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Corona-Spaziergänge: Neukölln auf Sparflamme

Bereits vom Balkon aus sehe ich die Schlange, die sich vor dem Baumarkt auf der gegenüberliegenden Straßenseite gebildet hat. Ist das momentan die härteste Tür Berlins? Auch vor dem Drogeriemarkt daneben stehen einige Menschen an. Ob die arbeitslosen Türsteher*innen aus den Clubs jetzt vor Supermärkten, Apotheken und Drogerien für Ordnung sorgen? Corona-Spaziergänge – dieses Mal durch Neukölln.  

Corona-Spaziergänge Neukölln: Schlange vor dem Baumarkt.
Heimwerkerprojekte angehen – wann, wenn nicht jetzt? Foto: Ina Hildebrandt

Draußen auf der Straße ist es ganz schön ruhig geworden, nachdem Angela Merkel einige Tage zuvor an unsere Selbstdisziplin appelliert hatte und die Restaurants sowie Cafés neben meinem Haus geschlossen oder auf Take-Away umgestellt haben. Auf dem Weg zum Hermannplatz begegnen mir – nur ältere Menschen! Zu Fuß. Auf dem Fahrrad. Warum sind ausgerechnet jetzt so viele Senior*innen unterwegs? Habe ich sie vorher einfach nie so richtig gesehen? Oder blicke ich jetzt durch eine Corona-Brille auf die Welt und nehme nur noch Risikogruppen, Klopapier und Gehuste im öffentlichen Stadtbild wahr?

Was auch auffällt: Diese leidigen E-Scooter sind verschwunden. Das kann von mir aus auch gerne so bleiben. Auf dem Hermannplatz halten nur ein Caféstand und der türkische Brotverkäufer noch die Stellung sowie ein paar Gestalten, die immer da sind. Der Hermi ist wohl ihr Zuhause.

Corona-Spaziergänge: Eine neue Gesprächskultur in Neukölln?

Auch die Weserstraße ist kaum wiederzuerkennen. Sie ist fast ausgestorben. Aber wie lebendig kann eine Straße schon sein, die von Bars, Cafés und kleinen Geschäften lebt? An der Ecke Reuterstraße stehen einige Menschen vor einem Imbiss und warten, bis sie bestellen können. Drei von ihnen diskutieren im angeordneten Abstand voneinander. Ich muss an das antike Griechenland denken, an debattierende Philosophen auf dem Marktplatz. Hier geht es jedoch nicht metaphysisch, sondern ganz konkret zu: das Homeoffice, der Chef, die Kinder.

Was, wenn man sich in diesen privaten und doch irgendwie öffentlichen Kreis dazustellt und einfach mitdiskutiert? Führt Corona womöglich zu einer Transformation der deutschen Gesprächskultur auf der Straße, die bisher nicht gerade für ihre Offenheit bekannt ist?

Während ich mir vorstelle wie wir zukünftig alle laut mit der halben Nachbarschaft über Gott und die Welt schnacken, passiert…nichts weiter. In den Seitenstraßen erblicke ich nur gähnende Leere. Es ist richtige öde hier. Mich überkommt plötzlich eine Langeweile und die coronabedingte Lahmlegung des öffentlichen Lebens finde ich nicht mehr faszinierend, sondern beklemmend.

Corona-Spaziergänge Neukölln -  der Weserkiez ist so leer wie nie.
Menschenleer und öde: der Weserkiez. Foto: Ina Hildebrandt

Eine Gruppe von Teeanagerjungs läuft an mir vorbei. Sie scheinen wohl genauso wenig Ahnung zu haben, was sie hier machen sollen wie ich und hoffen beim Rathaus Neukölln auf mehr Inspiration. Das ist mir dann doch zu weit und ich beschließe über die Sonnenallee nach Hause zu gehen.

Corona-Spaziergänge: Irgendwas stimmt nicht mit meinem Neukölln

Wo ich mich sonst mit sehr vielen Menschen auf dem schmalen Bürgersteig drängeln musste und Schubserein einfach dazugehörten, erlebe ich nun ganz neue Weiten. Wie breit der Bürgersteig auf einmal ist! Bis auf die Gemüseläden hat kaum etwas offen. Und bis auf Angehörige der Risikogruppe, nämlich ältere Männer, ist auch hier kaum jemand auf der Straße unterwegs. Selbst an dem Gemüseladen an der Ecke Hobrechtstraße, wo sonst immer gefühlt vierhundert Menschen gleichzeitig einkaufen, kann ich ohne Zickzackkurs vorbeigehen. Aber das fühlt sich irgendwie nicht richtig an.

Türkischer Supermarkt, fast ohne Kunden - Corona-Spaziergänge Neukölln.
Ein türkischer Supermarkt. Foto: Ina Hildebrandt

Dieses ruhige Berlin – das ist mir nix. Auf den letzten Metern vor der Haustür stelle ich mir die Zeit nach Corona vor: wie man sein bestelltes Essen wieder an Ort und Stelle verspeisen darf, Menschen aus aller Welt in den Cafés und Secondhandshops abhängen, Gemüsehändler einem mit der Sackkahre fast über die Füße fahren…und in meinem Kopf singt Peter Fox: „Wenn ich so daran denke, kann ich’s eigentlich kaum erwarten.“


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