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Corona-Shaming: Endlich wieder schuldig fühlen

Es gab sie schon einmal, die Corona-Scham: Wer sich trotz aller Empfehlungen mit Leuten traf, Remmidemmi statt Rücksicht zum Motto machte, wurde in breiten Teilen der Gesellschaft verurteilt. Langsam kehren die Schuldgefühle zurück – und die Vorwürfe. Das ist gut so – ein Kommentar.

Ausgehen, rausgehen, weggehen: Wie viel Shaming darf es sein? Foto: Daniel Tafjord/Unsplash
Ausgehen, rausgehen, weggehen: Wie viel Shaming darf es sein? Foto: Daniel Tafjord/Unsplash

Die Schande des Vergnügens: Hauptsache noch eine Party mitnehmen

Am vergangene Wochenende, genau 36 Stunden vor dem nächsten Lockdown, trafen zwei befreundete Haushalte aufeinander. Außenplätze eines Restaurants an der Auguststraße, mit etwas Abstand. Noch einmal einen Wein trinken, richtig serviert und mit Aussicht statt im Wohnzimmer direkt aus der Flasche (kleiner Scherz, so schlimm ist es doch noch nicht).

Die zwei Paare kennen sich, sie sich lange befreundet und wissen quasi genau, was die anderen in ihrer Freizeit tun. Zusätzliche Corona-Gefahr? Überschaubar, gefühlt. Plötzlich änderte sich jedoch die Energie der Zusammenkunft – als eine gemeinsame Bekannte vorbeikam und sich spontan und ohne großes Fragen dazusetzte: „Hey, lange nicht gesehen.“ Sie berichtete vom vergangenen Wochenende. Da war sie bei der Pornceptual-Party, die die Polizei beendet hatte.

Am Tag zuvor war sie bei einem Geburtstag, „nur eine kleine Runde“, Sonntag gehe sie aber zu Synoid, einer Party in der neuen Grießmühle, dem Revier Südost in Schönweide. Dann verschwand sie wieder, sie hatte ihre Geschichten ja alle erzählt.

Die Feierwilde will auch nach dem Shutdown erstmal keiner sehen

Einer der vier schaute die anderen drei Freunde an: „Mit Katharina werden wir uns alle vorerst nicht mehr treffen“, sagte er, vor allem an das andere Paar gerichtet: „Wenn ihr euch mit Katharina trefft, trefft euch nicht mehr mit uns.“ Katharina heißt nicht wirklich Katharina, existiert aber genau wie die drei Freunde des Autoren, die er hier beschreibt.

Shaming in der Party-Pause: Wer jetzt noch feiert, ist mindestens ein Egoist. Soll man das den Leuten auch sagen? Foto: Unsplash/Daniel Loon
Party-Pause: Wer jetzt noch feiert, ist mindestens ein Egoist. Soll man das den Leuten auch sagen? Foto: Unsplash/Daniel Loon

Am Tisch herrschte dann schnell Einigkeit: Katharina ist erst einmal raus. Denn auch, wenn es legale Raves waren – die Zahlen sind gerade tragisch hoch. Risikominimierung im Freundeskreis.

Und tatsächlich, das haben wir dann bemerkt, ist Shaming wieder so eine Sache – der englische Begriff bezeichnet den Vorgang, andere Leute dazu zu bringen, sich zu schämen. Häufig ist zum Beispiel Fat-Shaming, also Menschen herabwürdigen, weil sie nicht irgendeinem Schönheitsideal entsprechen. Ein Ideal 2020 ist auch: Isolation.

Shaming: Musst du deinen Geburtstag wirklich feiern?

So, das bemerkten wir, erwischten wir uns auch zunehmend, unsere Freund*innen und Bekannten bei Instagram und Facebook wieder kritischer zu beobachten. Ach, du warst in London? Schön, aber: wozu? Sag mal, dein Geburtstag, das waren doch hoffentlich Bilder von 2019 – oder hast du echt alle eingeladen?

Natürlich halten wir uns derzeit noch etwas zurück mit den direkten Anfeindungen, aber doch, das haben wir festgestellt, werden die Gedanken wieder lauter: Muss das alles nun noch sein? Ganz zu schweigen von irgendwelchen Influencer*innen, die auf TikTok und Instagram ihre immer noch stattfindenden Reisen oder Shoppingtouren dokumentieren – weil sie sonst vielleicht auch gar nicht mehr haben.

Urlaub muss sein, das ist doch Menschenrecht. Irgendwie. Oder ist Shaming da angebracht? Foto: Imago Images/Pixsell
Urlaub muss sein, das ist doch Menschenrecht. Irgendwie. Oder ist Shaming da angebracht? Foto: Imago Images/Pixsell

Was natürlich zu einer moralischen Frage führt: Sich über andere zu erheben ist nie eine gute Idee. Andererseits: Wir gehen gerne feiern, fanden die illegalen Raves im Sommer aber trotzdem falsch. Wir feiern Menschen, die ihre Wünsche und Fantasien leben – und finden trotzdem geheime Sexpartys in Zeiten von Corona scheiße. Und ja, derzeit fragen wir uns doch ganz offen, ob es nicht doch an der Zeit ist, mit dem Hintern zuhause zu bleiben.

Kein Risiko: Freundlich bestimmt eine Abfuhr erteilen

Und ja, wir mussten auch eine Reise nach London stornieren, die wir in einem Anfall von Euphorie im halbwegs friedlichen Corona-Sommer für Dezember gebucht hatten. Und hatten Eintrittskarten fürs Theater und für ein Event in der neuen Grießmühle. Aber schon lange eigentlich keine Lust mehr.

Was also tun mit all denen, die selbst jetzt noch tun, als wäre nichts? Die uns bald wieder mit Storys von Privat-Weihnachtsfeiern, von geheimen Raves und netten Abenden mit dem halben Freundeskreis berichten? Vielleicht einfach freundlich bleiben. Denn man kann auch freundlich bestimmt sagen, dass einem das gerade nicht so richtig passt. Und man sich dann vielleicht im Frühjahr wiedersieht. Bis dahin viel Spaß mit den anderen Egoisten.


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