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Pro & Contra

Corona-Partys bis zum Lockdown? Zwei Meinungen zum Berliner Hedonismus

Berlin ist Epizentrum der Corona-Pandemie, Neukölln ist trauriger Spitzenreiter. Ein Vorwurf zielt immer wieder auf Corona-Partys: Schuld seien die jungen Feierwilden.

Alltägliche Szenen: Junge Menschen vor einem Späti in Berlin. Lieber Party statt Corona-Nachsicht – ist der Vorwurf gerechtfertigt? Foto: Imago Images/Sabine Gudath
Alltägliche Szenen: Junge Menschen vor einem Späti in Berlin. Vorglühen für die Corona-Party, bis der Lockdown kommt – was ist dran am Vorwurf? Foto: Imago Images/Sabine Gudath

Aber ist das Hedonismus-Bashing wirklich gerecht? Zwei Meinungen aus der tipBerlin-Redaktion: Erik Heier will die Jungen gleich in die Corona-Party-Isolation schicken. Und Julia Lorenz findet, dass die Vorwürfe dringend mit der Großstadt-Lebensrealität abgeglichen werden müssen.


tipBerlin-Redakteur Erik Heier sieht die jungen Feierbiestigen ganz eindeutig in der Verantwortung. Er befürchtet, dass er seinen nächsten Geburtstag mit Whiskey in der Videokonferenz feiern muss – und hat einen Vorschlag:

Corona-Party-Quarantäne: Isoliert die Jungen ganz!

Gibt es ein Menschenrecht auf Party, Exzess, Entgrenzung? Natürlich. Steht vielleicht so nicht im Grundgesetz. Aber Unvernunft ist vernünftig. Um zu wissen, wo seine Grenzen liegen, muss man sie übertreten. Sonst erahnt man sie nur. Aber man kennt sie nicht.

Berlin war immer eine Stadt der Hedonisten. Wir wollten es (fast) alle. Wir sind dabei, waren dabei, werden dabei sein. Feiern gehört dazu. Sich gehen lassen. Von Sinnen sein. Und ein Hoch auf den Bass. Auf das Flirren im Kopf. Auf die totale Nähe. Ein Hoch auf die Unvernunft.

Corona-Partys: Goa-Hedonismus in der Corona-Pandemie im spätsommerlichen Treptower Park. Foto: Imago/Travel-Stock-Image
Goa-Hedonismus-Party in der Corona-Pandemie im spätsommerlichen Treptower Park. Foto: Imago/Travel-Stock-Image

Berlin hat sich immer viel zugute gehalten auf diese Unvernunft. Es war ein bisschen ein Spiel. Wir gewinnen, wir verlieren. Aber wir spielen weiter. Das Spiel ist der eigentliche Spaß.

In normalen Zeiten: völlig okay. Aber dies sind keine normalen Zeiten. Corona ist kein Spaß, macht keinen Spaß. Sorry, wenn ich hier den Taumel stören muss. Dieses Gegen-die-Vernunft-sein ist geil. Solange es nur diejenigen betrifft, die auf die Vernunft scheißen, mit großer Freude. Und die anderen, die Vernünftigen, die Älteren, die Spießer allenfalls verstört. Vielleicht aufregt. Aber Corona könnte Leute umbringen. Oder dauerhaft schwer schädigen. Und da hört leider der Spaß auf. Auch: euer Spaß, Hedonisten!

Na dann Prost, Tristesse!

Natürlich, man ist nur einmal jung, das Frühjahr war schon fürchterlich genug, diese Hormone reichen ja auch nicht ewig. Alle verzichten gerade. Die, die verreisen wollten. Oder heiraten möchten. Und ich habe Ende des Jahres einen runden Geburtstag. Wird wohl auf ein Glas Whiskey in der Zoom-Konferenz hinauslaufen. Na dann Prost, Tristesse. Aber was ist die Alternative? Das nächste Cluster? Schönen Dank auch.

Im Frühjahr schlossen sich die Alten und die Risikogruppen weg. Das war furchtbar. Vielleicht sollten sich jetzt die Jungen, die Hedonisten isolieren. Etwa im Flughafenhangar Tempelhof. Da könnten sie eskalieren, tanzen, Liebe machen. Unter sich bleiben. Für die Herdenimmunität. Bis diese ganze Corona-Scheiße vorbei ist.

Danach feiern wir alle. Gemeinsam. Deal?


tipBerlin-Redakteurin Julia Lorenz meint: Aus berechtigter Kritik an Egoismus und eskalierenden Corona-Partys darf keine generelle Jugendfeindlichkeit werden. Man dürfe nicht einfach übersehen, wie junge Erwachsene in großen Städten leben:

Es gibt doch nicht überall nur Kernfamilien!

In unübersichtlichen Zeiten braucht man Feind*innen, feste Koordinaten auf der Buhmann-Seite des Moralsystems, um sich selbst auf der guten verorten zu können. Wohl deshalb glauben nun, da Berlin zum Epizentrum der Pandemie geworden ist, viele Politiker*innen und Kommentator*innen, die Schuldigen identifiziert zu haben: nämlich die jungen, hedonistischen Berliner*innen, die sich in Kneipen zulöten, in der WG auf Corona-Partys gruppenkuscheln und überhaupt schon immer verzogene Egoist*innen waren.

Nun muss man zuerst mal einräumen: Wie eine große Kontaktverfolgungsstudie kürzlich herausfand, sind Kinder und junge Erwachsene gerade tatsächlich die Träger*innen der Pandemie. Vor allem von den „Superspreadern“, die andere in Büros, Schulen und vor allem auf Partys in geschlossenen Räumen anstecken, geht ein großes Risiko aus. In Berlin sind die meisten Infizierten aktuell 30 bis 39 Jahre alt.

Immer nur Corona-Partys? Das geht an der Wirklichkeit vorbei!

Die Anti-Hedonismus-Appelle sind also nicht unberechtigt. Die Schärfe der Anklage ärgert mich trotzdem in vielen Fällen – denn in ihrer Sorge und Wut ignorieren viele lebensweltliche Realitäten.

Corona-Partys und Hedonismus in Berlin: Kann ja nicht jede*r in der Kernfamilie glücklich sein – als junger Mensch in Berlin ist es manchmal ziemlich einsam. Foto: Unsplash
Kann ja nicht jede*r in der Kernfamilie glücklich sein – als junger Mensch in Berlin ist es manchmal ziemlich einsam. Foto: Unsplash

Junge Erwachsene in Großstädten leben oft nicht in einer Beziehungs- oder Familienkonstellation, die es ihnen ermöglicht, ihre Bezugspersonen immer im engsten Radius zu haben. Und auch die Bedürfnisse dieser Menschen sind valide, vor allem in einer Jahreszeit, die eh aufs Gemüt schlägt.

Es ist klar, dass Raves, Privatpartys im großen Stil und Kneipenabende ohne Hygienekonzept schlimm verantwortungslos sind, dass man sich überhaupt viermal fragen sollte, welcher Gang unbedingt sein muss: Mit jedem Einkauf im Supermarkt gefährdet man Risikopatient*innen. Sich das immer wieder vor Augen zu rufen, auch gegenseitig, ist essenziell.

Aber zu Solidarität in einer Pandemie gehört eben auch ein wenig Verständnis für Menschen, die sich Zweisamkeit anders organisieren (müssen) als Eltern und Paare.

Und vielleicht mehr Konzilianz im Ton.


Mehr zu Corona in Berlin

Die Stadt hat sich eine Pause von Corona-Partys verordnet: Der Berliner Senat hat eine Sperrstunde ab 23 Uhr beschlossen. Darüber, über seinen Bezirk als Risikogebiet und Zweifel an der Warn-App haben wir mit einem gesprochen, der es wissen muss: „Party is over!“ sagt Neuköllns Gesundheitsstadtrat Falko Liecke im Interview. Es herrscht viel Unsicherheit derzeit. Wo die Ansteckungsgefahr mit Corona besonders groß ist, erfahrt ihr hier. Und wenn der Verdacht konkret wird? Lest hier, wie es ist, wenn wegen Corona die ganze WG zum Quarantänegebiet wird.

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