufer:innen zum ersten Mal an einer Kunstauktion teilgenommen, darunter viele Berliner:innen. Auch einige Künstler:innen hätten erstmals eine breite Sichtbarkeit erfahren und Arbeiten verkauft.
Aus der Corona-Not geboren, hat das Konzept Potenzial für die Zukunft. Das sieht auch die Berliner Senatsverwaltung für Wirtschaft so und fördert die Fortführung des Projekts. Die nächste Ausgabe ist auf sechs Wochen angelegt und ermöglicht noch mehr lokalen Künstler:innen, ihre Arbeiten einem breiten, kaufwilligen Publikum zu zeigen. Friebe und seine Mitstreiter:innen planen die „Direkte Auktion“ als dauerhafte Verkaufsplattform in der Kunstszene zu verankern.
Literatur braucht die Bühne und das Publikum
Zweifellos hat die Pandemie verdeutlicht, wie wichtig kollektives und solidarisches Handeln für eine Gesellschaft sind. Gemeinsam Möglichkeiten zu schaffen und politische Forderungen zu formulieren sei für die freie Kulturszene essentiell, findet der Autor Philipp Böhm. „Die Leute haben gemerkt, dass es nicht geil ist, alleine durch eine Krise zu gehen“, sagt er bei einem Treffen im Kreuzberger Mehringhof. Hier hat der Verbrecher Verlag seinen Sitz, bei dem Böhm Anfang 2019 seinen Debütroman veröffentlicht hat.
Neben seiner schriftstellerischen Tätigkeit arbeitet er in dem Literaturhaus Lettrétage, eine Anlaufstelle und ein Arbeits und -Veranstaltungsort der freien Literaturszene Berlins. Dort bereitet man sich momentan auf den „Branchentreff Literatur“ vor, der primär digital vom 18. bis 20. Juni stattfinden wird. Im Fokus stehen Fragen, die momentan viele Solo-Selbständige im Literaturbetrieb beschäftigen dürfte: Wie kann freies Arbeiten zukünftig finanziell stabiler und sozialverträglicher gestaltet werden? Wie kann eine gerechtere Förderpolitik aussehen? Ein zwar trockenes, aber wichtiges Thema, betont der Schriftsteller. Die vielen abgesagten literarische Veranstaltungen wie Lesungen und Workshops haben insbesondere die freie Szene hart getroffen. Gerade Schriftsteller:innen brauchen die Bühne, denn vom Buchverkauf allein leben die wenigsten. Online-Formate konnten das nicht kompensieren und sowieso hatten die Leute auch irgendwann genug davon, so Böhm.
Literatur, so der Autor, sei eine soziale Praxis. „Das Beste an Lesungen ist der direkte Austausch mit dem Publikum. Die Leute reagieren auf den Text, erzählen vielleicht sogar eigene Geschichten und geben neue Impulse.“
Auf diese Erfahrungen mussten diejenigen Kolleg:innen verzichten, deren Bücher zur Hochphase der Pandemie erschienen sind. Einige seiner Freunde habe das schwer zu schaffen gemacht, erzählt Böhm. „Da schreibst du drei Jahre an einem Buch und dann präsentierst du es alleine vor dem Rechner in deinem Zimmer.“ Umso größer sei jetzt die Lust, wieder zusammenzukommen. Zugleich stellt er eine gewisse Zurückhaltung fest: „ Die Leute trauen dem Ganzen noch nicht“, sagt er und spielt auf die Erfahrungen des vergangenen Jahres an, als nach einer kurzen Öffnungsphase trotz ausgearbeiteter Hygienekonzept der Kulturbetrieb wieder dicht gemacht wurde.
Buchpremiere während der Pandemie
Das Mäandern zwischen Lockdown und Öffnung seitens der Politik empfand auch der Berliner Autor Valentin Moritz belastend. Für den Umgang damit fand er eine eigene Strategie. Der 34-Jährige veröffentlichte im vergangenen Jahr sein erstes Buch „Kein Held“ in einem kleinen Verlag. Darin trifft die außergewöhnliche Lebensgeschichte des Großvaters auf die Auseinandersetzung mit der seiner Herkunft aus der südbadischen Provinz.
Dass im globalen Krisenmodus alles etwas anders laufen wird, habe er schnell akzeptiert und keine großen Erwartungen gehegt, erzählt Moritz. „Ich sehe die Schriftstellerei als eine Leiter mit kleinen Sprossen und dieses Buch ist darauf eine oder mehrere Sprossen aber nicht der riesige Sprung nach vorn. So baue ich das nicht auf: Ein Buch und Bämm!“
Die Rezensionen waren gut und während der sommerlichen Corona-Verschnaufpause konnte der Schriftsteller einige Open-Air-Lesungen in Berlin sowie in einigen Städten in Süddeutschland mitnehmen. Die Aussicht, das Jahr mit einem Stadtschreiberstipendium in Rottweil ausklingen zu lassen, habe ihn gut durch die Zeit gebracht. „Was mir geholfen hat, waren realistische Perspektiven, egal wie weit sie in der Zukunft sind. Das ist besser als kurzsichtiges Entscheiden und Hoffen auf einen Zustand, der dann doch nicht eintritt.“
Berliner Künstler:innen: Zwischen Vorfreude und Vorsicht
Auch in der Lettrétage war eine Doppellesung mit dem Leipziger Autor Johannes Herwig geplant. Mit dem harten Lockdown wurde sie zunächst auf Januar 2020 verlegt und erneut bis auf ungewiss verschoben. „Wir hingen letzten Endes ein Dreivierteljahr in der Luft“, sagt er. „Und dann haben wir begriffen, dass wir uns selber etwas ausdenken müssen.“ Also fuhren die beiden für ein Wochenende auf Valentin Moritz’ Datsche und nahmen einen sechsteiligen Podcast auf. Herausgekommen ist eine experimentelle Mischung aus Lesung und Gartenphilosophie mit Bier über die Themen ihrer Texte: Kriegs- und Nachkriegsgeschichte, Wendezeit, Heimat und Punk.
Es stimmt ihn zuversichtlich, dass es nach und nach wieder losgeht: „Die Maschine läuft langsam wieder an. Ich habe da Lust darauf.“ Jetzt freut er sich erstmal auf 48 Stunden Neukölln. Eigentlich hatte er mit den Autorinnen Saskia Trebing und Charlotte Silbermann eine Lesung auf dem Tempelhofer Feld geplant. Doch die Erfahrungen der vergangenen Monate haben ihre Spuren hinterlassen, sodass das Trio sich doch entschied auf Nummer sicher zu gehen. Also haben sie einen stimmungsvollen Audiospaziergang kreiert, der Lyrik und Prosa mit Soundelementen verbindet. Das lässt sich sowohl zuhause als auch draußen auf dem Feld mit Kopfhörern erleben. „Ein bisschen traurig bin jetzt schon, doch nicht vor Publikum zu lesen“, sagt Valentin Moritz. „Aber so kann ich das selber Festival voll auskosten.“
Erik Leuthäuser ist ein neuer Typus Jazz-Star
Einer, der wie wohl kein zweiter Berliner zurzeit für Bock auf live steht, ist der 24-jährige Jazz-Star Erik Leuthäuser. Im krisengebeutelten Jahr 2020 ist es ihm, allen Widrigkeiten zum Trotz, gelungen, 46 Konzerte zu spielen, die ihn noch im März 2020 bis Moskau und St. Petersburg führten. Sage und schreibe 16 Konzerte hat er im Corona-Jahr 2020 in Berlin gespielt. Etwa seine „Wünschen“-Show in der Bar jeder Vernunft, Konzerte auf der Dachterrasse des HKW oder vorm Feld-Theater am Winterfeldplatz. 16 Stück. Das dürfte wohl Berliner Rekord sein für 2020.
„Alle meine Konzerte“, sagt der Berliner Künstler, „sind durch tolle Veranstalter:innen möglich gewesen, die alle Corona-Regeln einhielten und trotz weniger Publikum und möglichen Verlusten Kultur möglich gemacht haben. Die verdienen die Anerkennung! Ich war nur da und habe gesungen.“ Ganz schön bescheiden für einen, der natürlich deshalb von allen gern gebucht wird, weil sie wissen, wie er live abgeht.
Erik Leuthäuser ist ein neuer Typus Jazz-Star. Er hat im Background der Soul-Legende Quincy Jones gesungen – und 2018 den ersten Platz in Washington D.C. beim Ella Fitzgerald Vocal Jazz Competition belegt. Aber er trägt auch gerne Kleider und Perlenkette – und singt über sein Leben als schwuler Großstädter. Wer so viel live spielt, weiß, worin der Kick besteht: „Als Improvisator“, sagt er, „ist jede Show für mich ein Dialog zwischen Publikum und Künstler. Ich liebe die Reaktionen des Publikums. Online geht das nur begrenzt.“
Mit Eigeninitiative durch die Krise
Wenn man Erik Leuthäuser dazu gratuliert, dass er 2020 so unglaublich viele Konzerte in Berlin gespielt hat, lacht er, muss dann aber auch seufzen: 43 Konzerte hat er 2020 pandemiebedingt absagen muss. Darunter auch seine große Asien-Tour, die ihn nach Bangkok, Seoul, Tokio und auch Hongkong hätte führen sollte. Das wäre sicher abenteuerlich geworden. Solche Tourneen sind auch für viele Acts heutzutage die einzige Chance, ordentlich CDs zu verkaufen. Erik Leuthäuser organisiert seine Trips selbst, schreibt weltweit lokale Jazzclubs an, ob sie ihn buchen wollen. So gesehen ist Leuthäuser ein Selfmade-Man.
Am 9. Juni spielte der Berliner Künstler vor 40 Zuhörer:innen sein Record-Release-Konzert outdoor vor der Weissen Rose in Schöneberg. Am 29. September soll auch seine Show in der Bar jeder Vernunft wieder starten. Er kann es kaum abwarten: „Ich will endlich wieder etwas Geld verdienen – und den einen oder anderen berühren und vielleicht sogar zum Nachdenken anzuregen.“ Denn er ist einer, der nicht davor zurückschreckt, auch politische und queere Themen bei seinen Konzerten anzusprechen.
Von Victrotia Wygrabek, Ina Hildebrandt, Stefan Hochgesand
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