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Zombiedroge Crack – eine Hinterlassenschaft der Pandemie

Crack erobert die großstädtische Suchtszene – und verdrängt Heroin als Killerdroge mit der größten Verbreitung. Das ist inzwischen Allgemeinwissen. Aber warum ist das Teufelszeug so anziehend geworden?

Ein Crackabhängiger im Görlitzer Park bereitet seinen nächsten Kick vor. Foto: Imago/Anthea F. Schaap

Das Ereignis, das die Ankunft der zerstörerischen Droge vor Augen führte, war ein Teenagerdrama in einem U-Bahnschacht am Kottbusser Tor. Sieben, vielleicht acht minderjährige Jungs und Mädchen standen im Neonlicht eines Gangs; drei nuckelten an ihren Pfeifen, die anderen vegetierten in einem Zustand der psychischen Verwirrung dahin. Eine Schicksalsgemeinschaft im Bann eines Rauschgifts, das Menschen im Höllentempo zu Wracks macht.

Während der Pandemie sei das gewesen, im Jahr 2021, so erinnert sich Juri Schaffranek, Mitte 60.

Schaffranek ist möglicherweise der erfahrenste Streetworker in der deutschen Drogenhauptstadt. Ein Methusalem, der seit den späten 80er-Jahren durch den Betondschungel streift und süchtigen Menschen hilft. Über das Gruppenbild in der Unterwelt am Kotti sagt er: „So etwas habe ich noch nicht erlebt.“

Der Mann mit der Pferdeschwanzfrisur, der für die Organisation „Gangway e. V.“ unterwegs ist, kennt noch den Babystrich in der City West, wegen der Abstiegsgeschichte von Christiane F. ein horror vacui. Genauso hat er in der Nachwendezeit die Entwicklung Berlins zum Mekka der Partydrogen erlebt – und außerdem beobachtet, wie zeitgleich die Trinkerszene größer und internationaler wurde.

Crack-Konsum war in Deutschland lange nur ein Randphänomen, auch in Berlin. Ein Dämonenzeug, das man allenfalls mit Problemvierteln irgendwo in der Bronx verbunden hat, mit Crackhouses und der Verelendung der afroamerikanischen Community, irgendwann in den 80er-Jahren. Doch seit ein paar Jahren hat sich der Stoff in den Zentren deutscher Großstädte auf beispiellose Weise verbreitet. Mancherorts – wie im Bahnhofsviertel in Frankfurt am Main – hat Crack das Heroin von seiner Thronrolle unter den Killerdrogen verdrängt. In der Hauptstadt ballen sich die offenen Szenen am Kottbusser Tor, am Görli, am Leopoldplatz, in manchen Gegenden Neuköllns.

Wieso ist die Droge auf einmal zu so einem Reißer geworden?

Juri Schaffranek hat Alarm geschlagen nach seiner bedrückenden Erfahrung in Kreuzberg 36. Der Anblick der blutjungen Crackraucher: ein Indiz dafür, dass die Droge längst mehr ist als nur last exit für Mehrfachabhängige mit längerer Suchtbiografie.

Crack ist Objekt ausufernder Medienberichterstattung

Schaffranek, der Mann von der Basis, hat das Jugendamt informiert, auch andere Sozialträger. Und gebeten, das Thema in den politischen Betrieb zu tragen. Er beobachtete, dass Kolleginnen und Kollegen in der Sozialarbeit dem Crack-Problem eine ähnliche Präsenz attestierten.

Mittlerweile ist der Negativtrend in den Radar der Öffentlichkeit gerückt. Im Abgeordnetenhaus diskutieren Parlamentarier über „Rauchzelte“ an öffentlichen Plätzen, um die Süchtigen, reizbar wegen psychotischer Zustände, von Hauseingängen wegzulotsen.

Kai Wegner, CDU, Regierender Bürgermeister, hat im Juli während eines PR-Termins die Nähe zu Suchtkranken am Leopoldplatz gesucht. Überhaupt läuft die Medienmaschinerie heiß.

Die Medienberichte von der „Crack-Welle“, samt voyeuristischer Kurzporträts von Schwerstsüchtigen, sind längst ein eigenes Genre. Das Hintergrundrauschen zum anschwellenden Konsum eines Rauschmittels, das ein Derivat von Kokain ist. Koks und Natron, das man beispielsweise in Form von Backpulver im Supermarktregal findet, kochen die Süchtigen dabei auf. Ein Prozess, der den Stoff hervorzaubert, fertig zum Reinziehen. Die berüchtigten Crack-Steine.

Crack und seine Verbreitung: Theorien von Polizei und Streetworkern

Vor allem bei jungen Menschen verursacht die Droge irreversible Schäden im Atemsystem und im Gehirn. Der Suchtdruck ist gewaltig. Ein wirksames Substitut – wie Methadon beim Heroin – ist nicht in Sicht.

Wer Erklärungen für den Crack-Boom sucht, muss sich auf Theorien aus der Streetworker-Szene oder den Polizeibehörden stützen. Dabei könnten Erkenntnisse helfen, wenn es darum geht, den Siegeszug der Droge zu stoppen.

Fakt ist: Das Übel ist auch eine Hinterlassenschaft der Corona-Pandemie. Juri Schaffranek, der Kümmerer, erzählt von den Nöten im Frühjahr 2020. Auf einmal verringerten sich die Kapazitäten in den öffentlichen Hilfseinrichtungen für die Drogenszene – wegen Abstandsregeln und anderen Maßnahmen. Ob in Unterkünften, in Konsumräumen. Vielen Desperados hat die Covid-19-Bekämpfung existenzielle Ankerpunkte geraubt.

„Der seelische Druck hat in dieser Zeit enorm zugenommen“, erinnert sich Schaffranek. Die Symptome: mehr Verwahrlosung, dazu der stechende Drang, sich in den Orbit zu schießen. Das High, das Crack verpasst, bietet das Setup. Kurz, heftig, orgiastisch.

In diesem Konsumraum in einem Gefährt der Drogenhilfestelle „Fixpunkt“ verabreichen sich Süchtige ihren Stoff unter Bedingungen, die weniger gesundheitsgefährdend sind als auf der Straße. Foto: Imago/Anthea F. Schaap

Der Zusammenhang spiegelt sich auch in der Kriminalitätsstatistik. Mit Wuhan, Ischgl und Heinsberg haben sich die Straftaten wegen Crack-Konsums mehr als verdoppelt. Im Jahr 2019 registrierten die Beamten zehn Verstöße, im darauffolgenden Jahr waren es 22. Daten, die Hinweise geben, aber kein Gesamtbild liefern. Strafverfolger klemmen sich eher selten hinter die Fersen von süchtigen Menschen, die letztlich Krankheitsfälle sind.

Wer weitere Gründe für den Crack-Trouble sucht, bringt größere Zusammenhänge in den Chefetagen der Polizei in Erfahrung.

Das Polizeipräsidium am Tempelhofer Damm ist ein großer, vertrackter Bau. In einem oberen Stockwerk gestikuliert Carsten Pfohl, 61, blaues Hemd, Glatze. Der Chefermittler leitet das LKA 43, zuständig für Rauschgiftkriminalität.

Der Cop erzählt von Handelsrouten über den Atlantik, von Bestechungspraktiken gegenüber Sicherheitsbediensteten in großen Häfen wie Hamburg oder Rotterdam, von Peilsendern und Mafia-Organisationen. Crack interessiert ihn nur am Rande.

Er berichtet: „Wir beobachten seit Jahren eine riesige Schwemme von Kokain auf dem mitteleuropäischen Markt.“ Die Reinheit der Ware liegt zwischen 80 und 85 Prozent, ein phänomenaler Wert. Der Nachschub, garantiert von Distributoren wie dem mexikanischen Sinaloa-Kartell, erscheint nahezu grenzenlos. Mancherorts ist von einer Überproduktion die Rede.

Crack ist das schmuddelige Nebenprodukt von Kokain

Ein bezeichnender Coup der Fahnder: der größte Kokainfund von deutschen Behörden aller Zeiten, abgezweigt im Jahr 2023. 35,5 Tonnen im Wert von 2,6 Milliarden Euro. Verteilt auf mehrere Container an Nordseehäfen hierzulande und den Niederlanden.

Crack ist gewissermaßen die Schutthalde im Kokaingebirge. Ohne den Treibstoff der Leistungsgesellschaft kein schmuddeliges Nebenprodukt. Höher, weiter, schneller, das gilt eben auch an der sozialen Abbruchkante.

Zubereitet wird die Droge, dieser potenzierte Kick, oft von den Addicts selbst – oder höchstens von kleinen, lokalen Gruppierungen. Keine Rolle spielen dabei die großen Hegemonen, die den kontinentalen Drogenmarkt prägen, etwa die ’Ndrangheta sowie die albanische und mazedonische Mafia. Carsten Pfohl betont: „Crack ist keine typische Handelsware.“

Deshalb kommen die Ermittler selten mit dem unheilvollen Produkt in Berührung. Leute wie Pfohl wollen ja lieber die klandestinen Strukturen der Organisierten Kriminalität aufbrechen.

Eine weitere Hypothese, die den Crack-Boom erklären soll, zerstreut der LKA-Abteilungsleiter unterdessen: dass das Betäubungsmittel in eine Lücke stoßen würde, aufgerissen von geopolitischen Großentwicklungen. Dafür muss man den Blick in den Hindukusch richten. Im April 2022 haben in Afghanistan die Taliban, gottesfürchtig wie nie zuvor, den Anbau von Schlafmohn verboten. Womit der Heroinexport aus dem Agrarstaat stockte. Die Drogenproduzenten im Hinterland waren lange die Monopolisten auf dem Weltmarkt. In die globale Versorgung senkte sich eine Delle.

Ersetzen angesichts der Flaute vielleicht Junkies ihre Schore durch eine andere starke Droge? Carsten Pfohl, der Routinier, winkt ab. Heroin sei eher sedierend, Crack dagegen aufputschend. Wirkungen so gegensätzlich wie Yin und Yang, unwahrscheinlich also. Hinzu kommt: Inzwischen versuchen vor allem Bauern in Myanmar, den Rohstoff fürs Heroin in Masse zu erzeugen.

Weitere News rund um die Droge lassen sich auflesen am Institut für Rechtsmedizin der Charité, gelegen an der Turmstraße in Moabit. Dort wollen Forscherinnen und Forscher aus der Forensischen Toxikologie die nächste Wissenslücke schließen. Es geht darum, den Konsum im Körper beispielsweise von Drogentoten nachweisen zu können.

Crack und die gesellschaftlichen Folgen: Untersuchungen an Drogentoten

Ein solches Verfahren wäre ein Hit, zumal während der Obduktion bislang nicht zwischen Kokain und seinem dreckigen Zwillingsbruder differenziert werden kann. In der Drogenstatistik sind die tödlichen Opfer beider Rauschmittel noch in einer Zahl gebündelt. 610 waren es in Berlin demnach im Jahr 2023, rund hundert mehr als im Vorjahr. Was für eine Erkenntnistiefe: Auch unter den Opfern infolge von Mischkonsum, mit 1479 Toten die häufigste Todesursache, könnte man die Rückstände der Droge aufspüren. Womöglich würde exaktes Zahlenwerk einen Schock zeitigen. Die Einsicht, dass der Anstieg der Drogentoten in Berlin auch an deren verheerender Monstrosität liegt.

Genau genommen sollen etwa Pathologen in die Lage versetzt werden, einen Marker namens Anhydroecgoninmethylester (AEME) im menschlichen Organismus zu erkennen. Diese Verbindung entsteht beim Crack-Rauchen – während einer thermochermischen Umwandlung.Die Charité-Fachleute wollen ihr Messverfahren tauglich für die Praxis machen.

Unabhängig von mehr Expertise während der Leichenschau: Kokain, die essenzielle Zutat, wird auch künftig massenweise im Umlauf sein. Selbst wenn Drogenfahnder manchmal Reservoirs aufstöbern: Die Einfuhrmengen aus Südamerika, wo sich die Koka-Anbauflächen über insgesamt mehr als 300.000 Hektar spannen, sind noch immer unerschöpflich. Somit wird auch künftig jeder Lebensmüde seine Crack-Steine backen können, ob auf der Straße oder in der Küche.

Ein Gamechanger wäre dagegen eine bessere Vorbeugung. Indem labilen Menschen, jung oder alt, die schon ins Blickfeld von Fachstellen geraten sind, mehr Aufmerksamkeit zuteil wird. Es bräuchte mehr Personal, mehr Geld, mehr Know-how an Einrichtungen der Drogen- und Jugendhilfe, bei den sozialpsychiatrischen Diensten, in der gemeinwohlorientierten Infrastruktur. Eine mission possible also auch für politische Mandatsträger. So würden Leute mit Hang zu toxischen Quacksalbereien gar nicht erst in Versuchung geraten.


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In Berlin sind illegale Drogen so leicht verfügbar wie nur in weniger anderen Städten – für die Suchtforscherin Ebtesam Saleh ist diese Selbstverständlichkeit ein großes Problem für Flüchtlinge, die dazu neigen, erlittene Traumata mit Rauschmitteln zu übertünchen. Dieser Ort gilt unter Crackabhängigen als Szenetreffpunkt, allerdings löschen am Leopoldplatz auch Trinkerinnen und Trinker ihren pathologischen Durst auf Alkohol. Ein hedonistischer Ort für den Konsum von Drogen ist in der Hauptstadt dagegen die Clubtoilette. Dort machen Kokserinnen und Kokser immer wieder Bekanntschaften mit fremden Leuten.

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