• Stadtleben
  • Demo-Marathon in Berlin: Wogegen sind wir hier eigentlich?

Protest

Demo-Marathon in Berlin: Wogegen sind wir hier eigentlich?

Berlin liebt Demos, dieses Jahr vielleicht sogar mehr als sonst. Der Herbst, so fürchten manche, könnte ein Herbst des Protests werden, ein Vorbote für einen drohenden Wutwinter. Spannend, spannend, denn gerade in der Hauptstadt grassiert täglich der Demo-Wahnsinn. Allein am 3. September, sind laut Polizei 37 Demonstrationen angemeldet, vom großen Techno-Umzug zum kleinen Sitzprotest. Ich habe mir vorgenommen, an diesem Tag so viele Protestaktionen wie möglich zu besuchen. So viele, wie ich eben schaffe. Eine Safari durch den Berliner Protestdschungel.

Cooler als Jenke von Wilmsdorff auf LSD: Unser Autor mischt sich einen Tag lang unters Berliner Demo-Volk. Foto: F. Anthea Schaap

Erste Berliner Demo: „Sag Nein zum Faschismus! Zur Wahl am 02.10.22 – Abwahl Bolsonaros – Lula wird Präsident 2022“

13 Uhr, Pariser Platz, Mitte. „Bolsonaro unterdrückt die brasilianische Bevölkerung, ist verantwortlich für die Ermordung vieler Indigener, rodet den Regenwald. Wir können das nicht zulassen, er muss weg, Lula muss gewinnen“, schmettert eine Frau im rebellischen Allegro. Auf ihrer Stirn läuft Schweiß über Zornesfalten, es ist drückend warm. Wütend steht sie da, mitten auf dem Pariser Platz, die Quadriga im Rücken, vereinzelte Passant:innen vor ihr. Plakate zu ihren Füßen zeigen in großen Lettern auf Portugiesisch, Deutsch und Englisch eine Botschaft: „Lula muss wieder Präsident werden.“ Ein Aufruf zu den brasilianischen Wahlen im kommenden Oktober. Hier herrscht Kampfstimmung: Wütende Männer in weißen Hemden und bunten Camouflage-Hosen halten Transparente, grimmige Frauen in Arbeiterstiefeln und mit Basecaps rufen hier und da „Lula!“. Insgesamt sind es nicht mehr als zehn Personen. Druck machen sie für 50.

Hier kämpfen die Leute gegen Bolsonaro, zumindest scheint es so. Foto: tipBerlin

Die Wahlen in Brasilien könnten das Land nachhaltig verändern: der ultrarechte Amtsinhaber Jair Bolsonaro gegen den linken Ex-Präsidenten Luiz Inácio Lula da Silva, kurz Lula. „Er verringerte in Brasilien die Armut, stärkte die Sozialpolitik, außerdem muss die Bevölkerung bei ihm keine Militärdiktatur befürchten“, sagt Heiner Bücker, Initiator der Demonstration. So weit, so gut. Doch dann nimmt das Gespräch eine schräge Wendung. Während die Rednerin zu einem Chor anstimmt, die brasilianische Hymne, beginnt Bücker thematisch abzuschweifen.

Plötzlich geht es um Russland, das mediale Einprügeln auf die russische Bevölkerung, um fehlende Fairness, darum, dass die Ukraine hierzulande viel zu gut wegkommt, kurz: Es wird wirr. Eine zweite Person kommt hinzu, namentlich will sie nicht genannt werden, und beginnt im Kanon Bückers Worte zu wiederholen. Auf die Frage, ob es hier nicht eigentlich um die Wahlen in Brasilien gehe, sagen sie: „Natürlich, aber da gibt es doch auch eine thematische Nähe.“ Fragt sich nur, inwiefern. Eine passende Antwort darauf bekomme ich nicht. Praktischerweise ist die nächste Demo nur ein paar Meter weiter.

„Stoppt die Verfolgung von Falun Dafa/Falun Gong Praktizierenden in China“

13.50 Uhr, Pariser Platz, Mitte. In direkter Nähe der Anti-Bolsonaro/Pro-Russland-Demo findet sich ein gelbes Zeltchen. Daneben eine kleine Gruppe, die sich gemächlich zu Bambusflötenmusik bewegt. Tai-Chi auf Valium, zumindest wirkt es so. Alles ist ruhig, irgendwie entspannend. Es wäre umso entspannender, würden nicht über den Köpfen der Meditierenden Plakate Organraub anprangern. Die Gruppe setzt sich für die Falun-Gong-Anhänger in China ein. Sie sind Teil einer spirituellen Bewegung.

„Die Falun Gong werden von der kommunistischen Partei verfolgt und zwecks Organhandel ausgenommen. Westliche Medien sprechen kaum darüber, wir wollen das ändern“, sagt Erik Rusch, Mitinitiator der Demo und Chefredakteur der deutschen Visiontimes, einer Falun Gong-nahen Zeitung mit Themen wie „Der Tag zur Wertschätzung der Ehemänner“ und „Sprossen und Mikrogrün: Die Vitamine auf der Fensterbank“.

So richtig nach Berliner Demo sieht das ja nicht aus. Foto: tipBerlin

Rausch spricht davon, wie die chinesische Regierung unzählige Falun Gong ohne gerichtliches Verfahren inhaftiert habe, von Transplantationstourismus, von vielen, vielen Toten, alles mit zenartiger Ruhe. Die Mischung aus Sonnenschutz, Meditation und ruhigem Gedudel hinterlässt wohl ihre Wirkung.

Wenngleich die Gruppierung kritisch zu betrachten ist, etwa wegen ihrer Nähe zu Parteien wie der AfD und der Querdenken-Bewegung: die Verfolgung der Bewegung in China ist harte Realität. Realität ist aber auch, dass die Anhänger der Falun Gong Homosexualität als unmoralisch betrachten, westliche Medizin verschmähen und Ehen zwischen Weißen und PoCs ablehnen. Rausch geht darauf nicht ein, erklärt hingegen, es ginge den Falun Gong darum, zurück zum kosmischen Gleichgewicht zu finden.

„Kriege, Konflikte, Drogen, alles Probleme, die aufkamen, weil sich die Menschen weltlichen Begierden zuwandten.“ Auf die Aussage, die Falun Gong seien offiziell eine Sekte, fragt er: „Was ist schon der Sektenbegriff? Das ist doch nichts Schlimmes! Wir sind doch keine Scientologen, wir wehren uns gegen das kommunistische China.“ Rausch holt weit aus, textet mich fast eine Stunde zu. Viel Weiteres bleibt aber nicht hängen. Er wiederholt sich. Zeit zu gehen. Weit komme ich aber nicht.

„Solidarität mit den fortschrittlichen Menschen in Chile, Peru und allen anderen Ländern Lateinamerikas“

14.30 Uhr, noch immer Pariser Platz, Mitte. Wo vor einer Stunde noch brasilianische Flaggen wehten und Bilder von Lula hingen, finden sich nun welche zu allen möglichen Ländern Lateinamerikas. Die Szenerie hat sich verändert, die Demonstrant:innen sind aber (fast) dieselben, bisschen weniger Camouflage, bisschen mehr Jeans. Heiner Bücker ist noch immer da. Diesmal ziert seine Hüfte die chilenische Flagge. Er weist darauf hin, dass er auch diese Demo organisiert hat. „Irgendwie wirkt das schräg, ich weiß nicht, worauf die Leute hier hinauswollen“, sagt Max, ein Zuschauer, der zufällig vorbeigekommen ist. Er zieht weiter, ich tue es ihm gleich. Es warten noch viele weitere Demos. Nur ein Bruchteil davon ist zu schaffen, selbst mit viel Eile. Für den nächsten Spot braucht es etwas Fahrtzeit – und einiges an Geduld.

„Fuckparade – 25 Jahre Stadt von unten – Gegen Kommerzialisierung und Verdrängung von Subkulturen“

15.55 Uhr, Oberlandstraße, Tempelhof. Er ist schon von weitem zu hören, der Rave-Umzug mit aktivistischem Anstrich, die Fuckparade. Entlang der Oberlandstraße blinken Polizeisirenen, Hundertschaften marschieren dem wummernden Bass entgegen. Langsam nähern sich die Wagen. Um sie herum bunt gefärbte Schöpfe, verschwitzte Oberkörper, eine grölende Menge. Die Sonne knallt, Schutz gibt es keinen. Es ist heiß. Überall riecht’s nach Gras und Billig-Wodka. Es ist nicht leicht, eine noch unpolitischere Veranstaltung in Berlin zu finden, und das will schon was heißen. „Klar, ich finde Gentrifizierung auch blöd, aber ich bin zum Feiern hier, zum Spaß haben“, sagt eine Besucherin mit tellergroßen Pupillen, pinker Mähne und ravertypischer Kleidung – Tanktop und Ballonhose. Namentlich will sie nicht genannt werden. Neben ihr ein Transparent, das vor Gentrifizierung warnt. 

Die Fuckparade: Die wohl unpolitischste politische Demo Berlins. Foto: F. Anthea Schaap

Das feierwütige Knäuel rollt Richtung Hermannplatz, einem Ort, der sich seit Jahren gegen strukturelle Veränderungen und Verdrängung wehrt. „Man kann sich drüber streiten, ob das hier wirklich etwas bewirkt, aber an sich ist das einfach eine moderne Protestform. Und wer weiß, vielleicht nehmen ein paar auch mehr mit als nur einen Kater“, sagt Malte, ebenfalls ein Besucher. Vielleicht. Er ist einer der wenigen, die eine differenzierte Meinung zur Fuckparade haben. Andere feiern den Rausch und die Musik. Sie tanzen, ekstatisch, aggressiv, stampfend, schwankend.

Dass die Leute berauscht sind, passt zur Veranstaltung. Die Fuckparade war ursprünglich eine Gegenbewegung zur Loveparade. Gegen Technokommerz, für eine progressive Stadtpolitik. Es sind nur wenige hundert Meter, die ich mitlaufe. Schweiß läuft über meine Stirn, die Beine schmerzen, Sauerstoff fehlt. Ich bin müde. Ohne Rausch bleiben die politischen Botschaften der Wagen zwar präsent, doch dafür lässt sich das Drumherum kaum ertragen. Zeit zu gehen, die nächste Demo wartet.

„#IchBinArmutsbetroffen“

17.20 Uhr. Gontardstraße 7, Mitte. Wirklich ruhiger ist es in der Gontardstraße 7, direkt am Fernsehturm, nicht. Touris hetzen vom Körperwelten-Museum zum nächsten Kleidergeschäft, Kinder brüllen, Hunde kläffen. Mittendrin hat sich eine Gruppe auf den Boden gesetzt, vor den fünf Leuten liegen Schilder, sie alle weisen auf den Hashtag #IchBinArmutsbetroffen hin. Harter Realismus in dieser aufpolierten Konsumhölle.

„Die meisten Menschen vergessen, dass Armut jeden treffen kann. Sie glauben, ich bin sicher, hab einen Job, mir passiert nichts. Das ist ein Fehler“, sagt Sabine Scheffer. Sie gehört zur Mieterpartei, einer Berliner Partei, die unter anderem gegen Mietsteigerungen und Verdrängung kämpft. „Gerade jetzt, in Zeiten explodierender Preise für Energie und Lebensmittel, darf das nicht passieren“, sagt Scheffer. „Statt aber Lösungen anzubieten, bekommen Armutsbetroffene Spartipps oder Kleckerbeträge. Manchmal heißt es auch, ‚selbst schuld‘, das kann’s doch nicht sein.” In Deutschland gilt für viele das Leistungsprinzip, wer sich anstrengt, wird belohnt, wer verliert, ist faul.

Wichtige Demo in Berlin: #ichbinarmutsbetroffen. Foto: tipBerlin

„Verrückt daran ist doch, dass Leistungsprinzip-Verfechter immer auf Individualismus gehen. Jeder kann es packen. Doch bei Armut werden Betroffene zur homogenen Masse“, sagt Mitdemonstrant Andreas. Er selbst kann krankheitsbedingt nicht mehr arbeiten, ist in Frührente. Für die Demo ist er aus Brandenburg angereist. Psychische Erkrankungen, körperliche Gebrechen, Pleiten, all sowas kann das Ende des Erwerbslebens einleiten. „Und im schlimmsten Fall rutscht man in die Armut.“ Das Fünfergespann sitzt in einem Kreis um ihre Transparente, stehen bleibt niemand. Ein Halbstarker stänkert auf Abstand. Was er sagt, geht im Alexanderplatzlärm unter. „Als wir um 16 Uhr ankamen, waren noch vereinzelt Leute interessiert. Ist wohl durch“, sagt Andreas. Gegen 18 Uhr packt die Gruppe zusammen „sonst macht die Polizei Stress“, sagt Sabine Scheffer. Abkühlen wird das Thema nicht.

„Volksentscheid bedingungsloses Grundeinkommen“

18.30 Uhr. Gneisenaustraße 63, Kreuzberg. Es ist das letzte Ziel, ich kann nicht mehr, zu viele Informationen, zu viele zurückgelegte Kilometer. Ein kleiner Tisch in einer ruhigen Straße mitten in Kreuzberg. Keine Kampfansagen, nur die Aufforderung, doch bitte zu unterschreiben. Es geht um ein Volksbegehren für eine Studie zum bedingungslosen Grundeinkommen. „Wir wollen gleiche Chancen für alle. Mit dem Grundeinkommen könnten die Menschen überlegen, was sie eigentlich machen wollen, vielleicht etwas Sinnstiftendes“, sagt Saskia Rosenmeyer, Organisationsmanagerin von Expedition Grundeinkommen, verrät sie und ihre Weste.

Unterschriftenaktion zum bedingungslosen Grundeinkommen: So richtig gestritten wird hier nicht. Foto: tipBerlin

Welche Konzepte es fürs Grundeinkommen gibt, weiß sie nicht – ebenso wenig ihr Kollege. „Trotzdem halten wir es für sinnvoll, sich das genauer anzuschauen. Grundsätzlich könnte das Grundeinkommen auch helfen, Stigmata abzubauen“, sagt Rosenmeyer. Sie spricht von einer Alternative zu ALG II. Eigentlich könnten wir diskutieren, doch ich bin zu erschöpft. Alle paar Minuten kommen Leute vorbei, stets in der gleichen Weste, und reichen Blöcke mit Unterschriften ein. Ihre Gespräche klingen wie ein Wettstreit: „Ich habe 50 Unterschriften geholt“, „bei mir waren‘s 83“, „ich hab 180“. Jede Zahl kommentiert Rosenmeyer mit einem „Sauber! Wir packen das“. Allmählich dämmert es. Die Dopamin-Schübe der Truppe greifen nicht auf mich über. Mir reicht’s, Feierabend. Mein Tag im Berliner Demo-Wahnsinn ist gelaufen.

Ein paar Tage später

Sofa. Mittlerweile ist – wenig überraschend – der Volksentscheid zum bedingungslosen Grundeinkommen gescheitert. Es fehlten mehr als 50.000 Unterschriften. Für die Beteiligten vielleicht ein Anlass, sich näher mit der Materie zu beschäftigen. Außerdem gibt es wieder ein Entlastungspaket vom Bund, in dem wieder Menschen mit geringem Einkommen nicht gut wegkommen. Aktivismus braucht Zeit, bis er wirkt. Im Nachhinein bereue ich meine Demo-Auswahl ein wenig. Es gab noch viel mehr zu entdecken: „Legalisierung von Elektrokleinstfahrzeugen (ohne Lenkstange)“, „Kein T4 in Korea“ und „Freiheit von Kindern“, letzteres Querdenker-Kram.

In den nächsten Tagen wird es mitunter sogar absurder. Allein der 14. September bietet Irrsinn im Quadrat: „Kein Krieg und keine Kriegshetze gegen Russland“, „Rückzahlung der wertbeständigen Goldmark für Reparationen vom Ersten Weltkrieg“, „Wir pfeifen auf Stuttgart 21“. Ja, es gibt viel zu tun.


Mehr zum Thema

Ja, in Berlin gibt es auch sehr gute Gründe für Streitigkeiten, etwa den Tram-Ausbau in Moabit. Und unser Autor Erik Heyer hat sich die marode Berliner Schule am Europasportpark angeschaut. Zuletzt wäre da noch der mögliche Kampf ums Trinkwasser wegen der langen Dürrephasen in Berlin. Was die Stadt noch ärgert, lest ihr in unserer Stadtleben-Rubrik.

Tip Berlin - Support your local Stadtmagazin