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Stadtteil-Serie

Corona-Spaziergänge: Friedrichshain – Sperrmüll, Bücher und Verschwörungen

Berlin ist im Ausnahmezustand. Unser Autor ist in einer Stadt im Stillstand unterwegs. Zum Auftakt der neuen tip-Reihe „Corona-Spaziergänge“ streift er durch seinen heimatlichen Kiez in Friedrichshain. Normalerweise belebt, feierfreudig und international, ist die Gegend zwischen Berghain und Boxhagener Platz ruhig und leicht unheimlich. Er entdeckt altes Zeug, krude Ideen und nimmt ein Buch mit.

Ein altes Sofa wurde während Corona in Friedrichshain auf die Straße gestellt.
Alles muss raus. In Friedrichshain haben die Leute während der Corona-Pandemie Zeit und misten aus.

Ich gehe aus der Wohnung, im Flur treffe ich die Nachbarin aus dem zweiten Stock. Ob sie sich schon langweile wegen der Corona-Quarantäne, frage ich. Nein, sie habe sich Wolle gekauft und wird einen extrem feinmaschigen Pullover stricken. Nicht schlecht, denke ich, zumindest ein produktiver Umgang mit der Pandemie. Jetzt aber raus in die Stadt.

Die Straße ist ziemlich leer. Die Läden dicht, das Büro des SPD-Abgeordneten bis zum 20. April geschlossen. Der Spielplatz ist gesperrt, nur auf der Wiese kicken zwei Jungs mit einem Ball. Die Sonne scheint und es ist kalt. Ich gehe am Aldi vorbei zum Berghain. Normalerweise geht es hier ab. Es ist Sonntagvormittag, da gehen die Partyprofis erst los, die Schlange ist meist lang und Bässe wummern aus dem Gemäuer. Alles weg. Über die Neubausiedlung kehre ich Richtung Boxhagener Platz zurück. Ganz ausgestorben ist es doch nicht, es sind Leute unterwegs. Meist allein, einige mit Kindern oder dem Hund. Die Imbisse haben noch geöffnet.

Beim Taco-Spanier stellt eine junge Frau einen Tisch nach draußen, ein langhaariger Kauz belehrt sie, dass das nicht mehr erlaubt sei. „Only Takeaway“, entgegnet sie. Er zieht weiter zum türkischen Bäcker. Großes Hallo. Dann ist es wieder still. Alle Bars, Cafés, Restaurants sind verschlossen. Es herrscht eine eigentümliche Ruhe auf der Fress- und Saufmeile Simon-Dach-Straße. Ganz schlimm finde ich das nicht. In den späten 1990ern gab es zwei Kneipen hier und das war irgendwie auch in Ordnung und keine Katastrophe.

Man ist plötzlich mehr unter sich. Vielleicht nicht wie damals in der Mauerstadt, aber seit die Touristen und Clubgestalten weg sind, gehört der Kiez den Einheimischen. So wie in der Zeit zwischen den Jahren. Tempo, Konsum, Hedonismus – auch das wurde heruntergefahren. Unnötige soziale Kontakte vermeiden, keine Versammlungen über zehn Personen, alles steht still.

Alte Klamotten, die keiner will. Corona in Berlin und Friedrichshain wird zum Riesenflohmarkt.

Mir fällt auf, dass auf dem Bürgersteig, auf Fenstersimsen und in Hauseingängen Dinge herumliegen. Klassischer Sperrmüll, alte Regale und Sofas, klapprige Stühle und eine Stehlampe. Ich gehe an Säcken mit alten Klamotten vorbei, an einer großen Kiste voll mit Schuhen und an einem Sonnenschirm. In Kartons liegen Kleinkram, billiges Spielzeug und Puzzles. Die Leute haben Zeit und hängen viel in der Wohnung ab, da fällt so manchem plötzlich auf, wie viel unnötigen Kram man zu Hause hat. Ein verstreuter Gratis-Flohmarkt entsteht, der eigentliche Markt auf dem Boxi ist schließlich ausgefallen. Also werden die Sachen anders in Umlauf gebracht.

„Quarantäne sei eine Form von Haft“

Ich muss an Paul Austers „Im Land der letzten Dinge“ denken. Vor über 30 Jahren beschrieb der New Yorker Autor eine dystopische Welt in der kaum noch Regeln gelten und sich der Held als Materialsammler durchs Leben schlägt. Er lebt davon, was er findet. Ein apokalyptisches Science-Fiction-Szenario. Ganz so weit sind wir davon nicht entfernt, oder doch?

In der Wühlischstraße entdecke ich einen kuriosen Zettel. „Lasst Euch nicht verarschen,“ schreibt da einer, die Corona Hysterie eigne sich perfekt, um Bürgerrechte abzuschaffen. Quarantäne sei eine Form von Haft und das ganze solle davon ablenken, dass das Finanzsystem zusammenbricht.

Wenn die Endzeitstimmung anbricht, dann sind die falschen Propheten nicht weit. Auch hier in Friedrichshain nicht. Die meisten Verschwörungstheorien verbreiten sich heutzutage eher im Internet, da ist es trotzdem irgendwie sympathisch, dass sich hier jemand noch die Mühe gemacht hat, einen wirren Text auszudrucken, zu fotokopieren und mit Tesaband etwa alle zwei Meter an die Laternen und Stromkästen zu kleben.

Seltsame Corona-Verschwörungstheorien tauchen an den Wänden auf.

Überhaupt entwickelt sich eine spannende Zettelkultur im Stadtbild. In den Schaufenstern hängen charmante Abschiedsgrüße und Aufforderungen zu Unterstützung, Solidarität und Spenden. An den Haustüren bieten Nachbarn ihre Hilfe beim Einkauf an. Das Projekt wirgegencorona.com organisiert Helfende und Leute, die Hilfe benötigen. Der tip hat mit „tip hilft“ ja auch so eine Aktion gestartet.

Corona ist nicht unsichtbar

An den meisten Läden hängt ein lachsfarbener Zettel: „Unterstütze deinen Lieblingsort.“ Man solle Gutscheine kaufen, damit die Läden nicht bankrottgehen. Mehr Infos auf www.helfen.berlin.

Corona ist nicht unsichtbar, die Pandemie setzt visuelle Akzente und produziert neue Kommunikationsformen im Stadtraum. Am Frankfurter Tor hat jemand mit riesigen weißen Buchstaben „Partysolation“ an die Fassade des Arbeiterpalastes gemalt. Es sind erste Zeichen, vereinzelt und doch präsent.

Unterstütze Deinen Lieblingsort. Viele Aktionen wollen lokalen Läden helfen.

Auf dem Rückweg finde ich einen Karton mit Büchern, daneben klebt ein gelbes Schild: „#staythefuckhome and read books“. Ich schaue das Angebot durch und entscheide mich für „How To Be Good“, einen Roman von Nick Hornby. Wahrscheinlich lese ich ihn nicht, Hornby ist nicht mein Fall. „High Fidelity“ war eine Ausnahme und ist über 20 Jahre her. Aber vielleicht ja doch. Der Klappentext sagt, es sei ein ernstes Buch, das zeigt, wie schwierig es ist, glücklich zu sein. Da ist was dran.

Mit dem Buch in der Hand gehe ich zum Backshop. Ich denke an die vermeintlichen Viren, die es sich auf dem Umschlag des Hornby-Schmökers gemütlich gemacht haben. Dann die Klinke, die man beim Hineingehen berühren muss. Verdammte Paranoia. Ich kaufe Brot, die Bäckersfrau gibt mir das Wechselgeld. Schon wieder ertappe ich mich bei den Gedanken an Viren auf 20-Cent-Münzen. Verdammte Paranoia. Ich frage sie, ob noch Leute kommen. „Wenig“, sagt sie, aber sie mache trotzdem auf. Was solle sie auch anderes tun.  


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https://www.tip-berlin.de/corona-spaziergang-kreuzberg/

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