Die Corona-Selbsttest-App der Charité empfahl einer jungen Frau, sich einem offiziellen Test zu unterziehen. Klarheit bekam sie jedoch nicht. Dafür Zweifel am Gesundheitssystem und einen Kälteschock.
*Ein Bericht von R. Blome
Es ist Freitag, der 20. März 2020. 10:10 Uhr morgens. Ich stehe in einer gefühlt endlos langen Warteschlange einer Corona-Teststelle auf dem Gelände eines Berliner Krankenhauses. Die Teststelle hat vor zehn Minuten geöffnet, jedoch warten vor mir bereits um die 70 Menschen. Die Ersten in der Schlange haben vor dem Krankenhauseingang gezeltet oder mit Klappstühlen ausgeharrt, um heute „sicher“ dran zu kommen.
Szenen, wie man sie sonst im Zusammenhang mit Ticketverkäufen für begehrte Konzerte von Weltstars kennt, wenn eine Tech-Neuheit oder ein neuer Sammler-Sneaker auf den Markt kommt. Die Szene hier ist jedoch wenig feierlich und die Stimmung viel eher dystopisch als euphorisch. Es ist kalt, neblig und nieselt. Wir warten draußen auf einer Krankenhausstraße, auf der ansonsten Krankenwägen verkehren.
Die Hälfte der Menschen trägt Mundschutz, die andere Hälfte nicht. In weiter Ferne sehe ich Menschen in gelben Plastiküberwürfen, die Gesichter von Atemschutzmasken verdeckt. Sie verteilen Informationsblätter und Mundschutz an die Wartenden im vorderen Abschnitt der Schlange. Die Szenerie erinnert mich an Bilder, die nach dem Reaktorunfall in Fukushima entstanden.
Die Mehrheit der Menschen hier draußen ist krank und aus einem der ausgewiesenen Risikogebiete zurückgekehrt. Denn die Tests sind begrenzt und in der Regel nur für diese „Verdachtsfälle der Gruppe 2“ verfügbar. Das sind Menschen mit „akuten respiratorischen Symptomen jeder Schwere, mit und ohne Fieber, die sich in internationalen Risikogebieten oder besonders betroffenen Gebieten in Deutschland bis maximal 14 Tage vor Erkrankungsbeginn“ aufgehalten haben.
Corona-Teststelle: Die Mehrheit der Menschen hier ist krank
Viele Anwesende haben Reizhusten oder niesen. Man versucht Abstand zueinander zu halten. Je länger die Menschen draußen in der Kälte warten, desto heftiger werden bei manchen die Hustenattacken und umso kürzer werden auch die Abstände zwischen den Einzelnen – wahrscheinlich um das Gefühl zu haben, dass es endlich ein Stück voran geht. Die Mitarbeiter, die Infoblätter und Mundschutz an die Wartenden ausgeben, vertrösten darauf, dass sie später wiederkommen würden, als kurz vor mir die Packung mit den OP-Masken zu Neige geht.
Vier Stunden ohne Umsorgung der Kranken
Geschehen wird das nicht. Nach den anfänglichen Bemühungen Präsenz zu zeigen, wird die nächsten vier Stunden niemand mehr die Kranken umsorgen, die in der Schlange stehen. Niemand vom Personal wird darauf achten, dass der Abstand zum Vordermann eingehalten wird. Mundschutz wird an diejenigen, die nicht im ersten Drittel der „Tages-Schlange“ stehen, auch nicht mehr verteilt werden und Informationen dazu, wer getestet wird und wer nicht, oder auf welche Abläufe man sich einstellen kann, wird es für diese Mehrheit der Wartenden auch nicht geben.
Zunehmend kommen auch ältere Menschen ohne Mundschutz an, um sich in die Schlange einzureihen, da sie durch die allgemeine Ungewissheit der Lage in Deutschland beunruhigt sind und sich testen lassen möchten. Da kein Teststellenpersonal die Koordination dieser Testwilligen übernimmt, werden Wartende aktiv. Verantwortungsbewusst schicken sie diese besonders gefährdeten, älteren Menschen mit Vorerkrankungen, die nicht auf ärztliche Empfehlung, sondern aus Besorgtheit gekommen sind, nach Hause. Damit sie sich womöglich nicht noch in der Schlange mit den Hoch-Risikofällen infizieren oder sich vom ewigen Warten in dieser nassen Kälte eine Erkältung zuziehen.
Ist es gut, dass ich hier bin, oder bringe ich mich erst in Gefahr?
Auch mich überkommen Zweifel. Mit all diesen heftig erkrankten Menschen, die vor mir husten und schniefen, soll ich stundenlang draußen Schlange stehen und später in einen geschlossenen Raum, um mich untersuchen zu lassen? Ergibt es überhaupt Sinn hier zu warten, nur weil der Charité-Corona- Selbsttest per App mir das nach Auswertung eines digitalen Fragenkatalogs empfohlen hat?
Offiziell heißt es dieser Tage doch noch immer, es würden nur Menschen getestet werden, die engeren Kontakt zu einem Verdachtsfall oder zu einem bestätigten Corona- Patienten hatten, bzw. aus einer ausgewiesenen Risikoregionen kämen. All das trifft auf mich doch gar nicht zu. Warum schickt die Charité-Corona-App mich dann trotzdem in die Teststelle? Genau genommen lautete die App-Empfehlung, nach Auswertung aller Fragen, ich solle die Info-Hotline der Senatsgesundheitsverwaltung anrufen (besetzt/ oder Warteschleife), den ärztlichen Dienst oder einen Arzt anrufen, beziehungsweise alternativ dazu in einer Untersuchungsstelle vorstellig werden.
Da der ärztliche Dienst die letzten Tage auch nach hundertfachem Versuchen nicht erreichbar war. Und Ärzte Menschen mit jedweder Erkältungssymptomatik bitten zu Hause zu bleiben oder in die Teststelle zu gehen – entschied ich mich, die in der App angezeigte nächstgelegene Untersuchungsstelle aufzusuchen. Es muss wohl an meinen ebenso durch die App erfassten Symptome liegen, wie Hals- und Kopfschmerzen und Schlappheit, gekoppelt mit dieser außergewöhnlichen Kurzatmigkeit, die mich seit einigen Tagen plagt. Diese Symptome, in dieser Kombination und ohne Schnupfen, zählen mutmaßlich nicht zu den klassischen Erkältungssymptomen.
Nicht ich bin das Problem
Ginge es nur um mich selbst, wäre ich entgegen der App-Empfehlung einfach zu Hause geblieben, in meiner selbst verordneten Quarantäne der letzten fünf Tage – für mindestens eine weitere Woche. Ohne das Haus zu verlassen. Jedoch hatte ich vor ein paar Tagen ein Fotoshooting, für das Familienalbum. Das bedeutete, ich hatte in einem kleinen Fotostudio sehr engen Kontakt mit meinen Eltern und tags drauf setzte auch schon diese merkwürdige Kurzatmigkeit mit den übrigen Symptomen ein.
Den App-Selbsttest der Charité habe ich gemacht, um mich zu vergewissern, dass „alles in Ordnung“ ist und mich selbst zu beruhigen. Ich hatte unter keinen Umständen damit gerechnet, an eine Untersuchungsstelle verwiesen zu werden. Aus Verantwortungsbewusstsein meinen Eltern gegenüber, beschließe ich weiterhin brav frierend in der Schlange auszuharren. Es wird schon gehen, denke ich mir.
Fünf Stunden Schlange stehen
Die Frau hinter mir in der Schlange erzählt, dass sie morgens mit der Krankenhaus-Information gesprochen habe und diese überhaupt keine Auskunft zur Teststelle geben konnte. Hätte sie zuvor gewusst, dass sie erkältet mit Lungenschmerzen den halben Tag draußen stehen und frieren muss, um diesen Test zu machen, wäre sie doch lieber im Schneeanzug gekommen, hätte sich Tee mitgebracht und für warme Füße gesorgt.
Zu diesem Zeitpunkt warten wir bereits drei Stunden. Nach zwei weiteren Stunden können wir dann eine Nummer ziehen, um uns für das Arztgespräch anzumelden. Nach der Anmeldung dürfen wir in einem beheizten Zelt Platz nehmen. Nach fünf Stunden in der Kälte sollte das Zelt sich wie eine Oase der Wärme anfühlen. In mir ruft es jedoch Assoziationen mit Kriegs- und Katastrophenszenarios hervor, die ich sonst nur aus dem Fernsehen kenne.
Es ist eines dieser typischen weißen Krisenhelfer-Zelte. In ihm tummeln sich Menschen mit Mundschutz. Vielen von ihnen sieht man an ihrer Körperhaltung bereits an, wie elendig es ihnen geht und wieder: Husten. Allerseits husten und räuspern und niesen und schniefen. Ich beschließe, dass ich lieber draußen warten möchte, da mir dieses beheizte Zelt mit den Erschöpften und Kranken wie ein ideales Gewächshaus für Viren und Bakterienkulturen vorkommt.
Das Sicherheitspersonal vor dem Zelt ist sehr freundlich und zeigt Verständnis für meine Entscheidung. Nach einer weiteren Stunde Wartezeit werde ich, körperlich bereits tiefgekühlt, endlich zum Gespräch mit dem Arzt aufgerufen. Und werde letztlich, von der einzigen in der Teststelle anwesenden Ärztin ohne Test wieder nach Hause geschickt.
„Bleibt einfach zuhause!“
Die Ärztin befindet sich hinter einer Glasfront von den Patienten abgeschirmt. Durch die Glasscheibe sagt sie mir voll Mitgefühl, es täte ihr auch sehr leid, dass ich in meinem kränklichen Zustand so lange in der Kälte hätte warten müssen. Ich sei kein Einzelfall. Sie verstehe nicht, warum die App Menschen wie mich – Menschen mit Kurzatmigkeit, aber ohne Kontakt zu bestätigten Fällen, in die Untersuchungsstelle schicken würde. Denn es bleibe bei der mittlerweile bekannten Regel, dass es Tests nur für Menschen aus Risikogebieten, oder mit bestätigtem engen Kontakt zu Corona-Patienten und mit Symptomatik gäbe.
Für Menschen, die ohnehin keinen Test bekommen werden, muss die App-Empfehlung lauten: „Bleibt zu Hause!“ Und nicht: „Bitte wenden Sie sich an eine der Untersuchungsstellen“, wie es sinngemäß bislang der Fall ist, da die telefonische Erreichbarkeit der übrigen Optionen nicht gegeben ist.
Meiner Meinung nach sollten vor allem Menschen aus Risikogruppen die
Untersuchungsstelle meiden. Denn nirgendwo in Berlin stehen derzeit so
viele Hoch-Risiko-Fälle so dicht beisammen wie hier. Und die Strapazen bis es lediglich zu einer ärztlichen Entscheidung kommt, ob ein Test gemacht wird, sind auch bei weitem nicht jedem zuzumuten – erst recht nicht in angeschlagenen Gesundheitszustand. Eine Untersuchung findet ohnehin nicht statt.
Fürsorgepflicht – die allerdings nicht mit der Realität zusammengeht
Die Charité kommt wohl nur ihrer Fürsorgepflicht nach. Menschen mit klinischen Symptomen, wie etwa Kurzatmigkeit, wird angeraten einen Arzt zu konsultieren. Vom Prinzip her ist das alles vollkommen richtig. Nur reichen weder Material noch Personal aus. Die Ärztin und die übrigen wenigen Teststellenmitarbeiter, die mir heute begegnet sind, waren allesamt freundlich, geduldig und empathisch.
Hier herrscht nur leider, wie in allen Berufsgruppen im Gesundheitssystem, gnadenlose Unterbesetzung. Und das ist nicht nur Folge einer verspäteten Reaktion auf den Ernst der Lage in der Politik. Sondern höchst wahrscheinlich auch Folge einer langen Spar-Geschichte im deutschen Gesundheitssystem. Die Reduktion auf das Nötigste bringt die Mobilisation der nun benötigten Kapazitäten an vielen Stellen schnell an die Grenzen.
Hier stehen Menschen, mit und ohne Corona, Menschen aus Risikogruppen, mit und ohne Mundschutz, und Menschen, mit und ohne Informationen zu Verhaltensregeln, teils dicht beisammen, frieren und husten. Und das bedeutet ebenso ein Risiko, durch schlecht koordinierte Gesundheitsmaßnahmen zu einer Kettenansteckung beizutragen. Das Gesundheitssystem ist schon jetzt mit der Kommunikation überfordert.
„Vorselektion wäre dringend nötig“
Eine Selektion am Eingang der Untersuchungsstellen selbst wäre dringend nötig. Sowie flächendeckende Informationen zu Bedingungen für die Testdurchführung, zu Abläufen und Etikette. Auch für diejenigen, die erst ab zwölf Uhr kommen und sich zum Warten einfädeln. Ebenso müssen die Kapazitäten zur telefonischen Beratung durch die Senatsgesundheitsverwaltung und den ärztlichen Bereitschaftsdienst noch weiter ausgebaut werden, um die durch die App ermittelten Verdachtsfälle zu betreuen.
Ich hoffe, dass die Corona-Krise nicht nur zur bereits lange Zeit überfälligen, emotionalen Würdigung aller Menschen in Gesundheitsberufen führt. (Neuerdings wird ihre Arbeit immerhin, und wie bereits lange überfällig, auch im öffentlichen Narrativ als „systemrelevant“ wertgeschätzt.) Sondern es auf lange Sicht, auch ohne drohende Pandemie vor der Haustür, zu einem Aufstocken des Personals im Gesundheitswesen kommt.
Die Charité-App ist wohl ein sehr guter Ansatz. Jedoch sollte es wirklich nicht sein, dass kranke Menschen mit starken Symptomen, unkoordiniert gemeinsam mit besorgten Menschen aus Risikogruppen, stundenlang ungeschützt bei Wind und Wetter im Freien vor den Teststellen warten müssen – ohne Informationen und teils ohne Mundschutz.