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Geschichtspolitik

Botanischer Garten: Jetzt wird die koloniale Vergangenheit aufgearbeitet

Sie sind im Kolonialzeitalter entstanden: Botanische Gärten sollten die Weltgeltung von Großmächten unterstreichen – auch im Kaiserreich. Jetzt stellt sich der Botanische Garten im Südwesten Berlins den Schatten der Vergangenheit.

Nils Köster, Kustos am Botanischen Garten, und Runa Hoffmann vom Diversity-Büro „Same But Different“ treiben die Aufarbeitung der kolonialen Vergangenheit voran. Foto: Mak

Ein anderes Selbstverständnis gegenüber der Öffentlichkeit im Botanischen Garten

Da ist zum Beispiel dieser Feigenbaum, den ein preußischer Kolonialist, ganz und gar beseelt von seiner Mission, im Namen des Kaiserreichs zur Nutzpflanze machen wollte. „Ficus preussi“ heißt das Gewächs in der botanischen Taxonomie. Nach ihm selbst hat er die Pflanze benannt. Der Name dieses Manns: Paul Preuß. Im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert ein übler Typ in besetzten Gebieten südlich des Äquators.

Ein Nachweis der Verwicklungen lässt sich beim Botanischen Garten im Südwesten Berlins aufstöbern. Ein Steckbrief dieses Feigenbaums lagert im dortigen Herbarium, einem riesigen Archiv in Kellergeschossen eines Gebäudeblocks in der Nähe des Königin-Luise-Platzes. Etwas welk liegen Blätter dieser Art unter einer Schutzfolie, daneben ist unter anderem der Fundort im westlichen Kamerun vermerkt, im Jahr 1890. Ein Pflanzenbeleg, wie er üblich ist in der Botanik.

Nils Köster, ein Kustos des Botanischen Gartens, leidenschaftlicher Biologe, hat das Konvolut aus einem Schrank gezogen und auf einer Ablage ausgebreitet.

Selbstverständlich ist dieser Paul Preuß, ein hurrapatriotischer Botaniker, auch als Sammler des „Ficus preussi“ eingetragen. Mit seinem Engagement wollte er einen Dienst für den Rohstoffhandel leisten: Der Milchsaft aus der Rinde dieses Feigenbaums sollte als Ersatz für Kautschuk zum Einsatz kommen.

Ein Trend macht sich bemerkbar in einer Welt, die sonst wegen ihrer bunten Pracht bestaunt wird, zur Schau gestellt in parkähnlichen Anlagen und Treibhäusern.

Botanische Gärten sollen ihren Besuchern, zumeist in der gemäßigten Zone aufgewachsen, die Schönheit der globalen Natur zeigen. An diesen Orten sprießt Flora aus allen möglichen Regionen, in abertausenden Formen und Farben. Ob Eiben, ob Magnolien, ob fleischfressende Pflanzen, Kakteen, Orchideen.

Botanische Gärten haben ihren Ursprung im Zeitalter des Kolonialismus

Jetzt wird die Aufarbeitung der kolonialen Vergangenheit zum Thema in diesen Einrichtungen, die ihren Ursprung im Zeitalter des Imperialismus hatten. Die Häuser wollen dem Publikum die historischen Zusammenhänge näherbringen – mit neuen Ausstellungskonzepten. Und ein anderes Selbstverständnis gegenüber der Öffentlichkeit an den Tag legen.

Die Lücken sind groß: Um viele Pflanzen aus dem globalen Süden, die etwa in der Berliner Anlage zu besichtigen sind, rankt sich auch biologisches Wissen, das einst Indigene vor Ort angesammelt haben. Eine Leistung, die Expeditionsteilnehmer aus dem Westen nach ihren Funden oftmals unterschlagen haben. Dazu war Pflanzenkunde oft ein brutales Geschäft: Naturwissenschaftler aus Europa haben dabei von der Unterdrückung der angestammten Menschen in den Kolonien profitiert. Lauter Einzelheiten, die bislang Besucherinnen und Besuchern erspart worden sind.

Ein Positionspapier des Verbands Botanischer Gärten, hierzulande die Interessenvertretung dieser populären Domänen, hat eine neue Ausstellungsphilosophie schon 2023 zur Chefsache erklärt. In dem Manifest ist mit Blick auf die frühere botanische Praxis von „Wissensaneignung“ und „eurozentrischer Wissenschaft“ die Rede.

Die Funktionäre fordern ein „zeitgemäß angepasstes Informations- und Bildungsangebot“, das „die jahrhundertelange Praxis der Pflanzenbenennung“ erläutern und zugleich hinterfragen soll. Außerdem lassen die Verfasser wissen: „Zudem sollten, wo immer möglich, bei wissenschaftlichen Neubeschreibungen von Arten ganz explizit indigene Namen aufgegriffen werden“.  Auch wird die „gezielte Wiederansiedlung“ von Arten, die in ihren ursprünglichen Habitaten vom Aussterben bedroht sind, ins Spiel gebracht. 

Dekolonialisierung im Botanischen Garten: Eine neue Dauerausstellung

Der Botanische Garten in Berlin-Lichterfelde, eine Institution von internationalem Rang, auch wegen des zeitlosen Tropenhauses, zwischen 1905 und 1907 erbaut, ist treibende Kraft hinter diesem Postulat gewesen. Das Ganze illustriert einen Bewusstseinswandel.

Nils Köster, der als Kustos die neuen Vibes im Südwesten der Hauptstadt mitverantwortet, sagt: „Anhand von konkreten Beispielen wollen wir kolonialhistorische Zusammenhänge näher erläutern.“

Umgebaut wird seit 2022 sowieso die Dauerausstellung im Botanischen Museum, auch aus gestalterischen Gründen. In diesem Haus können Ausflügler ihre Safari durch die Dahlemer Liegenschaften vertiefen – dank anschaulicher Objekte in Vitrinen. Dort wollen die Didaktiker nun einen Schwerpunkt auf die koloniale Vergangenheit legen. 2025 soll Wiedereröffnung sein. Exponate zum Beispiel: Papierkram aus der „Botanischen Zentralstelle für deutsche Kolonien“, einem einflussreichen Reichsamt im damaligen Schöneberg, oder Pflanzenproben.

Auch aus der kolonialen Vergangeheit stammen viele Pflanzenbelege im Herbarium des Botanischen Gartens, Darunter der „Ficus Preussi“, ein Feigenbaum, der nach einem preußischen Kolonialverbrecher benannt ist. Foto: Mak

Wenn es um Dekolonisierung ging, ist bisher in Deutschland vor allem über die Provenienz von kulturellen Gütern diskutiert worden. Über Raubkunst etwa in den Ethnologischen Sammlungen der Staatlichen Museen zu Berlin, die teils im Humboldt-Forum ausgestellt ist. Ein aufsehenerregender Staatsakt in diesem Zusammenhang: die Rückgabe der Benin-Bronzen nach Nigeria, in das Herkunftsland dieser Artefakte.

Nun sind Naturalien ins Blickfeld von Fachkreisen geraten. Was konservativen Gemütern kleinlich erscheint, ist im Grunde plausibel.

Ein erneuter Zoom auf die Vielfalt im Botanischen Garten: Im Herbarium lagern rund vier Millionen Pflanzenbelege. Dann sprießen da noch jene Gewächse, die außerhalb dieses Archivs zur Beglückung der jährlich mehr als 450.000 Gäste kultiviert werden.

Im Kolonialzeitalter, als das Deutsche Reich, die britische Krone und andere Staaten zahlreiche Ethnien jenseits des europäischen Kontinents unterworfen haben, war die Botanik ein Forschungsgebiet von nationalem Interesse – und keine spleenige „Orchideenwissenschaft“. 

Aparte Pflanzen aus der Ferne sollten Expansionen in Übersee bewerben – als PR-Objekte für Sehnsuchtslandschaften in den „Schutzgebieten“. Zugleich waren Naturvorkommen begehrte Ressourcen. Zuckerrohr und Kaffeebohnen für die Lebensmittelbranche sowieso. Aber auch Kautschuk als Rohstoff in Zeiten der Hochindustrialisierung, für Kutschen, für Automobile. Zu Gummi verarbeitet, macht er Reifen bekanntlich elastisch.

Nils Köster, der Fachmann, führt nach der Spurensuche in den Verwaltungstrakten des Botanischen Gartens ins Tropenhaus. Mitten im domestizierten Urwald steht der Feigenbaum, der als „Ficus preussi“ verzeichnet ist. Ein Schild kennzeichnet den Baum, der letztlich nach einem Kolonialverbrecher benannt ist, der seinen Ruhm für die Nachwelt sichern wollte. Insgesamt sind zehn Pflanzenarten tragen den Namen des besagten Paul Preuß.

Dieser Paul Preuß, der in den 1880er-Jahren an der Friedrich-Wilhelms-Universität in Berlin promoviert hat, war zeitweise Direktor des Botanischen Gartens im heutigen kamerunischen Limbé, eine Ortschaft, die damals Victoria hieß. Sein Verhältnis zum Pflanzenreich war utilitaristisch. Ihn interessierten Saatgüter für Plantagen in den Kolonien. Damit nicht genug: Der Naturwissenschaftler mischte auch bei militärischen Aktionen mit. So war er an der Niederschlagung des Dahomey-Aufstands im Jahr 1893 beteiligt. Im Dezember 1894 unterstützte er ein Kommando, das die kamerunische Stadt Buea verwüstete. Einwohner sind dabei erschossen worden.

Nils Köster sagt: „Das Narrativ vom unschuldigen Botaniker als Entdeckungsreisendem ausschließlich im Dienst der Wissenschaft hält sich noch immer stark im öffentlichen Bild.“ Auf einer Tafel am Feigenbaum könnte nach einer Runderneuerung der biografische Hintergrund des Namensgebers lesbar sein. Falls eine indigene Bezeichnung dieser Art zu finden sein sollte, könnten zudem deren Lettern auf dem Brett prangen. Hinweise dieser Art sollen in den kommenden Jahren in Botanischen Garten angebracht werden.



An vielen Ecken im Botanischen Garten finden sich historische Prägungen. Von kolonialistischem Größenwahn erzählt die Epistemologie der Amani-Grünlilie im Tropenhaus: Ihr Name rekurriert auf eine Forschungsstation namens Amani der deutschen Invasoren im damaligen Deutsch-Ostafrika, heute bekanntlich Tansania. Die wilhelminischen Chauvis auf dem fremden Kontinent wollten aus der Anlage den größten botanischen Garten unter der Sonne machen.

Dekolonialismus im Tropenhaus: Einmal quer durch die Erdteile

Man könnte auch die bauliche Struktur des Tropenhauses als Chiffre für imperialistisches Machtstreben interpretieren. Das Innere dieses Palasts gliedert sich in mehrere Atrien, einmal quer durch viele Erdteile. Am deutschen Wesen soll die Welt genesen?

An dieser Stelle eine Entlastung jener Botaniker, die redlich waren: Bei weitem nicht alle Pflanzen in den Beständen lauten auf die Namen kolonialistischer Schwerenöter. Und ein Forschungsreisender wie Alexander von Humboldt, der schon durch die Gestrüppe pirschte, als das Deutsche Reich noch nicht dem kolonialen Projekt verfallen war, hat auch mal indigene Begriffe in seiner Gattungslehre verwendet. So ist die Mentalitätsgeschichte der Botanik voller Widersprüche.

Im Keller des Hauptverwaltungsgebäudes am Botanischen Garten lagern rund 4 Millionen Pflanzenbelege. Foto: Mak

Ein „Prozess“ sei die Auseinandersetzung mit dem Kolonialismus, findet Nils Köster. Was jenseits galanter Blätter und Blüten in den Botanischen Gärten ein Schritt sein könnte: dass man Online-Archive, die einen Wissensfundus für die weltweite Botanik darstellen, etwa wegen Typusbelegen wie im Herbarium, um postkoloniale Fakten ergänzt. Und dass man diese Kompendien den Menschen in jenen Staaten, die einmal von westlichen Groß- und Mittelmächten okkupiert worden sind, frei zugänglich macht. Dafür wäre eine starke internationale Vernetzung im Forschungsbetrieb nötig.

Der Botanische Garten lässt sich beraten von dem Diversity-Büro „Same But Different“ mit Sitz in Kreuzberg, der Thinktank der interdisziplinären Wissenschaftlerin Runa Hoffmann sowie des Schwarzen Historikers Demba Sanoh. Überhaupt ist das neue Erkenntnisinteresse auch vom Aktivismus inspiriert. Ein Beispiel: Schon 2020 haben die Künstler Maria Thereza Alves und Lucrecia Dalt im Botanischen Garten eine Klanginstallation dargeboten, die Sprache und Klänge in Guaraní intonierte, einem indigenen Zungenschlag in Lateinamerika. Eine Allegorie für das vergessene Wissen von einheimischen Gruppen.

Auch haben Workshops in den Jahren 2022 und 2023 eine Rolle gespielt, darunter Teilnehmer aus dem Globalen Süden. Einmal war auch Tahir Della zu Besuch, Sprecher der Initiative Schwarzer Menschen in Deutschland, einer Autorität in der afrodeutschen Community. „Außerordentlich konstruktiv und proaktiv“ habe er die Mitarbeiter des Botanischen Gartens erlebt.


Mehr zu den Spuren des Kolonialismus in Berlin

Die Spuren, die das imperialistische Zeitalter in Berlin hinterlassen hat, sind vielfältig – ebenso die Bemühungen um eine verstärkte historische Auseinandersetzung. Ein Ereignis, das sich immer wieder dem Kolonialismus und seinen Folgen widmet, ist der jährliche Black History Month im Februar. Im Afrikanischen Viertel im Wedding hat die Debatte um Dekolonialisierung übrigens besonders extensiv Früchte getragen, etwa mittels Straßenumbenennungen. Auf der vergangenen Berlinale hat sich der Wettbewerbsgewinner – die Doku „Dahomey“ – mit der Restitution von Kulturgütern beschäftigt.

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