Die Bibliotheken in Deutschland befinden sich im Wandel und das liegt nicht nur an der Digitalisierung. In der Zukunft werden sich die Bibliothekar*innen besser mit Menschen auskennen müssen als mit Büchern. Eine Spurensuche von Jacek Slaski.
Corona hat das Land ausgebremst, Kultur findet kaum statt und auch die Bibliotheken hatten lange geschlossen, am 22. Februar wurde zumindest der Leihbetrieb in Berlin wieder aufgenommen. Für die Zeit des Lockdowns aber hat der Verbund der Öffentlichen Bibliotheken Berlins (VÖBB) sein Onlineangebot frei verfügbar gemacht. Musik, Filme und digitale Zeitschriften konnten für einige Wochen ohne Gebühr abgerufen werden.
Beim Durchstöbern stieß man in der Datenbank auch auf den epischen Dokumentarfilm Ex Libris: New York Public Library von Frederick Wiseman. Ein gut dreistündiges Werk über das Wesen der Bibliothek, zur Verfügung gestellt von der Bibliothek. Ein schöner Themenkreis. Wiseman stellt in seinem Film die Frage, was eine Bibliothek sein kann und liefert die Antwort gleich mit: alles.
Eine Bibliothek ist Tempel der Forschung und Stätte der Aufbewahrung, sie ist aber vor allem ein Ort der Begegnung, ein sozialer Verkehrsknotenpunkt, der der Vermittlung von Wissen dient und dies in jeder nur möglichen Art und Weise. Im Vortrag und Gesprächskreis, im Workshop und mit dem Verleih von Nähmaschinen und Internet-Routern. Ein System, das sich unentwegt ändert und den technischen und gesellschaftlichen Entwicklungen anpasst.
Die Libraries sind im US-Alltag präsenter als unsere Bibliotheken
Nun pflegen die USA ein besonderes Verhältnis zu ihren Bibliotheken. Die Libraries sind im Alltag präsenter, viel enger mit dem Bildungssystem verflochten als in Europa und gehören ganz selbstverständlich zum Leben vieler US-Amerikaner, unabhängig von Bildungsgrad oder Kontostand.
Schon im 19. Jahrhundert holten sich reformwillige Bibliothekar*innen aus deutschen Landen Inspirationen in den Bibliotheken der neuen Welt und begründeten um 1890 die sogenannte Bücherhallenbewegung. Es folgte der erste große Wandel in der Bibliothekswelt. Aus der miefigen Volksbibliothek, die wenige und wenig aktuelle Titel im Angebot hatte, sich vor allem an eine bildungsferne Kundschaft richtete und recht unattraktive Öffnungszeiten hatte, entstanden große, lichtdurchflutete Institutionen mit Lesesälen und einem Bestand, der vom Kind bis zu Gelehrten alle anzog.
Doch seitdem sind viele Jahre vergangen, der Verleih von Büchern ist immer noch eine zentrale Aufgabe der Institution, aber nur eine unter vielen. Die deutschen Bibliotheken befinden sich im Wandel. Das Internet und die Digitalisierung haben die Verfügbarkeit von Medien aller Art auf den Kopf gestellt, aber auch die Ansprüche und Anforderungen an die Bibliotheken haben sich verändert.
Die Bremerin Kirsten Kappert-Gonther (Bündnis 90/Die Grünen) ist Mitglied des Bundestags und befasst sich für ihre Fraktion mit dem Thema, sie sagt: „Bibliotheken sind Orte der Begegnung mit Menschen und Anregungen, von denen wir morgens noch nicht wussten, dass sie abends wichtig gewesen sein werden. Sie sind für Jugendliche, die vielleicht kein eigenes Zimmer haben, Orte der Begegnung mit ihren Freund*innen. Und für Einsame sind sie Orte, die keiner Erklärung bedürfen, warum sie aufgesucht werden. Bibliotheken sind somit ideale Orte der Bildung, der kulturellen Teilhabe und des Miteinanders.“
Bibliotheken werden immer öfter als „Dritter Ort“ bezeichnet
Bibliotheken werden immer öfter als „Dritter Ort“ bezeichnet, ein Schlagwort, das seit einigen Jahren kursiert. Es beschreibt Orte der Gemeinschaft, die einen Ausgleich zu Familie und Beruf bieten. In erster Linie sind das Cafés, Kneipen und Restaurants, aber zunehmend auch Bibliotheken. Zu diesen Orten wandeln sie sich entweder jetzt schon – oder sie werden es tun müssen.
„Eine Buchaufbewahrungsstelle sind wir schon lange nicht mehr. Natürlich gibt es Bibliotheken, die diese Aufgabe erfüllen müssen, etwa die Deutsche Nationalbibliothek. Die öffentliche Bibliothek, die wir heute leben, gehört nicht dazu. Was wir anbieten und ausleihen sind längst nicht mehr nur Bücher, sondern Spiele, Kunstwerke, Musikinstrumente, Teleskopfernrohre und viel mehr. Man soll rein in die Bibliothek und raus in die Welt“, sagt Andrea Lindow-Bahl, die seit 2015 die Kinderbibliothek der Bezirkszentralbibliothek Friedrichshain-Kreuzberg leitet und in dem Bezirk seit 1989 als Bibliothekarin arbeitet.
Lindow-Bahl beobachtet seitdem den Wandel der Bibliotheken. “Der ist enorm”, sagt sie, “die Aufgaben werden immer vielfältiger. Neben Bestandsverwaltung und Auskunftsdienst ist die Betreuung von Veranstaltungen aller Art hinzugekommen. Diese reichen von Sprachbildung und Leseförderung bis zu Lesungen, Buchwerkstätten und Coding-Workshops.” Sie will einen Ort schaffen, der kiezorientiert agiert, um alle zu erreichen, und das zu einem erschwinglichen Preis. Das Wort “verstaubt” möchte sie nie mehr im Zusammenhang mit Bibliotheken hören.
Bibliothekar*innen leiden unter dem Image der „grauen Maus“
Tatsächlich leiden die Bibliothekar*innen unter dem Image der „grauen Maus“, einem miesepetrigen Wesen, das über Karteikarten bückt und mit strenger Mine „Psst“ zischt. Vor allem in Kino- und Fernsehfilmen wird dieses Bild immer wieder reproduziert. Der italienische Bibliothekar Dario D’Alessandro hat knapp 500 Filme gesichtet, in denen Bibliothekar*innen vorkommen und kam zu der Erkenntnis, dass darin am häufigsten die „säuerliche, ältliche, altjüngferliche, fast hässliche Frau mit Brille und Haarknoten zu sehen ist.“ Ein Klischee, das mit der Gegenwart wenig und mit der Zukunft der Bibliothek gar nichts zu tun hat.
„Bibliotheken sind nicht nur Organisatorinnen und Vermittlerinnen des Wissens; sie konstruieren es. Eine Bücherhalle ist ein öffentlicher Raum, sie gehört allen Bürger*innen. Das bedeutet, dass wir eine soziokulturelle Verantwortung gegenüber der Gesellschaft haben“, sagt Shorouk El Hariry, die bei den Bücherhallen Hamburg arbeitet – und bei dem dem zentralen Hamburger Bibliothekssystem als „Agentin für interkulturelle Öffnung“ für partizipative Veranstaltungsformate und Community Outreach zuständig ist.
El Hariry kam 2014 aus Kairo nach Deutschland, schloss hier ihr Masterstudium ab und engagierte sich in Theaterprojekten. Schon bald stellte sie fest, dass viele Gruppen der Stadtgesellschaft in der Mainstream-Kultur unterrepräsentiert sind und dass sie in der Lage wäre, diesen Zustand zu verändern. Seit dem Sommer 2020 verantwortet El Hariry in ihrem Team das Projekt „35 Offene Türen“ in allen Hamburger Stadtteilbibliotheken. Ziel ist es, die verschiedenen Hamburger Communitys in die Arbeit der Bibliotheken einzubeziehen. „Statt eines Bottom-up-Ansatzes ermutige ich die Teams in den Stadtteilbibliotheken, partizipative Prozesse zu gestalten, die mit der Gesellschaft sprechen statt über sie – ein Graswurzel-Ansatz“, sagt sie.
Der Wandel der Bibliotheken zum Ort der Begegnung ist die größte Herausforderung für die Zukunft
Auch El Harirys Kollegin Silvia Linneberg sieht den Wandel der Bibliotheken zum Ort der Begegnung als größte Herausforderung für die Zukunft. „Da hängen viele Dinge dran: Das Personal muss diverser aufgestellt sein, neben den Bibliothekar*innen werden viele andere Berufsprofile benötigt. Auch die Ausbildung zum*zur Bibliothekar*in muss sich mit diesem Wandel viel stärker befassen“, sagt sie.
Linneberg arbeitet als Agentin für Diversitätsorientierte Öffnung bei den Bücherhallen Hamburg. Ihre Aufgabe ist es, die Bücherhallen darin zu unterstützen, offener zu werden, insbesondere für Menschen, die als Kund*innen und Veranstaltungsgäste ebenso wie im Kollegium unterrepräsentiert sind. Dazu gehören insbesondere Menschen, die aufgrund ihres Aussehens, ihrer Hautfarbe, ihres Glaubens, ihrer Herkunft, ihrer sexuellen Orientierung, ihrer geschlechtlichen Identität, ihres Alters oder ihrer körperlichen und geistigen Verfassung von Rassismus und Diskriminierung betroffen sind. „Die Bibliothekar*innen der Zukunft müssen sich besser mit Menschen auskennen als mit Büchern. Es geht um den Wandel vom Archiv des Geschehenen zum Ort des Geschehens“, sagt Linneberg.
Neue Bauvorhaben geben die Richtung vor, es tut sich was in der deutschen Bibliothekswelt. In Berlin kursierte lange die Idee einer neuen Zentral- und Landesbibliothek (ZLB), die auf dem Gelände des ehemaligen Flughafens Tempelhof entstehen sollte. Die Pläne wurden verworfen, zugunsten eines ambitionierten Projekts am Blücherplatz, in direkter Nachbarschaft zur Amerika-Gedenkbibliothek (AGB). Damit könnte in wenigen Jahren am Halleschen Tor ein Bibliotheks-Hub der Zukunft entstehen. Bei den ersten Ankündigungen des ZLB-Neubaus wurde gar von einer „Kathedrale der Moderne“ geschwärmt.
Zugleich stehen die Bibliotheken landesweit jedoch unter Druck, vor allem die kleinen Standorte. Diese müssen sich jedes Jahr aufs Neue gegenüber den Geldgeber*innen rechtfertigen, überzeugende Statistiken über Kund*innennutzung und Erfolge vorlegen und Drittmittel über Förderanträge einwerben. Und noch immer gibt es nur wenige Bundesländer, die ein „Bibliotheksgesetz“, also eine rechtliche Grundlage für den Betrieb und den Unterhalt von Bibliotheken durch die öffentliche Hand, verabschiedet haben. Solange öffentliche Bibliotheken nicht als Pflichtaufgabe festgeschrieben sind, müssen sie immer wieder um ihren Erhalt kämpfen.
Das sieht auch die Grünen-Bundestagsabgeordnete Kirsten Kappert-Gonther so: „Um die Stadtbibliotheken besser auszufinanzieren und weitere Kooperationen beispielsweise zur Leseförderung mit Bildungseinrichtungen zu ermöglichen, müssen Bund und Länder entsprechend handeln, etwa in Form von Bibliotheksgesetzen und ausreichenden Haushaltsmitteln.“
Jeder Euro, der in das öffentliche Bibliothekswesen fließt, zahlt sich doppelt und dreifach aus
Die Politikerin hat sich schon als Bremer Landtagsabgeordnete und inzwischen auch auf Bundesebene für die Förderung von Bibliotheken und insbesondere für die Sonntagsöffnung eingesetzt. Sie verweist zudem auf die besondere Situation seit dem Ausbruch der Pandemie: „Die Corona-Krise zeigt, dass der Bund über seine Rettungsschirme, ebenso wie die Länder und Kommunen, langfristig mehr in die Digitalisierung, Innovation und Nachhaltigkeit der Bibliotheken investieren sollte. Jeder Euro, der in das öffentliche Bibliothekswesen fließt, zahlt sich doppelt und dreifach aus.“
Die Digitalisierung ist nur ein Aspekt des Wandels. Die größte Herausforderung für die öffentlichen Bibliotheken bleibt die Vermittlung von Informationskompetenz. Die Frage, wie neue Generationen erreicht werden können, die nicht von klein auf durch ihre Eltern den Weg in die Bibliothek finden und die Bibliotheken bisher noch nicht als Ort für sich entdeckt haben, als „Dritten Ort“ in ihrem Leben.
Euch faszinieren Bücherwelten? Wir zeigen euch die zwölf schönsten Bibliotheken Berlins. Eigentlich wollt ihr die Bücher lieber nicht zurückgeben? Dann lasst euch in diesen großartigen Buchhandlungen inspirieren.