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Pionierin der Selbstbestimmung

Die Sex-Aktivistin Helga Goetze wird gewürdigt

Mit der Gründung der Helga-Goetze-Stiftung wird eine oft verspottete Aktivistin für freie Liebe nun neu bewertet – und gewürdigt

Helga Goetze war eine Aktivistin für die sexuelle Befreiung und vielen Berlinern ein Begriff, da sie seit 1983 fast täglich ein paar Stunden an der Gedächtniskirche und vor der Mensa der TU Berlin mit ihrem Slogan „Ficken ist Frieden stand. Foto: imago/Michael Hughes

Berlin, Breitscheidplatz, im Winter 2002. Am Geländer der Rollstuhlrampe, die zur Plattform vor der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche führt, lehnt eine alte Frau. Wie ein Schutzschild steht vor ihr ein Damenfahrrad, das mit seinem Gepäckkörbchen voller Flyer gleichzeitig eine Art Infothek zu sein scheint. Die Frau schaut den Passanten mal nach links, dann in rechter Richtung nach. Plötzlich entfährt es ihr laut: „Huiii, wichst euch einen!“ Fußgängern, die irritiert zu ihr blicken, ruft sie sofort etwas von „Schwanz zeigen“ und „ficken“ zu. Schnell hasten die meisten weiter. Eine Verrückte, die in dieser Szene des Doku-Kurzfilms „Sticken und ficken“ von Monika Anna Wojtyllo gezeigt wird? Oder eine Person mit Tourette-Syndrom, also einer Krankheit, die die Betroffenen nötigt, unwillkürlich obszöne Worte herauszuschleudern?

Stickbild von Helga Goetze, Foto: Helga Goetze Stiftung

Für die Boulevard-Presse war der Fall sonnenklar: Helga Goetze, so der Name der 1922 geborenen Dame, die unter anderem mit ihrer langjährigen „Ficken ist Frieden“-Mahnwache an der Gedächniskirche in die Stadtgeschichte Berlins eingegangen ist, sei „Deutschlands Supersau“. Denn für „Bild“ und Konsorten passte das Auftreten Goetzes nicht ins Konzept. Zwar ließen sich diese Zeitungen gerade damals keine Gelegenheiten entgehen, Frauen möglichst knapp bekleidet und in lüsternen Posen abzubilden. Menschen wie Helga Goetze jedoch waren im Zusammenhang mit Sexualität nicht vorgesehen: zu offensiv, zu selbstbestimmt, zu vulgär und natürlich – viel zu alt.

Als Mutter lange peinlich

So sahen das übrigens auch die sieben Kinder, die Helga Goetze als Ehefrau eines Bankangestellten in der ersten Hälfte ihres 85-jährigen Lebens geboren und in Norddeutschland groß gezogen hatte. „Meine Mutter war mir fürchterlich peinlich“, sagt Ulrich Goetze, ein Steuerberater. Nachdem Helga Goetze Ende der 1960er Jahre erst ihr sexuelles Erweckungserlebnis gehabt habe und sie knapp zehn Jahre später als Sex-Aktivistin nach Berlin gezogen sei, habe zwischen ihm und seiner Mutter „30 Jahre Funkstille“ geherrscht.

Dass nun ausgerechnet ihre Kinder, allen voran Ulrich Goetze, die Anfang Februar in der Stiftung Stadtmuseum erfolgte Gründung der Helga-Goetze-Stiftung vorangetrieben haben, ist einer späten Erkenntnis geschuldet. „Als unsere Mutter 2008 auf dem Alten St. Matthäus Friedhof in Schöneberg beerdigt wurde, waren wir von der Vielzahl der Trauergäste völlig überrascht“, sagt Ulrich Goetze. Doch auch das materielle Erbe Helga Goetzes entpuppte sich als eigenwillige Offenbarung: Unzählige Schriften, darunter vor allem Gedichte, sowie hunderte von Stickbildern, außerdem Zeichnungen und Gemälde machten deutlich, dass hinter Helga Goetzes Lebensgestaltung als Aktivistin nicht nur eine selbst entwickelte Philosophie stand, sondern sie auch über große künstlerische Kreativität verfügte. Besonders die Stickbilder, darunter Westen und Stirnbänder, die Goetze beispielsweise bei ihren Mahnwachen trug, sind nicht nur äußerst aufwendig gefertigt. Sie erinnern mit ihren expliziten, erotischen Motiven und dem naiven Stil an die Werke der Amerikanerin Dorothy Iannone, die zuletzt 2014 in der Berlinischen Galerie eine große Ausstellung hatte. Die Collection de L‘Art Brut in Lausanne hat sich jedenfalls einige Stickbilder Goetzes als Teil der ständigen Ausstellung gesichert.

Pionierin der Selbstbestimmung

Fast zwölf Jahre sind seit dem Tod von Helga Goetze vergangen. Was zu ihrer Lebzeit schräg, wenn nicht bizarr anmutete – ihre explizite Sprache und auch ihr Anspruch, als ungeschönte Frau und Alte ein Anrecht auf Liebe, Nacktheit und freie Sexualität zu haben – hat sich inzwischen eine neue Generation von Feministinnen zu eigen gemacht: Sex haben diese Frauen auch ohne feste Partnerschaften – teils sogar öffentlich in Clubs. Und dem Body- sowie Age-Shaming, also der Unfähigkeit, zu seinem natürlichen Körper oder dem tatsächlichen Alter zu stehen, wurde der Kampf angesagt: Sich mit sich wohl zu fühlen, soll keine Frage eines gut konsumierbaren Aussehens mehr sein.

Für die Stiftung Stadtmuseum ist Helga Goetze nicht nur eine „frühe Vertreterin der queeren Berliner Szene“. Ihr aus rund 600 Objekten bestehender Nachlass, darunter etwa 280 Stickbilder, wird auch als „wichtiger Baustein der Berliner Frauenemanzipation“ betrachtet, der „Einblicke in die Diversität der Berliner Subkultur“ ermögliche. Laut Ulrich Goetze, der zum Kuratorium der Helga-Goetze-Stiftung gehört, wird der Nachlass seiner Mutter nun zunächst von Fachleuten gesichtet und bewertet. Eine Ausstellung zur „primären Tabubrecherin“ Helga Goetze folgt dann hoffentlich bald.


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Rosa von Praunheim: „Rote Liebe“, Interview mit Helga Goetze, 1982

Monika Anna Wojtyllo: „Sticken und ficken“

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