Manche Menschen mögen in der Corona-Krise ja die Zeit und die Muße für Selbstoptimierung haben. Sie können Makramees basteln, Bowls aus Superfood kreieren und Bücher schreiben, so viel sie wollen. Aber wenn sie so tun, als müsse man nur den inneren Schweinehund überwinden, um es ihnen gleich zu tun, dann ist das blanker Hohn für all die, die gerade ums (finanzielle) Überleben kämpfen oder drei Kinder bespaßen müssen. Sie haben schlicht keine Zeit zum Basteln für Erwachsene.
Kein Wunder, wenn diese Menschen sagen: Steckt euch eure Makramees sonstwohin!
Hilfe! Marie Kondo, Nina Montagne und Influencerin Jenny aus New York mit der fetten Wohnung und den Rezepten fürs Kochen ohne Müll sind überall! Kaum hatten die ersten Firmen ihre Mitarbeiter*innen ins Home-Office geschickt, kaum waren die ersten Veranstaltungen abgesagt, fluteten Listen das Netz.
Listen mit Dingen, für die wir jetzt angeblich endlich Zeit haben. Aufwendige Gerichte kochen, Bowls mit Superfood kreieren und den Balkon bepflanzen, putzen, Makramees basteln, alte Freundschaften wiederbeleben, lesen oder gar selbst ein Buch schreiben.
Vielleicht sogar auf georgisch? Warum sollte man nicht eine neue, ungewöhnliche Sprache lernen, während man zu Hause festsitzt? Möglicherweise nach dem Aufräumen, Ausmisten, Möbel umstellen? Auch wir von tip Berlin haben solche Listen erstellt, wir geben es ja zu!
Die Möglichkeiten in der Isolation, suggerieren die Listen, sind endlos. Die Zeit der meisten Menschen aber nicht, auch wenn sie sie zu Hause verbringen.
Corona und Selbstoptimierung: Die Menschen haben nicht automatisch mehr Zeit
Denn auch wenn das öffentliche Leben nicht mehr stattfindet, sind die To-Do-Listen vieler Menschen genauso lang wie vorher. Sie müssen schreiende Kinder beruhigen, Briefe an Vermieter*innen schreiben oder bei den staatlichen Portalen Unterstützung für ihr Restaurant oder ihr Ein-Personen-Unternehmen beantragen. Darüber hinaus müssen viele Menschen, verdammt noch mal, immer noch arbeiten.
Die einen schlagen sich die Tage und Nächste um die Ohren, sitzen an der Kasse im Supermarkt oder holen unseren Müll ab. Die anderen arbeiten im Home-Office und kriegen Schreikrämpfe, weil die Technik nicht funktioniert und Programme wie TeamViewer nicht schlecht sind, aber die Arbeit eben auch verlangsamen. Gleichzeitig erwarten viele Chef*innen während das gleiche Output wie vorher.
Und zwischen Home-Schooling für die Kinder, Bad putzen und E-Mails schreiben müssen sich viele Menschen den Kopf darüber zerbrechen, wie sie ihr Leben in Zukunft finanzieren. Unwahrscheinlich ist es ja nicht, dass viele Kleinunternehmen und Arbeitgeber pleite gehen.
Drölf Videokonferenzen mit den Kolleg*innen, dann eine mit der Freundin hinterher
Wenn die Menschen sich den ganzen Tag lang mit solchen wichtigen kräftezehrenden Fragen beschäftigt haben, ist es logisch, dass sie keinen Bock mehr haben, nach drölf Zoom-Meetings mit den Kolleg*innen ein weiteres mit der Freundin abzuhalten, mit der sie sich eh nichts mehr zu sagen haben. Oder Büchners Bandwurmsätze zu entschlüsseln. Oder ein Curry zu kochen, wofür sie erstmal Mangos besorgen müssen und Kaffir-Limettenblätter, eingeflogen aus Thailand. Falls noch irgendwas einfliegt. Beinahe hätten sie ja sogar schon Tegel dicht gemacht.
Ich will vorm Spiegel stehen und Pickel ausdrücken
Ich zum Beispiel will nach einem langen Arbeitstag im Home-Office oft nur daliegen und die Decke anstarren. Ich will Ristorante-Pizza essen und zum 15. Mal Scrubs gucken. Ich will die Instagram-Storys meiner Freunde durchsehen, während die Tagesschau läuft. Ich will Wein trinken und von meinem Freund massiert werden. Ich will sehnsüchtig aus dem Fenster gucken und mir vorstellen, wie es wird, wenn das Leben wieder Fahrt aufnimmt. Ich will im Bad vorm Spiegel stehen und Pickel ausdrücken. Meine Güte, manchmal will ich sogar Quizsendungen gucken, am besten Wiederholungen, weil da noch alles gut war.
Und ich bin kinderlos und finanziell einigermaßen abgesichert. Wenn ich allein erziehende Mutter mit mehreren Kindern wäre, hätte ich bestimmt große Lust, den Selbstoptimierer*innen mit ihren Makramees das Maul zu stopfen. Die Corona-Krise mag positive Effekte auf die Umwelt und auf manche Menschen haben, die den Luxus besitzen, ihr Leben entschleunigen zu können. Die so viel Freizeit haben, dass sich ihre Kreativität entfalten kann.
Corona und Selbstoptimierung: Für viele ist das Überleben gerade ein Kampf
Für einen großen Teil der Menschen aber, überall in der Welt, aber vor allem in Ländern mit viel Armut, schlechtem Gesundheitssystem und katastrophalen hygienischen Bedingungen, ist die Corona-Krise ein Kampf ums Überleben. Sie müssen kilometerweit laufen, um Wasser zu holen, wissen nicht, wie sie Miete und Lebensmittel bezahlen sollen. Sie müssen Angehörige pflegen, Flaschen sammeln oder sich vor ihrem gewalttätigen Ehemann in Sicherheit bringen. Diese Menschen, aber auch solche, die schlicht den ganzen Tag über gearbeitet haben, haben keine Kraft und keine Zeit für Selbstoptimierung.
Klar, kochen ohne Müll ist eine gute Sache und Origamis zu falten kann Menschen, denen es nicht gut geht, einen gewissen Seelenfrieden bescheren. Aber wenn Autor*innen und Influencer*innen es so darstellen, als müsse man bloß seinen inneren Schweinehund überwinden, um glücklicher durch die Corona-Krise zu gehen, dann ist das blanker Hohn für alle, die nicht den Luxus haben, über sowas nachzudenken.
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