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Interview

Corona und Psyche: Neurowissenschaftlerin erforscht, wie es Berlin geht

Corona und Psyche: Die Berlinerin Tania Singer ist Leiterin der Forschungsgruppe Soziale Neurowissenschaften der Max-Planck-Gesellschaft. Mit ihrem Team erforschte sie die Psyche der Berliner:innen während der Pandemie. Nun fallen in Berlin fast alle noch bestehenden Corona-Maßnahmen. Ein Gespräch über Lockdown-Schockeffekte, das Gummiband-Gleichnis, besonders betroffene Frauen und junge Menschen und den Ukraine-Krieg. Wie geht es Berlin jetzt? Wir haben mit der Neurowissenschaftlerin und Psychologin gesprochen.

Neurowissenschaftlerin Tania Singer erforscht die Psyche der Menschen in Berlin. Foto: Max Planck Gesellschaft

Corona und Psyche: Lockdown-Schocks

tipBerlin Frau Singer, Sie sind Neurowissenschaftlerin und Psychologin. In der Corona-Pandemie haben Sie mit Ihrem Forschungsteam die mentale Gesundheit der Berliner:innen während der ersten beiden so genannten Corona-Lockdowns erforscht. Was sind Ihre wichtigsten Erkenntnisse?

Tania Singer Im ersten Lockdown im Frühjahr 2020 gab es beim Messen psychologischer Vulnerabilität wie Stress oder Depressivität einen Effekt, den wir einen Schockeffekt nennen. Davon hatten sich die Berlinerinnen und Berliner nach den Lockerungen im Juni 2020 wieder erholt. Allerdings nicht mehr bis zum Ausgangslevel vor der Pandemie. Im zweiten Lockdown kam dann, was wir den Pandemie-Ermüdungseffekt nennen. Da waren die Berliner sowieso schon zu Beginn vulnerabler. Und mit jedem Monat stiegen dann die Ängstlichkeit, Depressivität, der Stress und die Einsamkeit weiter an.

tipBerlin Sie haben bereits in diesem Frühjahr 2020 mit dem CovSocial-Projekt mit rund 7.000 Teilnehmer:innen begonnen, letztlich waren es 1259, die bis zum Ende mitmachten. Wie haben Sie die Leute eigentlich so schnell gefunden?

Tania Singer Wir haben am Anfang der Studie, die wir ja nicht vorher geplant hatten und daher recht spontan entwickelt haben, das Landeseinwohnermeldeamt Berlin zufällig 60.000 Briefe an Berliner:innen zwischen 18 und 65 Jahren rausschicken lassen. Die Berlinerinnen und Berliner, die sich gemeldet hatten, haben über eine App Fragebögen ausgefüllt. Da es ein wenig gedauert hat, bis wir alle Ethikanträge genehmigt bekamen, mussten zunächst die Teilnehmer sozusagen retrospektiv diese Fragebögen nach dem ersten Lockdown beantworten und angeben, wie sie sich vor, während und nach dem ersten Lockdown gefühlt haben. Ab Oktober 2020, am Anfang des zweiten längeren Lockdowns, lagen waren die weiteren vier Befragungszeitpunkte quasi zeitgleich zum Geschehen.

Berliner CovSocial-Forschungsprojekt: Stress, Depressivität, Miteinander, Resilienz

tipBerlin Was haben Sie abgefragt?

Tania Singer Wir haben drei Bereiche erfasst. Erstens psychologische Vulnerabilität, also mentale Gesundheit wie Ängstlichkeit, Stress, Depressivität und Einsamkeit. Zweitens soziale Kohäsion, also Faktoren wie das soziale Miteinander, Vertrauen, Gemeinschaftsgefühl und die Qualität der sozialen Beziehungen. Und drittens haben wir Resilienz abgefragt, das ist in der Psychologie die Frage nach der Anpassungsfähigkeit: Wie gehe ich mit Stress um, was habe ich für Ressourcen dafür?

tipBerlin Als der zweite so genannte Lockdown im Oktober/November 2020 ausgerufen wurde, waren Sie also quasi mitten bei der Arbeit.

Tania Singer Genau. Und wir haben wieder Ethikanträge und Datenschutzanträge geschrieben – und somit eine wahre Längsschnittstudie über fast eineinhalb Jahre mit insgesamt sieben Messzeitpunkten durchgeführt. So konnten wir vergleichen: Wie haben sich die Berliner:innen im ersten Lockdown im März 2020 im Vergleich zum zweiten im März 2021 gefühlt? Wie war die Situation, als es die Wiedereröffnungen im Juni 2020 gab und die meisten dachten, die Pandemie wäre für immer vorbei?

tipBerlin Dass die Pandemie vorbei wäre, ist eine – womöglich trügerische – Hoffnung, den jetzt ja auch viele wieder haben.

Tania Singer Genau. Und wir haben uns gefragt: Wie war es dann bei diesem schier endlosen zweiten Lockdown, der ja von Oktober/November bis in den März, April des nächsten Jahres 2021 ging? Und da sehen wir, wie die mentale Gesundheit und Vulnerabilität der Berlinerinnen und Berliner wirklich zunehmend gelitten hat mit jedem weiteren Monat des Lockdowns. Das ist es, was wir Ermüdungseffekt nennen.

Frauen und junge Menschen litten am meisten unter den Lockdowns

tipBerlin Welche Ursachen hat dieser Ermüdungseffekt?

Tania Singer Ich vergleiche das immer mit einem Gummiband. Wenn Sie ein Gummiband einmal so richtig auseinanderziehen und dann wieder loslassen, dann springt es ja erstmal wieder zurück, es hat noch Elastizität. Aber wenn Sie das Gummiband über Monate immer wieder stark auseinanderziehen, auseinanderziehen, auseinanderziehen, dann leiert das irgendwann aus. Der Körper muss ja dann mit chronischer Belastung und chronischem Stress umgehen, und das ist dieser Ermüdungseffekt: ein kumulativer Effekt, bei dem es einem immer schlechter geht.

Junge Frau vor der East Side Galery im November 2021. Foto: Imago/IPA Photo

tipBerlin Stimmt es, dass Frauen und jüngere Altersgruppen am stärksten unter den Lockdowns litten?

Tania Singer Erst einmal lässt sich sagen, dass Frauen und die jüngste Gruppe, die wir gemessen haben, also 18- bis 25-Jährige, am meisten Stress, Einsamkeit und Depressivität gezeigt haben. Allerdings hatten diese beiden Gruppen bei den meisten Risikofaktoren schon vor der Pandemie die niedrigsten Werte. Diese Beobachtung kenne ich auch aus der Einsamkeitsforschung, die ich bereits vorher gemacht habe.

Tania Singer: In Amerika wird das „Loneliness-Epidemie“ genannt

tipBerlin Könnten Sie das bitte näher erklären?

Tania Singer Heutzutage ist es zum ersten Mal so, dass die Einsamsten nicht mehr die 80-plus-Jährigen sind, sondern die Jüngsten. In Amerika wird das „Loneliness-Epidemie” genannt. Das ist ein völlig neues Phänomen. Zwischen 18 und 25 ist man ja eigentlich mitten in seiner sozialen Blüte, geht raus, feiert. Dieses Phänomen hat wohl auch etwas mit sozialen Mediennutzung zu tun. Und in der Pandemie saßen nun die eh bereits tendenziell sich einsam fühlenden jungen Menschen plötzlich ganz allein zuhause, abgeschnitten von sozialen Gruppen und echten Kontakten – und dann hingen diese nur noch am Handy oder am Computer.

tipBerlin Die Pandemie war ein Verstärker schon vorher existierender Probleme?

Tania Singer Ja, was die Frauen und die jungen Menschen betraf, war es die Verstärkung von Trends, die man vorher schon gesehen hat. Aber jetzt sahen wir auch andere Befunde. Zum Beispiel: bei der sozialen Kohäsion. Normalerweise wird diese als eine Art Resilienz und Anpassungsstrategie bei kollektivem Stress gesehen. Wenn zum Beispiel ein Hurrikan oder ein anderes Unwetter eine Bevölkerung trifft, gibt es viel Forschung, die zeigt, dass Menschen dann nicht egoistischer werden, sondern sozialer, und sich zusammenfinden, um sich gegenseitig zu unterstützen. Das nennt man auch: „Tend-and-befriend-Hypothese“. Die erste Reaktion der Menschen ist also gar nicht, wie die Medien sehr oft zeigen, irgendwelche Geschäfte auszuplündern, sondern man hilft sich.

tipBerlin Und was ist damit in der Pandemie passiert?

Tania Singer Die Personen, die mehr soziale Kohäsion am Anfang der Pandemie hatten, litten beim ersten Lockdown am meisten.

tipBerlin Warum denn das?

Tania Singer Diese Pandemie ging anfangs mit großer sozialer Isolation einher. Diese Personen, die normalerweise sozialen Kontakt nutzen, um sich besser zu fühlen, waren plötzlich hilflos, weil sie ja nicht rauskonnten. Ihnen wurde sozusagen das Sozialverhalten weggenommen, das man normalerweise nutzt, um seinen Stress zu regulieren. Im ersten Lockdown war daher hohe soziale Kohäsion eher ein Risikofaktor als ein Buffer oder ein Resilienzfaktor – wie sonst. Und das ist ein Game-Changer, weil das ganz spezifisch mit dieser Lockdown-Situation zu tun hat und eben nicht vergleichbar ist mit der Forschung, die wir aus Umweltkatastrophen kennen. Später wurde soziale Kohäsion jedoch wieder zu einem protektiven Faktor – vermutlich, weil man andere online- oder App-basierte Strategien entwickelt hatte.

Tania Singer: Wir müssen die mentale Gesundheit unserer Jüngsten wirklich ernst nehmen

tipBerlin Ihre Studie umfasste einen Zeitraum bis nach dem zweiten Lockdown, der vor rund einem Jahr endete. Wie geht es Berlin jetzt?

Tania Singer Das kann ich wirklich nur vermuten. Aber es könnte so sein, wie wir es mit diesem Gummiband gesehen haben: Wenn das Band schon letztes Jahr ausgeleiert war, dann können Sie sich vorstellen, wenn das dann nicht wirklich besser geworden ist. Aber jetzt kommt ein weiterer Schockeffekt hinzu: Ukraine. Wir haben Krieg in Europa. Es gibt jetzt nicht nur den Pandemie-Stressfaktor, der ja nach wie vor da ist. Sondern den zusätzlichen Stressfaktor ganz anderer Natur. Wer weiß, wie das ausgehen wird.

tipBerlin Was können wir jetzt tun?

Tania Singer Wir müssen als Gesellschaft die mentale Gesundheit unserer Jüngsten wirklich ernst nehmen. Wir haben ja gesehen, wie stark diese gelitten haben! Und aus neurowissenschaftlicher Sicht sind die Gehirne von 18- bis 25-Jährigen noch plastisch. Das heißt, sie entwickeln sich noch bis zum 25. Lebensjahr sehr stark. Und Stress ist extrem schädlich für die Entwicklung von Gehirnen. Obwohl jetzt die Pandemie und die Sterblichkeitsrate aus viraler Sicht, das heißt aus der Sicht der physischen Gesundheit, die Ältesten am meisten bedroht, trifft die mentale Gesundheit die Jüngsten zurzeit am meisten. Das allgemeine Problem einer steigenden mentalen Gesundheitskrise beobachte ich auch bei meinen Psychotherapiekollegen. Die sagen alle, die könnten sich überhaupt nicht mehr retten vor Klienten. Wir haben überhaupt nicht mehr genug Anlaufstellen und Mittel, um diese psychologischen Nöte abzufangen. Daher suchen wir nach Ansätzen, wie wir mentale Gesundheit auch großflächig über mentale Online-Programme und Ähnliches unterstützen können. Dies ist der Fokus der zweiten Phase des CovSocial-Projekts, in der wir den Berliner:innen Stress- und Einsamkeitsreduktionsprogramme angeboten haben.

  • Prof. Dr. Tania Singer ist die Wissenschaftliche Leiterin der Forschungsgruppe Soziale Neurowissenschaften der Max-Planck-Gesellschaft. Ein Forschungsschwerpunkt beschäftigt sich mit Empathie und Mitgefühl.

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