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Ausnahmezustand

Ein Jahr seit dem ersten Lockdown: Wie geht es Berlins Psyche?

Vor einem Jahr musste die Stadt in den ersten Lockdown. Was hat der Corona-Ausnahmezustand seither mit der Psyche der Menschen gemacht? Eine Erkundung mit Expert*innen: Wie es Berlin geht, haben wir den Psychiater Jakob Hein, die Psychotherapeutin Naana Lorbeer, den Psychiater Mazda Adli, die Trauerbegleiterin Sarah Benz, Psychologieprofessor Peter Walschburger und den Buddhisten Alexander Berzin. Sie berichten aus einem denkwürdigen Jahr und vom Zustand der Psyche Berlins ein Jahr nach dem ersten Lockdown.

Texte: Erik Heier, Julia Lorenz und Philipp Wurm


Ein Jahr seit dem ersten Lockdown: Der Kinder- und Jugendpsychiater Jakob Hein hat keine einfachen Antworten

Ein Kind mit Alltagsmaske: Graffito in Berlin, entstanden nach dem ersten Lockdown in der Coronavirus-Pandemie. Foto: Imago/Steinach
Ein Kind mit Alltagsmaske: Graffito in Berlin, entstanden nach dem ersten Lockdown in der Coronavirus-Pandemie. Foto: Imago/Steinach

Ist Jakob Hein eigentlich auch gerade, wie die halbe Stadt, im Home-Office? Er lacht kurz: „Ja klar, ist ja auch gar nichts los hier!“ Dann sagt er: „Ernsthaft, ich könnte auch Samstag und Sonntag durcharbeiten. Mach ich aber nicht.“

Ihn kennen die meisten als Schriftsteller und langjähriges Mitglied der Reformbühne Heim & Welt, einer Leseveranstaltung mit prominenten Literaten. Hauptberuflich ist er niedergelassener Arzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie am Heinrich-Heine-Platz. Wir erreichen ihn in einer Pause am Telefon. Er hat nur ein paar Minuten Zeit.

Herr Hein, im März 2020 ging Berlin erstmals in den Lockdown. Wie geht es der Psyche der Stadt jetzt? „Nicht besonders gut. War ja auch nicht zu erwarten“, sagt er. „Das Virus ist nicht gerade für gute Laune zuständig.“

Die Pandemie ist das Brennglas

Es war ausgerechnet ein Freitag, der 13., als aus dem befürchteten Szenario Gewissheit wurde. Am 13. März 2020 meldeten die Agenturen: Berlin stehe vor dem Shutdown. Clubs, Bars und Kneipen sollten Mitte der kommenden Woche schließen. Schulen und Kitas ebenfalls. Kinos und Theater auch. Einen Tag später, am Sonnabend, 14. März, verabschiedete der Senat die „SARS-CoV-2-Infektionsschutzmaßnahmenverordnung“.

Ab 17. März 2020 machte die Stadt dicht.

Mit Blick auf die jüngere Bevölkerung sagt Hein: „Die Pandemie ist das Brennglas. Da kann man sehen, wie schwer die Situation allgemein für viele ist.“ Arme Kinder bräuchten beispielsweise viel mehr Unterstützung.

„Ich glaube nicht, dass die Krise traumatischer für die Kinder
als die Eltern ist, weil sie alle gemeinsam betrifft“

Eine viel zitierte neue Studie aus Hamburg besagt, dass bei Kindern zwischen drei und 17 Jahren in der Corona-Krise jeder Dritte psychische Auffälligkeiten zeigen würde, vor der Krise war es jeder Fünfte. Hein sagt: „Ich glaube nicht, dass es traumatischer für die Kinder als die Eltern ist, weil es alle gemeinsam betrifft.“

Raubt das Homeschooling Eltern und Kindern den letzten Nerv? „Manche Schüler*innen kommen überhaupt nicht gut klar mit Online-Learning. Für die ist es super, dass die Schulen die Notbetreuung haben. Meine eher autistisch veranlagten Patienten mögen dagegen, dass sie raus sind aus dem Schullärm.“

Deutlicher werde jetzt dagegen die Frage nach den sozialen Aspekten von Schule aufgeworfen: „Warum wurde in den letzten 30 Jahren in den Schulen nichts dafür getan, dass Menschen auch sozial voneinander lernen können? Sondern erst jetzt, wo klar ist, dass das E-Learning allein dafür nicht reicht?“

Jakob Hein bei einer Talkshow im September 2020. Foto: Imago/Stefan Schmidbauer

Im vergangenen Spätsommer hat Hein sein erstes Buch über seinen Arztberuf vorgelegt: „Hypochonder leben länger – und andere gute Nachrichten aus meiner psychiatrischen Praxis“. Da baute sich gerade allmählich die zweite Welle auf – nach einem sorglosen Sommer mit teils einstelligen Corona-Infektionszahlen. Er konnte noch zwei Lesungen machen, so richtig mit Publikum, aber mit Abstand. Eine in Berlin, eine in Erfurt. Dann war es schon wieder vorbei.

Interessant an der Pandemie findet Hein den „Public-Health-Effekt“: Wie es gelingen könne, die Bevölkerung bei Schutzmaßnahmen mitzunehmen? Bei den Mund-Nasenschutz-Masken sei dies doch gelungen. „Wenn wir das beibehalten könnten, bei Erkältungen jetzt immer Masken zu tragen, sich die Hände zu waschen!“

Dann muss Jakob Hein zurück an die Arbeit. Die Pause war kurz. Es gibt viel zu tun.


Naana Lorbeer vom Krisendienst beobachtet die Erschöpfung vieler Menschen ein Jahr nach dem ersten Lockdown

Ein Jahr nach dem ersten Lockdown stellt eine Mitarbeiterin des Berliner Krisendienstes fest: "Die Leute können einfach nicht mehr". Foto: Imago/Steinach
Ein Jahr nach dem ersten Lockdown stellt eine Mitarbeiterin des Berliner Krisendienstes fest: „Die Leute können einfach nicht mehr“. Foto: Imago/Steinach

Der Berliner Krisendienst ist eine niedrigschwellige Anlaufstelle für Menschen in psychosoziale Krisen bis hin zu akuten seelischen und psychiatrischen Notsituationen. Er berät telefonisch, aber auch vor Ort, und ist rund um die Uhr erreichbar. Naana Lorbeer, Sozialpädagogin und systemische Therapeutin, ist eine der Berater*innen.

Schon im ersten Lockdown vor einem Jahr, erzählt sie, seien die Anfragen mehr geworden. „Ich erinnere mich an einen Tagesdienst vom Anfang des ersten Lockdowns, da war ich hinterher wirklich am Ende.” Im zweiten Lockdown sei aber alles noch schlimmer: „Die Leute können einfach nicht mehr.” 1999 begründet, unterhält der Dienst neun Standorte in der Stadt, die täglich von 16 bis 24 Uhr geöffnet sind. 2019 gab es rund 70.000 Kontakte. Im ersten Corona-Jahr 2020 kamen weitere 5.000 Kontakte hinzu.

Naana Lorbeer, Sozialpädagogin und systemische Therapeutin, stellt fest, dass in der Corona-Krise viele Menschen erstmalig psychisch erkranken. Foto: privat
Naana Lorbeer, Sozialpädagogin und systemische Therapeutin, stellt fest, dass in der Corona-Krise viele Menschen erstmalig psychisch erkranken. Foto: privat

Naana Lorbeer spricht von Erschöpfungssyndromen, von gesellschaftlichen Rissen, von existierenden Problemen, die die Pandemie noch verstärkt habe. Auffällig sei, dass Menschen, die bisher keine Hilfe brauchten, jetzt auch kämen. „Leute, die erstmalig an einer Depression erkranken, erstmalig Ängste entwickeln. Oder aber sie wieder entwickeln.” Komplexe Problemlagen.

Wie zum Beispiel die Mutter, die unter Depressionen leidet und normalerweise ein paar Stunden zur Selbstregulierung hat, wenn das Kind in der Kita oder der Schule ist. „Jetzt aber ist das Kind die ganze Zeit zuhause und die junge Frau sagt: Ich kann nicht mehr, ich schaffe das nicht mehr.”

Welches Problem hat Priorität?

Oft beginne die Arbeit mit dem Sortieren von Problemfeldern. „Wir priorisieren: Was liegt ganz oben drauf?“, sagt Naana Lorbeer.

Das seien dann vielleicht nicht Probleme im Job, sondern Partnerschaftskonflikte, die Depression. „Diese Überflutung mit Problemen, jetzt Corona noch dazu, das macht mit allen Menschen was.“ Immer wieder gelte es dann herauszufinden, ob es sich in einem Beratungsgespräch um eine zu besprechende aktuelle Erschöpfung oder um ein tiefer liegendes psychisches, soziales oder sogar psychiatrisches Problem handelt.

Der Krisendienst bietet nicht nur Gesprächsangebote zur akuten Entlastung, sondern auch Folgetermine an. Manchmal braucht es aber auch eine Psychotherapie.

Die Leistungsansprüche sind so stark, dass die Menschen ihre Krise lange nicht wahrnehmen

Es war schon vor der Pandemie so, dass Menschen zur Beratung kamen, denen alles zu viel und die Anforderungen des Alltags übergroß geworden waren. Vielleicht sei es auch eine Folge der Arbeitsbedingungen, mutmaßt Naana Lorbeer: „Dass die Leute Angst haben, aus dem System herauszufallen. Dass sie funktionieren wollen. Diese Leistungsansprüche sind so stark, dass die Menschen ihre Krise lange nicht wahrnehmen.“ Und Naana Lorbeer sagt: „Die Leute waren vielleicht schon vorher stark überfordert. Dann sind sie früher in den Urlaub gefahren, in die Sauna gegangen. Das geht jetzt alles nicht. Und dann können sie einfach nicht mehr.“


Mazda Adli, der Fachmann für Neurourbanistik, sieht ein Jahr nach dem ersten Lockdown mehr Stadtstress

Ein Jahr nach dem ersten Lockdown: Mazda Adli ist Psychiater Forscher. Sein Fachgebiet: die Neurourbanistik, in die Erkenntnisse aus Psychologie, Soziologie und Stadtforschung einfließen. Foto: www.mazda-adli.de
Mazda Adli ist Psychiater und Forscher. Sein Fachgebiet: die Neurourbanistik, in die Erkenntnisse aus Psychologie, Soziologie und Stadtforschung einfließen. Foto: www.mazda-adli.de

Von seinem Behandlungszimmer in der vierten Etage blickt Mazda Adli auf Berlin. „Der Gendarmenmarkt liegt vor mir und wirkt wie eine Wunde, die die Pandemie in die Stadt geschlagen hat“, sagt der 51-jährige Chefarzt. Leer und grau ist es an diesem zentralen Ort in Mitte, dessen Blickfang der speckige Deutsche Dom ist. Das Leben, das dort einst erblühte, ist ausgetrocknet.

Mazda Adli, ein arrivierter Psychiater, leitet die dortige Fliedner Klinik Berlin, eine private Tagesklinik für psychische Leiden, gegründet im Jahr 2000. Zudem untersucht Adli das moderne Leben in Ballungsräumen. Dafür hat er ein neues Forschungsgebiet geprägt, die Neurourbanistik. Ein Zusammenspiel, das Expertise unter anderem aus der Psychologie, der Soziologie und der Stadtforschung verbindet. Vor einigen Jahren hat Adli, der auch eine Professur an der Charité innehat, das Buch „Stress and the City“ veröffentlicht.

Lonely hearts und das Leben auf begrenztem Raum

Über den Ballast im Schlepptau von Covid-19 sagt er: „Der Stadtstress ist deutlich gestiegen.“ Er spricht von „vielen Problemen, die mit Einsamkeit zu tun haben“ – in einer Stadt der lonely hearts, wo der Anteil der Single-Haushalte höher als 50 Prozent ist. Und Adli verortet eine weitere Quelle für Frust: „Die Städter*innen verbringen ihr Leben im begrenzten Raum – in der Pandemie sind es die eigenen vier Wände ihrer Wohnungen.”

Aus der Ferne empfiehlt er: „Man sollte sich immer wieder klarmachen, dass wir der Pandemie nicht hilflos ausgesetzt sind. Jede*r Einzelne trägt dazu bei, dass das Virus zurückgedrängt wird. Indem wir etwa die AHA-Regeln befolgen.“ So könnten wir der schwierigen Situation einen Sinn geben, sagt Adli. Er rät außerdem, „den zwischenmenschlichen Kontakt zu intensivieren“, gerade jetzt. Übers Handy und Soziale Medien, auf Spaziergängen. „Wir sind soziale Wesen.“

Ein Jahr nach dem ersten Lockdown stehen Aufräumarbeiten im Bergwerk der Seele an

Das Zukunftsbild, das er entfaltet: viele Aufräumarbeiten im Bergwerk der Seele. „Die psychischen Folgen der Corona-Krise werden uns noch über Jahre beschäftigen.“

Viele Menschen seien zurzeit noch im Durchhaltemodus. Aber die Krankenkassen sprächen bereits heute von einer Zunahme an Fehltagen aufgrund psychischer Belastungen durch die Pandemie. „Wie groß das tatsächliche Ausmaß psychischer Probleme in der Bevölkerung sein wird, werden wir jedoch erst retrospektiv einzuschätzen wissen. Diese verzögerte Wirkung zeigt sich auch in der Forschung zu den psychischen Folgen nach historischen Krisen.“

Adli fordert daher deutlich mehr Kapazität für psychiatrische und psychotherapeutische Behandlung. Das bedeutet vor allem mehr Personal. „Wir werden dem bereits jetzt steigenden Bedarf überhaupt nicht mehr gerecht werden.“ Und er plädiert dafür, dass Aufklärung über psychische Gesundheit auf die Lehrpläne an weiterführenden Schulen kommt. „Der seelischen Gesundheit sollten wir dieselbe Bedeutung geben wie dem täglichen Zähneputzen.“


Sarah Benz, Bestatterin und Trauerbegleiterin, ermöglicht Abschiede

„Ich habe auch schon Abschiednahmen am Telefon abgehalten“, sagt Sarah Benz. Foto: Mali Lazell

Wenn Sarah Benz, 34, fremden Menschen erzählt, dass sie mit Toten arbeitet, schaue sie oft in irritierte Gesichter. Sie sei also Trauerredenschreiberin? Auf die Idee, dass eine junge, in leuchtendes Grün gekleidete Frau die Verstorbenen wirklich unter die Erde bringt, kommen die wenigsten. Benz ist Bestatterin, Trauerbegleiterin und betreibt das Videoprojekt „Sarggeschichten“, mit dem sie den Menschen die Themen Sterben, Tod und Trauer näherbringen will.

„Wir wollen Menschen Mut machen, alles selbstbestimmt zu gestalten, wenn der Tod ins Leben tritt – und dazu muss man wissen was alles geht“, sagt Benz. „Wir bieten den Zugehörigen an, ganz viel selbst zu machen, wenn sie das möchten: ihre Verstorbenen zu waschen, sie anzuziehen und in den Sarg zu legen. Um wirklich zu spüren, was da passiert ist.“

Ohnmacht ist eines der am schwersten erträglichen Gefühle

In der Pandemie ist eben diese Unmittelbarkeit oft nicht möglich. Trauer sei nicht messbar, und es sei auch nicht generell schlimmer, eine Person an Covid-19 oder an Krebs zu verlieren. Was aber neu wäre in der Pandemie-Situation, sagt Benz, sei die Art, wie Menschen sterben, die an Corona erkrankt sind – nämlich isoliert, entweder ganz allein oder mit nur einer Person, die zu ihnen darf. Als Zugehörige*r sei man da oft handlungsunfähig. Und Ohnmacht sei für Menschen eines der am schwersten erträglichen Gefühle.

„Ich habe auch schon Abschiednahmen am Telefon abgehalten“, sagt Benz, „damit die Zugehörigen ihren Toten wenigstens noch einmal durchs Handy sehen konnten.“ Gemeinsames Essen nach der Beerdigung könne man ja auch über Zoom verabreden, eine Kerze ins Fenster stellen, Karten schreiben. Irgendwas zu schaffen, was Menschen verbindet. Das sei wichtig für Trauernde.

Gibt es eine kollektive Trauer in der Gesellschaft durch Corona? „Einerseits machen die hohen Zahlen einen betroffen“, sagt Benz, „andererseits betäuben sie einen, weil niemand die tausenden Toten emotional fassen kann.“ Der Tod rücke damit zugleich näher an uns heran – und weiter von uns weg, je nachdem, ob er uns persönlich betrifft.

Benz sagt, vielleicht könne die Pandemie eine Chance sein, darüber nachzudenken, wie wir uns eigentlich von unseren Verstorbenen verabschieden wollen und welche Nähe zu ihnen wir dafür brauchen. Und was uns wichtig ist für den Prozess des Sterbens: „Das würde ich mir wünschen.“


Peter Walschburger macht sich einen Reim auf Verschwörungsmythen

Schild auf einer Corona-Leugner*innen-Demo 2020. Peter Walschburger untersucht, warum Menschen für Verschwörungsmythen anfällig sind. Foto: Imago/Ralph Peters
Schild auf einer Corona-Leugner*innen-Demo 2020. Peter Walschburger untersucht, warum Menschen für Verschwörungsmythen anfällig sind. Foto: Imago/Ralph Peters

Die Pandemie dauerte noch keine drei Monate, da schienen viele den Verstand verloren zu haben. Corona-Leugner*innen schafften den Stunt, die Bilder aus Bergamo zu kennen – und die Gefahr der Pandemie trotzdem herunterzuspielen. Im ersten Lockdown und der Zeit danach erlebte die Szene regen Zuwachs – Bilder von einer der zahlreichen Corona-Demos sind hier zu sehen. Wie lässt sich dieser Realitätsverlust erklären?

Peter Walschburger, Professor für Psychologie mit Schwerpunkt Biopsychologische Anthropologie, bezeichnet die kruden Ideen von Hildmann und Gefolge lieber als Verschwörungsmythen denn als -theorien – und sieht sie in einer Tradition. In der Frühzeit seien die Menschen nicht in der Lage gewesen, zu erkennen, dass etwa hinter Wetterphänomenen eine natürliche Erscheinung steckt. Also hätten die Menschen sich entlastet, indem sie sich einen Gott ausgedacht haben, der Blitze schleudert.

„Das ist heute noch ein Grundmuster: Man denaturiert ein schwer durchschaubares naturwissenschaftliches Schadensereignis und sucht nach Verdächtigen“, sagt Walschburger.

Das Gehirn stemmt sich dem Zufall entgegen

Das beruhigt – denn Zusammenhänge sind in unserer komplexen Welt oft schwer zu erkennen. Niemand weiß genau, wie wahrscheinlich es ist, sich mit Covid-19 zu infizieren. „Das Ganze ist – trotz hoher Infektionszahlen – nicht sehr wahrscheinlich, zumindest für viele“, sagt Walschburger. Gleichzeitig stehe viel auf dem Spiel: Gerade für Risikopatienten ist die Gefahr groß, dass mit einer Infektion das Leben in seiner bisherigen Form endet. Unwahrscheinliche Infektion, schlimmer Ausgang im Infektionsfall: Dafür sei unser Gehirn nicht gemacht.

„Wir Menschen haben unseren Verstand so entwickelt, dass er sich dem Zufall entgegenstemmt, um ihn zu benutzen. Menschen wollen eine Systematik in allem erkennen.“ Auch deshalb ist es so verführerisch, Sündenböcke wie Bill Gates zu finden.

Menschen wollen in einer Welt leben, die sich ihren eigenen Wünschen fügt

„Frust wird personalisiert, weil wir soziale Wesen sind“, sagt Walschburger. „Menschen wollen in einer Welt leben, die sich ihren eigenen Wünschen fügt – besonders im individualisierten Westen.“ Werde der Frust zu groß, könne der Wunsch nach Autonomie schon mal die soziale Verantwortung zurückdrängen – und Menschen auf einen Egotrip schicken. Vor allem in einer Großstadt wie Berlin. Dort nämlich treffen besonders viele Menschen mit unterschiedlichen Bedürfnissen aufeinander.

„Wenn jemand auf einem einsamen Waldweg hinfällt, wird ihm von einem Spaziergänger mit höherer Wahrscheinlichkeit geholfen als in der Großstadt“, sagt Walschberger. Man bezeichnet das als den „Bystander-Effekt“: Je mehr Zuschauer*innen anwesend sind, desto weniger sind Menschen bereit, zu helfen und solidarisch zu sein. Auch und gerade in einer historischen Krise.


Alexander Berzin, Berlins bekanntester Buddhist, will die Blicke weiten

Alexander Berzin arbeitet an einem großen Buddhismus-Archiv. Mit ihm sprachen wir über Berlins Psyche ein Jahr nach dem ersten Lockdown. Foto: Yorkjohns/Wikimedia/CC BY-SA 4.0
Alexander Berzin arbeitet an einem großen Buddhismus-Archiv. Mit ihm sprachen wir über Berlins Psyche ein Jahr nach dem ersten Lockdown. Foto: Yorkjohns/Wikimedia/CC BY-SA 4.0

Ein Lebenskünstler, der die innere Ruhe sucht, ist Alexander Berzin. Seit mehr als 50 Jahren meditiert der Mann, den man als Berlins einflussreichsten Buddhisten bezeichnen könnte. Der Exil-Amerikaner, 76, wuchs in New Jersey auf, hat sich während des Studiums mit Buddhismus beschäftigt, in Harvard promoviert – und fast drei Jahrzehnte in Indien gelebt, wo ihm Geistliche die Weisheit dieser fernöstlichen Philosophie vermittelten, auch der Dalai Lama.

Trotz der Corona-Krise ist er entspannt: „Ich empfinde überhaupt keinen Stress. Wenn ich abends einschlafe, kann ich es kaum erwarten, am anderen Tag wieder aufzustehen.“ Berzin, der seit 22 Jahren in Berlin wohnt, genau genommen im Bergmannkiez, hat den Buddhismus verinnerlicht.

Sein Tagewerk: Er archiviert das uralte Wissen über die heilende Wirkung von Mantras, die Vier Edlen Weisheiten und das Nirwana in einem Online-Projekt namens „Study Buddhism“. 11.000 Artikel, 32 Sprachen, unter der Mitwirkung von 80 Menschen. Ein neuzeitlicher Scholastiker. Er hat außerdem schon 17 Bücher veröffentlicht.

Liebende Güte und Mitgefühl

Was kann man von diesem Meister lernen? „Man sollte den engen Pfad verlassen, wo man sich sagt: Ich Armer! Und stattdessen den Blick dafür weiten, dass wir gerade alle dieselbe Erfahrung durchmachen.“ Seine Übung der Wahl ist ein Klassiker in der Gebetsmühle: die Metta-Meditation.

Sie soll liebende Güte und Mitgefühl kultivieren – zwei buddhistische Schlüsselbegriffe. Dabei wünscht man sich selbst und anderen Menschen günstige Fügungen im Chaos des Lebens; erfahrene Meditierende lenken dabei die Aufmerksamkeit auf fremde Menschen, sogar Zeitgenoss*innen, die man eigentlich unsympathisch findet.

„In der Corona-Pandemie könnte ein Spruch während dieser Meditation sein: Möge XY weniger Stress empfinden, möge XY gesund bleiben.“ Eine Studie der „American Psychological Association“ hat Hinweise darauf gefunden, dass die Metta-Technik positive soziale Emotionen steigern und Isolationsgefühle verringern kann.

Das heißt nicht, dass man sofort zum Dr. Zen wird wie Alexander Berzin – aber mehr als Binge-Watching und Bachblüten könnte diese Technik dennoch bewirken.


Mehr zum Umgang mit der Krise in Berlin

Unser Rückblick auf denkwürdige Monate: 12 Fotos aus dem ersten Jahr mit Corona. Das Jahr seit dem ersten Lockdown hat viele Paare auf die Probe gestellt. Tipps für die Beziehung in Zeiten von Corona haben wir hier. Es ist nicht leicht, kompetente Hilfe zu finden. Schritt für Schritt: So findet ihr einen Therapieplatz in Berlin. Wie verhält man sich als Außenstehende*r richtig? Was ihr tun solltet, wenn ihr seht, dass psychisch kranke Menschen in der Öffentlichkeit eine Krise haben.

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