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schräg bis exzentrisch

Eine Liebeserklärung an die Berliner Originale

Schräge Künstlertypen, exzentrische Obdachlose, windige Geschäftsleute. Es gibt verschiedene Formen der Berliner Originale, doch sie alle gehören zu der Stadt dazu. Eine Liebeserklärung von Lutz Göllner

Berliner Original der ersten Stunde: Reinhold Franz Habisch, genannt "Krücke", im Berliner Sportpalast. Foto: picture alliance / Ullstein Bild
Berliner Original der ersten Stunde: Reinhold Franz Habisch, genannt „Krücke“, im Berliner Sportpalast. Foto: picture alliance / Ullstein Bild

Der Bucklige ist am U-Bahnhof Südstern zugestiegen und quer durch den Waggon gelaufen. Jetzt hockt er ungerührt neben der Tür und knabbert an einem Schokoriegel. Das ist umso erstaunlicher, sitzt ihm gegenüber doch ein Stadtstreicher, der mit hochrotem Kopf eine scheinbar unendliche Lawine an polnischen Schimpfworten durch die U-Bahn brüllt. Wenn man nur in die Richtung des Mannes guckt, fühlt er sich provoziert und lässt eine neue Ladung Beschimpfungen los. Nur der Bucklige ist vollkommen ungerührt, schmatzt weiter an seiner Schokolade und stachelt alleine dadurch den Polen zu neuen Wortkanonaden an. Keine Frage: Alles Irre hier! Aber war es denn jemals anders?

Wer zu Mauerzeiten in Berlin groß geworden ist, der kannte sie doch alle:

  • Tüten-Paula, die von 50 Müllsäcken umgeben gerne auf dem Ku’damm saß und jeden anfauchte, der sich ihr näherte.
  • Der Grüßer, ein in einen Blaumann gekleideter Hüne, der seine Haare durch ein Stirnband aus Chinchillapelz in die Höhe formatierte, den ganzen Tag auf dem Rad durch die Stadt fuhr und die Gaffer rechts und links huldvoll grüßte.

Berliner Originale: Zieht die Stadt sie an oder produziert sie sie selbst?

Später gesellten sich dann Figuren wie Torsten Holzapfel dazu, ein liebenswerter Sonderling, der stundenlang auf der alten U1 zwischen Schlesischem Tor und Ruhleben fahren konnte. Oder der immer noch eng mit der „taz“ verbundene Christian Specht, der vor 30 Jahren mit einer Kameraschablone aus Sperrholz inklusive Mikrofon unterwegs war und sich heute vehement für die Rechte gehandicapter Menschen einsetzt.

Die Frage ist: Zieht unsere Stadt solche mitunter abwertend Sonderlinge genannten „Berliner Originale“ nun an oder produziert sie ihre Aussteiger, Ausgestoßenen und Außenseiter selber? Dagegen spricht eigentlich, dass es berühmte spezielle Berliner schon gab, als diese Stadt noch ein verschlafendes Provinznest inmitten der brandenburgischen Pampa war.

Stadtbekannt war schon damals die Theaterleiterin Julie Gräbert (1803–1870), die ihre Vorstellungen so lange pausieren ließ, bis Bier und Brötchen endlich ausverkauft waren. Oder Marie Anne du Titre (1748–1827), Tochter assimilierter Hugenotten (sie sprach nur französisch und Berliner Dialekt, kein Hochdeutsch), die ein freigiebiges Haus führte, Theaterbesuche lautstark öffentlich kommentierte und den ihr freundschaftlich zugeneigten König Friedrich Wilhelm III gerne mit „Majestätken“ anredete.

Sie sind die Vorfahren solcher Gestalten wie dem auch literarisch verewigten Eckensteher Ferdinand „Nante“ Strumpf (geboren 1803, sein Todesjahr ist unbekannt), Dienstmann mit der Konzessionsnummer 22, der an der Ecke Königsstraße/Neue Friedrichstraße herumlungerte und alles um sich herum sarkastisch kommentierte.

Und der Berliner liebt seine Originale, seien es nun mehr oder weniger prominente Künstler wie Komet Bernhard (Titelfoto) oder so jemand wie Reinhold Franz „Krücke“ Habisch, der mit seinen gellenden Pfiffen den Sportpalastwalzer beim Sechs-Tage-Rennen veredelte; sein Grab auf dem Friedhof der St.-Thomas-Gemeinde in Neukölln ist ein Ehrengrab – ähnlich wie das von Willy Brandt. Für die bürgerliche Gesellschaft mögen Leute wie der einbeinige Krücke gescheitert sein und außen vor stehen, aber in der Eigenlogik dieser Stadt, die nun mal nach ihren eigenen Regeln lebt, passen eben auch die Außenseiter.

Vielleicht liegt die Häufung an der Berliner Mischung

Vielleicht liegt die Häufung an Außenseitern auch in der Mischung der Berliner Bevölkerung, dieses Gemenge aus französischen Hugenotten, polnischen Juden und sturen Brandenburgern. Schon vor fast 120 Jahren attestierte der Geheime Medizinalrat Albert Eulenburg den Berlinern die „überreizten, übermüdeten, erschöpften“ Nerven und machte dafür das „gesteigerte und erhitzte Genusstempo“ der Großstädter verantwortlich, konnte jedoch damals nicht die Zusammenhänge zwischen Medizin und Soziologie untersuchen. Beide Wissenschaften existierten neben- und nicht miteinander.

Erstaunlich, denn Paul Simmel, der Vater der modernen Soziologie, machte ja ähnliche Beobachtungen wie Eulenburg. In Berlin – lange Zeit die einzige Großstadt in Deutschland – konnte man besonders gut beobachten, wie sich ein Riss durch die Gesellschaft und die ganze Stadt zog: Es gab zum einen die kleine Mittelschicht mit ihren Beamten und Angestellten und zum anderen die Arbeiter. Eine große, alles verbindende Mittelschicht – wie in Hamburg oder München – existierte hier schließlich nie. Und ist das nicht eine Beobachtung, die sich bis heute durchzieht?

Und überhaupt: Was ist schon exzentrisch? Mein altes Hausmeisterehepaar, die akribisch Buch führten über jeden, der im Haus ein und aus ging? Der alte Schulfreund, der alle sozialen Verbindungen gekappt hat und auf einem Boot in Kladow lebt? Der Klempner, der sich ausschließlich japanisch ernährte? In Berlin, so die Botschaft seit fast 300 Jahren, „mus ein jeder nach Seiner Fasson Selich werden“ (der Alte Fritz).

Nicht immer angenehme Macken

Wobei die Berliner Originale nicht immer angenehme Menschen sind und waren. Die Nachtigall von Ramersdorf etwa konnte jedes Lokal leer singen und reagierte sehr aggressiv, wenn man seine Gesangskünste nicht so toll fand. Auf der anderen Seite wurden einem Künstler wie Harald Juhnke auch die peinlichsten Fehltritte – besoffene Verfolgungsjagden mit der Polizei, abgebrochene Auftritte, Körperverletzungen und Beleidigungen – verziehen. Und der Kabarettist Wolfgang Neuss avancierte selbst komplett zugekifft, mit fettigen Haaren, fast ohne Zähne und mit komplett wirren Texten zum Publikumsliebling der Alternativszene.

Oder der Kiez-König Klaus „Kläuschen“ Speer: Im Juni 1970 waren der Zuhälter und seine Bande in eine Schießerei mit iranischen Konkurrenten in der Bleibtreustraße verwickelt. Im Knast wurde Speer zum engen Freund von Horst Mahler, danach machte er eine Karriere als Boxpromoter, förderte die Karriere von Graciano Rocchigiani und war im Immobiliengeschäft aktiv. Doch bei allem, was Speer so auf dem Kerbholz hatte – in der Stadt war der freundliche, joviale und immer bildungshungrige Mann so beliebt, dass der Berliner Haussender SFB 1989 sogar ein TV-Porträt über ihn produzierte.

Das letzte Wort sollte da der Handwerksgeselle aus dem 17. Jahrhundert haben, der sich mit einem Offiziersjunker geprügelt hatte. Vor den Magistrat zitiert, verteidigte er sich mit den Worten: „Ick jeh’ jedem aus’m Wech, aber ick verlange, det mir ooch jeda aus’m Wech jeht!“


Man kennt sie selten persönlich, doch irgendwie kennt sie jeder. Die Berliner Originale  führen ein öffentliches Leben. Manche sind Legenden, andere längst vergessen. An dieser Stelle stellen wir fünf Berliner Originale vor, die das Leben in West-Berlin der 80er-Jahre aufmischten.

Gedichte von der Seele: Timo Dege gehört zum Kreuzköllner Inventar. Tagein, tagaus verkauft er seine Kleinstlyrik in der U-Bahn, ingesamt 240 Gedichte. Geschrieben hat er sie an einem einzigen Tag. Jeder kennt ihn. Doch wer ist er?

Nicht aus der Partyszene wegzudenken ist Komet Bernhard, der mit seinen 70 Jahren Schreiner, Performer und Berliner Party-Institution ist. Hier erklärt er, was für ihn Heimat bedeutet.

Berliner Original der Gegenwart: Komet Bernhard, über 70 Jahre alt und Berliner Partyinstitution. Foto: Harry Schnitger
Berliner Original der Gegenwart: Komet Bernhard, über 70 Jahre alt und Berliner Partyinstitution. Foto: Harry Schnitger

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