Man kennt sie selten persönlich, doch irgendwie kennt sie jeder. Die Berliner Originale führen ein öffentliches Leben. Manche sind Legenden, andere längst vergessen. An dieser Stelle stellen wir fünf Berliner Originale vor, die das Leben in West-Berlin der 80er-Jahre aufmischten.
Ratten-Jenny
Die Ur-Punkerin gehört zu den sagenumwobenen Figuren der West-Berliner Subkultur der späten 1970er- und frühen 1980er-Jahre. Man sah sie bei Konzerten im SO36 in der ersten Reihe pogen, sie tauchte bei Demos auf und störte Polizeieinsätze bei Hausräumungen. Legendär ist ihre Auseinandersetzung mit dem Maler und kurzzeitigen SO36-Betreiber Martin Kippenberger, dem sie eine Bierflasche ins Gesicht drückte. Daraus entstand Kippenbergers berühmtes Bild „Dialog mit der Jugend“, das den Künstler mit bandagiertem Kopf zeigt. Auch heute ist Ratten-Jenny noch in Kreuzberg unterwegs. Von Jacek Slaski
Nachtigall von Ramersdorf
Zum Schluss war er für viele nur noch ein schräger Vogel. Friedrich Steinhauer machte kurzerhand jeden zu seinem Publikum, sang ungebeten, wo es ihm gefiel, auch schon mal im Kino. Dabei hat er auch mal erfreut als Sänger, in München, dessen Stadtteil Ramersdorf er seinen Künstlernamen entlieh, später in Berlin, wohin ihn Rosa von Praunheim lockte. In Cabarets und Filmen von Praunheim und Klaus Lemke sang der Hermaphrodit seine Lieder, viel Zarah Leander darunter. Immer Nebenrollen, ein Star wurde er nie. Irgendwann lief es gar nicht mehr, Absturz, Psychiatrie, er verlor sein Augenlicht. 2019 ist die Nachtigall ganz verstummt. Von Friedhelm Teicke
Sunshine
In seinem Buch „Subkultur Westberlin“ erinnert Wolfgang Müller an die berühmte Kreuzberger Punkerin. Als Dagmar Stanschke 1947 geboren, firmierte sie in den Punkjahren unter dem Spitznamen „Sunshine“. In Clubs wie dem SO36, Chaos und Shizzo gehörte die Einzelgängerin quasi zum Inventar, zum Ende ihres Lebens wurde sie zeitweilig obdachlos. Françoise Cactus von Stereo-Total ließ sie bei sich wohnen. Sunshine war immer noch unterwegs, etwa im queeren Möbel-Olfe am Kottbusser Tor. 2011 starb sie in Berlin. Von Jacek Slaski
Sendermann
Er trug Plakate so groß wie Fenstervorhänge auf den Schultern über den Kurfürstendamm. Mit Warnungen, Mahnungen, ein freundlicher Mann in kurzen Hosen. „Die Schweine in Bonn senden mit Elektroden direkt in Ihre Köpfe“ oder auch: „Abschirmdienst Spitzel Verbrecher sind mit Sendern an ihren Körpern“ (sic!). Nicht immer war so ganz klar, was der Sendermann meinte, aber er meinte es ernst, wenn er in den 70er- und 80er-Jahren mit seinen Tiraden gegen den Verfassungsschutz, die CIA oder die SPD auftauchte, auf der Straße oder auch in Teach-ins an der Uni. Manchmal sprühte er sie auch an Wände: „Bullen raus! aus dem Haus mit den Sendern“, ein Berliner Künstler hat daraus die „Sendermann-Serie“ gemacht. Irgendwann war der Sendermann verschwunden. Von Erik Heier
Helga Goetze
Wer zwischen 1983 und den frühen 2000er Jahren an der Gedächtniskirche in Charlottenburg vorbeikam, traute manchmal seinen Ohren nicht: „Ficken!“, schallte es von der Kirchenruine. Dem folgte oft irgendwas mit „wixen“ oder mit „Schwanz“. Es war Helga Goetze, eine ältere, auf den ersten Blick unscheinbare Frau, die hier fast täglich ein paar Stunden ihre „Ficken ist Frieden“-Mahnwache abhielt. Wer sich überwand und mit der spät berufenen Sex-Aktivistin ein paar Worte wechselte, stellte fest, dass sie nicht die Verrückte war, für die viele sie hielten. Helga Goetze, die 2008 verstarb, hatte ihre eigene Philosophie entwickelt, untermalt von einem umfangreichen Oeuvre an Gedichten und aufwendigen Stickbildern. Von Eva Apraku
Schräge Künstlertypen, exzentrische Obdachlose, windige Geschäftsleute.
Es gibt verschiedene Formen der Berliner Originale, doch sie alle gehören zu der Stadt dazu. Eine Liebeserklärung.
Gedichte von der Seele: Timo Dege gehört zum Kreuzköllner Inventar. Tagein, tagaus verkauft er seine Kleinstlyrik in der U-Bahn, ingesamt 240 Gedichte. Geschrieben hat er sie an einem einzigen Tag. Jeder kennt ihn. Doch wer ist er?
Nicht aus der Partyszene wegzudenken ist Komet Bernhard, der mit seinen 70 Jahren Schreiner, Performer und Berliner Party-Institution ist. Hier erklärt er, was für ihn Heimat bedeutet.