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Digitaler Aufbruch

Wie junge Hacker die Demokratie verteidigen

Nerdige Diskussionen und Hackathons waren gestern. Eine neue Generation von Netzaktivistinnen verlässt die Blase der Internet-Schickeria. Sie hegt einen großen Plan: in Zeiten von Konzernlobbyismus und Rechtsruck die Demokratie zu verteidigen

Open Knowledge Foundation Deutschland International Open Data Day 2014 Berlin

Das Haus, von dem aus junge IT-Nerds die Demokratie retten wollen, ist ein bisschen versteckt. Drumherum ragen Plattenbauten in den Himmel; fast unscheinbar wirkt es in der wuchtigen Umgebung. Früher einmal befand sich zwischen seinen Mauern eine kleine Fabrik. Heute ist in dem Backsteinbau nahe des Ostbahnhofs das Recherchebüro „Correctiv“ angesiedelt, außerdem ein Hostel – und die Schaltzentrale einer neuen Generation von Hackern, die eine ehrgeizige Mission verfolgt. Einer ihrer Köpfe ist Stefan Wehrmeyer. Im Konferenzraum nippt der 31-jährige Informatiker, ein jungenhafter Typ mit schwarzem Kapuzenpulli, an einer Club-Mate-Flasche. Ein Accessoire, das an Parteitage der mittlerweile untergegangenen Piratenpartei – dabei haben Wehrmeyer und seine Mitstreiterinnen wenig mit musealen Erscheinungen des Netzaktivismus zu tun. Zu erwachsen ist ihr Programm.

Die Aktivistinnen bilden den deutschen Ableger der Open Knowledge Foundation. Sie wollen Normalos politisieren. Das Ziel: dass diese sich in mündige Bürger verwandeln, die die Zukunft eines zerrissenen Lands gestalten. Dass sie reflektieren, mitbestimmen, gar zur vierten Gewalt werden: zu Kontrolleurinnen der Reichen und Mächtigen.

„Wir stellen ihnen die Werkzeuge zur Verfügung“, sagt Wehrmeyer. „Das ist unsere Art des Empowerments.“ Die Instrumente, das sind Open-Source-Portale und virtuelle Mitmach-Projekte – Agoras wie im antiken Griechenland, erbaut im Internet, von den Programmiererinnen der „Open Knowledge Foundation“. Über das Portal „fragdenstaat“ können Max Mustermann und -frau leichthändig um Akteneinsicht in Behörden ersuchen – und damit vielleicht Filz und Vetternwirtschft aufdecken. Und im Rahmen des Programms „Code for Germany“ können Berliner Menschen zu Umweltretterinnen werden, zum Beispiel im „Wasserkiez“. Kneipen, Bars und Cafés im Kreuzberger Mariannenviertel offerieren Leitungswasser statt „Volvic“ und „Evian“, zumindest die Avantgarde unter ihnen. Auf einer interaktiven Karte werden die Pionierinnen angezeigt, die Müllgebirge aus Plastikflaschen verhindern wollen. „Civic Hacking“ nennen die Macherinnen solche Angebote. Ein Trend, der für einen Wandel steht.

Open Knowledge Foundation, Foto: Stephanie von Becker

Früher waren die Netzaktivistinnen selbst die Blickfänge im öffentlichen Radar. Wie beispielsweise Daniel Domscheit-Berg, der frühere Buddy von Wikileaks-Rebell Julian Assange. Eine Gegenkultur aus den Salons der digitalen Bohème. Ihre Heldinnen eroberten Podien, die Feuilletons, sogar die Hauptnachrichten.

Die Aktivistinnen von heute sind keine Rockstars mehr. Sie verstehen sich als Bildungsbeauftrage und Bürgervertreterinnen. Mit ihren Mitmach-Modellen wollen sie die Mitte der Gesellschaft erreichen.

Denn Netzpolitik ist längst nicht mehr ein Nischenthema, das bloß Besucherinnen von Szene-Treffen wie dem jährlichen Chaos Communication Congress antörnt. Es geht auch nicht mehr allein um innere Angelegenheiten des World Wide Web – etwa den Kampf gegen die Kraken eines Big-Brother-Staats, der Schnüffelparagrafen anwendet, wie zuletzt bei den Ermittlungen gegen die Aktivistinnen vom Zentrum für Politische Schönheit, die eine kriminelle Vereinigung gebildet haben sollen. Eine Carte Blanche für die Ermittler, die privaten Rechner von Philipp Ruch & Co. mit Trojanern zu verwanzen.

Die uralte Idee der Demokratie bröckelt

Die neuen Netzaktivistinnen verlassen angestammtes Terrain, ihre Matrix aus binären Codes. Sie betreten die politische Arena – und erklären sich zu Jakobinerinnen des 21. Jahrhunderts.

Berlin ist Schlagader dieser Bewegung, mit Gruppen wie der Open Knowledge Foundation, aber auch mit Vereinen wie der Digitalen Gesellschaft mit Sitz in Kreuzberg, die Wissen frei zugänglich machen will. Die Baustelle, die sie eint: mithilfe des Netzes so etwas wie Bastionen der Demokratie zu errichten.

Denn vor unseren Augen bröckelt die Idee von Freiheit, Gleichheit und Geschwisterlichkeit: Da sind große Unternehmen, die Ottonormalverbraucherinnen übers Ohr hauen – der VW-Konzern mit manipulierten Diesel-Autos, die Deutsche Bank mit Cum-Ex-Geschäften. Zudem verfinstert sich der politische Horizont: Nach den Europawahlen Ende Mai könnte ein Block aus AfD, Lega Nord, Marine Le Pens Rassemblement International und anderen autoritären Parteien zur zweitgrößten Fraktion im Straßburger Parlament heranwachsen. Rechte Claqeurinnen instrumentalisieren unterdessen Facebook, Twitter & Co. für ihre Zwecke. Und laden ihren Hass ab. Ob völkische Hetzerinnen aus Fleisch und Blut oder virtuelle Bot-Armeen, die in Glaubenskriege entsandt worden sind. Über dieser Szenerie schwebt eine drängende Frage: Wie kann Vernunft einkehren? Der Königsweg wäre: die Menschen für das Abenteuer der Demokratie zu begeistern. Für David-gegen-Goliath-Kämpfe auf globaler Bühne oder für Graswurzel-Engagement vor der eigenen Haustür. Das Netz könnte dabei helfen. Die Internet-Intelligenzija bejubelt diese Entwicklung – beispielsweise Markus Beckedahl, Chefredakteur von netzpolitik.org, dem Leitmedium für netzpolitische Debatten, das in Prenzlauer Berg zu Hause ist. Er sagt: „Gemeinwohl ist das Top-Thema der Netzwelt.“

Die zentrale Herausforderung sei: Wie kann das Internet zivilgesellschaftliches Engagement hervorbringen? Das spannendste Projekt der Open Knowledge Foundation: das besagte Portal „fragdenstaat“. Dort verwandeln sich Durchschnittsdeutsche in Investigativ-Rechercheurinnen – vereint in einem großen Schwarm, der Flügel verleiht. Sie setzen Behörden unter Druck, damit sie Akten offenlegen, die politischen Sprengstoff bergen könnten – ermächtigt vom Informationsfreiheitsgesetz. Die jüngste Erkenntnis: die Publikation eines Gutachtens des Bundesinstituts für Risikobewertung zu den Gefahren von Glyphosat, jener Chemikalie, die Groß-Agrarier über Felder streuen und die Krebs erregen könnte. Nachdem die Behörde die Schränke geöffnet hatte, kam heraus: In ihrem Gutachten wurde eine Studie ­zitiert, die das Krebsrisiko in Zweifel zieht. Sie ist ein Spiegel der PR-Rhetorik der Chemie-Industrie. Die Bundesbehörde und „fragdenstaat“ sind seither in einen Rechtsstreit um die Verbreitung des Materials verwickelt.

Auch die diesjährige re:publica, wo Visionärinnen ihre Thesen präsentieren, setzt auf Bürgerinnensinn. Der Ort dafür ist das Netzfest, eine Meile unter freiem Himmel, die sich über den Park am Gleisdreieck und die Ladestraße am Museum für Technik erstreckt. Menschen von nebenan sollen dort für die digitale Zukunft gewappnet werden, ob Schülerinnen aus Zehlendorf, Punks aus Kreuzberg, Wilmersdorfer Rentnerpärchen. Die Besucherinnen erfahren von Netz-Guerrilleros, wie man Krypto-Software installiert und Mails verschlüsseln kann. Auf Panels wird Sinn und Unsinn der neuen Datenschutzgrundverordnung erörtert – und die Frage, warum die Privatsphäre eine Essenz unseres Wertesystems ist. Ebenso wird Futurismus aufs Festgelände getragen, wenn Laien in einem Workshop einen Roboter programmieren dürfen. Einer der Mitorganisatoren des Open-Air-Spektakels ist Johnny Haeusler, einst Mitgründer der re:publica, heute die graue Eminenz des Netzaktivismus. Er postuliert: „Es geht darum, die Debatten rund um das digitale Leben aus dem akademischen Umfeld herauszuholen.“

Wer erleben will, wie mittlerweile selbst die härtesten Techies die Massen erweichen wollen, muss die erste Etage eines neoklassizistischen Geschäftshauses am Landwehrkanal in Kreuzberg aufsuchen. Und zwar montagabends: Dann steigt in einem Loft, wo tagsüber die Mitarbeiterinnen der Deutschland-Zentrale des Online-Lexikons „Wikipedia“ ihren Dienst verrichten,die „Hacknight“. Die Elite der IT-Geeks laboriert dabei an ihren Ideen. Klingt nach Konspiration, dem Handlungsstrang eines Cyber-Thrillers – ein Klischee, das spätestens zerfällt, wenn Johannes Filter, ein 28-jähriger Computerwissenschaftler,in jovialem Ton über eine neue Ära der Bürgergesellschaft redet. Eine Epoche, die in Berlin eingeläutet werden soll. Der Türöffner soll der Volksentscheid zum Transparenzgesetz sein, den die Open Knowledge Foundation und der Mehr Demokratie e.V. anbahnen. Gefordert wird eine gläserne Verwaltung: In einem Online-Register sollen die Einwohner kostenlos in die Heiligtümer des Senats blicken dürfen – zum Beispiel in Verträge der öffentlichen Hand mit Unternehmen oder in Bebauungspläne oder Liegenschaftskarten. Lokalpolitikerinnen würden damit ihr Herrschaftswissen verlieren. Ehrliche Debatten wären die Folge. Etwa über die Frage, wem Berlin gehört. Den Investorinnen oder den Einwohnerinnen?

Johannes Filter, der am Hasso-Plattner-Institut in Potsdam studiert hat, ist so etwas wie die IT-Koryphäe der Kampagne. Mit einer App will er die Initiative pushen –Unterschriftensammlerinnen sollen mit Sympathisantinnen des Begehrens zusammengebracht werden. Auf einer Karte finden sich Standorte, wo beide Seiten einander begegnen können, um die Unterstützerinnen-Liste zu vergrößern. Sein ehrenamtliches Programmier-Projekt: ein Sinnbild, wie gut sich die digitale Avantgarde mit Basisdemokratinnen alter Schule versteht.

Dieser Crossover macht Berlin zum Versuchslabor – einer Stadt, in der das Internet sein Freiheitsversprechen einlösen könnte.Längst folgen Netzaktivist*innen aus dem Silicon Valley dem Fixstern des Utopias an der Spree. So wie Jillian York, die vor ein paar Jahren aus Kalifornien hierhin ausgewandert ist – eine Schlüsselfigur der Electronic Frontier Foundation, eines Kollektivs, das weltweit darum kämpft, dass Soziale Medien wie Facebook & Co. offene Diskussionsräume bleiben. Nicht nur in der westlichen Welt, wo eine nackte Brust mehr Löschtrupps alarmiert als die Hate Speech von Neonazis, auch in arabischen Gottesstaaten oder in Autokratien wie China.

Vom Way of Life im Sonnenstaat der Mark Zuckerbergs und Sergey Brins hatte Jillian York genug. Vor allem die Blase der Konzern-Apparatschiks, deren Dasein zwischen überteuerten Wohnungen und abgeschirmten Firmen-Komplexen in Palo Alto, hatte Yorks Traum von der digitalen Revolution getrübt. Sie selbst konnte sich irgendwann die Miete nicht mehr leisten. Über den Freigeist in ihrem Berliner Exil sagt sie: „Hier gibt es eine Community, die nirgendwo sonst auf der Welt existiert. Leute von NGOs, unabhängige Hacker und Programmierer, Journalisten – und wenige Menschen, die Unternehmen verpflichtet sind.“

Von der Hauptstadt aus erhebt sie jetzt ihre Stimme für Menschen, die in Erdteilen leben, wo der Ruf nach Demokratie nicht so leicht von der Lippe geht, als niedergelassene Direktorin für Meinungsfreiheit der „Electronic Frontier Foundation“.

Ihre Umtriebe sollten anderen Berlinern die Augen öffnen –für das Glück, an einem Ort zu leben, wo niemand Folter oder die Todesstrafe fürchten muss. Weshalb auch nichts dagegen spricht, mehr Demokratie zu wagen.

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