Südasiatische Lieferanten bringen Berliner:innen ihr Essen und halten die App-Economy am Laufen, doch leben am Rand der Gesellschaft. Zwischen Hoffnung auf ein besseres Leben und Ausbeutung durch Agenturen und Plattformen navigieren sie durch ein System, das sie isoliert.
Von Anna Gyulai Gaál

Wenn ihr sonntagabends regelmäßig Butter Chicken oder Burger bestellt, ist euch vielleicht aufgefallen, dass immer mehr südasiatische Arbeiter:innen das Abendessen an die Haustür bringen. Seit der Reform des Fachkräfteeinwanderungsgesetzes vor zwei Jahren, mit dem rund 400.000 offene Stellen auf dem deutschen Arbeitsmarkt durch gezielte Zuwanderung qualifizierter Fachkräfte besetzt werden sollen, ist die Zahl der Zuwander:innen aus Indien, Bangladesch und Pakistan stark gestiegen. Einer von ihnen ist Abdul*, der als Fahrer für den Lieferdienst Wolt arbeitet – weit weg von seiner Heimat.
„In meinem Heimatland Bangladesch läuft es gerade nicht gut – es herrscht eine Wirtschaftskrise, es gibt viele Proteste, und es ist schwer, einen Job zu finden“, sagt er. „Ich bin hierher gekommen, um meine Familie zu unterstützen. Meine Mutter ist allein, und mein Bruder, der bei ihr lebt, ist behindert. Sie brauchen jede Hilfe, die sie bekommen können.“
Während wir sprechen, wartet Abdul auf eine neue Bestellung. Es ist später Nachmittag, etwa 15.30 Uhr. „Das ist eine ruhigere Zeit, der Mittagsansturm ist vorbei, und die Abendbestellungen gehen noch nicht ein“, erklärt er. Er und sechs weitere Essenslieferanten stehen vor einem Risa Chicken auf der Sonnenallee – alle mit dem Blick aufs Handy, wartend auf ein Ping. „Manchmal haben wir so viel zu tun, dass wir kaum Zeit haben, etwas zu essen oder zu trinken. Dann wiederum stehen wir stundenlang nur herum. Es ist schwer, vorherzusehen, wann man eine Pause machen kann – man will ja keinen Auftrag verpassen.“
Essenslieferanten schicken Geld an ihre Familien zuhause
Einer seiner Kollegen kommt ebenfalls aus Bangladesch, dazu gesellen sich zwei Männer aus Pakistan und einer aus Indien. Alle sind über Personalagenturen nach Deutschland gekommen, die ihnen eine Einladung zur Arbeit schickten. Diese Einladung mussten sie bei der Botschaft vorlegen, um ihr Visum zu erhalten – die sogenannte Chancenkarte, mit der ausländische Arbeitskräfte für bis zu ein Jahr Arbeit in Deutschland suchen dürfen. Abdul kam im Juni – etwa zur gleichen Zeit wie sein Kollege und Freund Nawaz. Die beiden teilen sich ein Zimmer mit zwei weiteren Männern.
„Die Agentur hat uns geholfen, eine Unterkunft zu finden, und uns Fahrräder für die Arbeit gestellt. Unser Zimmer ist klein, jeder hat ein Bett, einen kleinen Schreibtisch und einen Schrank. Wir teilen uns ein Badezimmer. Es ist ziemlich ungemütlich und schwer, sich auszuruhen, wenn man zu viert ist, aber es ist bezahlbar. Jeder zahlt 250 Euro im Monat, und wir sind dankbar, dass wir das haben“, sagt Nawaz, der offener über die Herausforderungen spricht, mit denen er und andere Lieferanten konfrontiert sind.
„Ich vermisse meine Familie und mein Zuhause sehr. Ich habe eine Frau, eine kleine Tochter, meine Eltern und zwei jüngere Schwestern, die ich unterstütze. Ich arbeite sechs Tage die Woche, jeweils 10 bis 12 Stunden. An meinem freien Tag schlafe ich meistens nur und telefoniere mit meiner Familie – das war’s.“ Es dauert lange, ein bisschen Geld zur Seite zu legen. „Es schmerzt mich, dass ich nicht mehr verdienen und einfach wieder nach Hause gehen kann“, sagt Nawaz. „Ich spare, wo ich nur kann. Ich habe schon viel abgenommen, seit ich hier bin, weil ich versuche, möglichst wenig für Essen auszugeben.“
Arbeitsmigrant:innen füllen Lücken
Die goldenen Jahre des Essens auf Bestellung lagen in der Pandemie: Für viele Restaurants war die Hauslieferung die einzige Überlebenschance. Laut Zahlen der Liefer-App Flink meldeten sich im März 2020 fast fünfmal so viele Menschen als Essenslieferanten an, und zahlreiche neue Restaurants tauchten auf den Plattformen auf. Doch 2022 war der Hype vorbei – neues Lieferpersonal zu finden wurde zunehmend schwierig. Diese Lücke füllten zunehmend Arbeitsmigrant:innen, viele aus Südasien.
Laut Statistischem Bundesamt leben derzeit rund 22.000 Menschen aus Bangladesch in Deutschland. 30 Prozent von ihnen arbeiten im Gastgewerbe, der Rest im Handel, in der Technik oder der IT-Branche. Die Zahlen für Pakistan und Indien liegen deutlich höher: Rund 140.000 Menschen mit pakistanischem und 137.000 mit indischem Hintergrund leben hier.
Keine Festanstellung bei Wolt
Zwar wirbt Deutschland aktiv um Fachkräfte aus diesen Ländern – allein für indische Arbeitskräfte wurden im Oktober 70.000 zusätzliche Visa bewilligt, Bangladesch zählt laut Regierung zu den Fokusländern für Fachkräftegewinnung –, doch die Realität bei der Ankunft ist ein finanzieller Drahtseilakt. Abdul und seine Kollegen sind offiziell keine Angestellten von Wolt. Sie müssen nicht nur Steuern und Krankenversicherung zahlen, sondern auch einen Teil ihres Verdienstes als Provision an Vermittlungsagenturen abgeben. Abdul arbeitet so viel er kann, am liebsten abends, wenn das Trinkgeld besser ist. Miete und Essen kommen obendrauf – am Ende bleibt kaum etwas übrig, nachdem er das Meiste an seine Familie nach Hause überweist. Trotzdem ist er froh, Arbeit gefunden zu haben – in Bangladesch wäre das nicht möglich gewesen.
Das Gehalt der Fahrer:innen hängt zum Teil von ihrer Leistung ab – der Druck, gut abzuliefern, ist groß. „Wir bekommen einen Grundlohn von 11 Euro pro Stunde, dazu pro Lieferung etwas extra – plus Trinkgeld. Das sind dann zwischen 12 und 20 Euro pro Stunde. Regentage sind immer die besten!“, erzählt Abdul. (Wolt erklärte gegenüber The Berliner, dass der Stundenlohn „meist über dem gesetzlichen Mindestlohn“ liege.) Nawaz lacht: Finanziell mögen Regentage gut sein, doch Autofahrer:innen achten oft nicht auf sie – „Die spritzen uns einfach voll. Manchmal denke ich, das machen sie mit Absicht. Menschen können echt grausam sein.“
Auch in den Restaurants erleben Abdul, Nawaz und viele andere Lieferkräfte häufig Geringschätzung – von unhöflichem Ton bis zu bewusstem Wartenlassen, was ihre Performancewerte drückt. (Wolt vergibt Aufträge per Algorithmus – basierend auf Standort, Zeit und Effizienz.) Auch Kund:innen können verletzend sein, machen sich über Herkunft oder Deutschkenntnisse lustig. „Aber es gibt auch nette Leute“, sagt Nawaz. „Manche Restaurants geben uns abends die Reste – dann spart man viel und wird trotzdem satt!“
Viele Essenslieferanten sind Studierende
Aju Ghevarghese John, Jurist und Forscher bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung, beschäftigt sich seit Jahren mit den Arbeitsbedingungen von Essenslieferanten und moderierte auch den Podcast „Delivery Charge“. Er sieht vor allem bei südasiatischen Arbeitskräften viele Probleme – und fordert Reformen. „Wolt und Uber Eats bieten meines Wissens keine Arbeitsverträge an. Die Arbeit wird über verschiedene Modelle vermittelt – mal durch Personaldienstleister, mal mieten sich Fahrer:innen Accounts für rund 200 Euro im Monat. Bezahlt wird bar, oft über Mittelsmänner, die wiederum Geld für den Zugang zur Plattform verlangen“, erklärte John im Interview mit The Berliner. Diese Konstrukte erlauben es den Plattformen, sich um viele Arbeitgeberpflichten zu drücken.
Wolt widerspricht: In Deutschland seien Fahrer fest angestellt – direkt oder über Partnerfirmen. Alle gesetzlichen Vorgaben, von Mindestlohn bis Kündigungsschutz, würden eingehalten. Man beschäftige Menschen aus über 80 Nationen, zehn der fünfzehn größten Herkunftsländer seien nicht in der EU. Auch Uber Eats erklärte, nur mit professionellen Partnerfirmen zu arbeiten, die wiederum ihre Fahrer:innen sozialversicherungspflichtig beschäftigten.
Viele südasiatische Lieferanten sind Studierende, die neben dem Studium Geld verdienen müssen. Arbeitszeitbegrenzungen für ausländische Studierende machen sie zu idealen Kandidaten für Plattformarbeit über Agenturen. „Sie akzeptieren miese Bedingungen, in der Hoffnung, sich später im hochqualifizierten Arbeitsmarkt durchzusetzen“, so John.
Essenslieferanten profitieren kaum vom Arbeitsrecht
Ashikh*, Ingenieurstudent aus Indien, ist im zweiten Semester an der TU Berlin. Er lernte Deutsch bis A2 am Goethe-Institut und kam im September. Seine Familie half, so gut es ging – doch nach der Krebsdiagnose seines Vaters musste er dringend Geld verdienen. „Ich wollte etwas im Fachbereich finden, aber ohne Deutsch war das schwierig. Also meldete ich mich bei Wolt.“ Seine Schichten kollidieren oft mit den Vorlesungen – entweder lernen oder arbeiten. Sein Traum: Genug verdienen, um seine Eltern nachzuholen und dem Vater hier eine bessere Behandlung zu ermöglichen.
Warum sind Plattformen rechtlich so schwer zu greifen? Laut John liegt das an der Struktur des deutschen Arbeitsrechts – viele Standards werden über Tarifverträge geregelt. Über die Hälfte der Beschäftigten sind durch solche Verträge geschützt. Für Lieferanten aber gibt es keine, und auch keine Gewerkschaft hat bisher einen durchsetzen können. Selbst nach monatelangen Streiks hat etwa Lieferando Verhandlungen mit der NGG (Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten) verweigert – offenbar, weil die meisten Beschäftigten keine Mitglieder sind.
Für John liegt die Lösung in gewerkschaftlicher Organisation – doch das sei alles andere als leicht. Viele haben Angst, ihre Jobs zu verlieren. „Gewerkschaften in Deutschland müssen gezielter auf Hindi-, Urdu- oder Punjabi-sprechende Studierende zugehen, um ihre Zurückhaltung zu verstehen – und sie abbauen. Arbeitsgerichte müssen zugänglicher werden, vor allem für Migranten ohne gute Sprachkenntnisse, die nicht wissen, dass sie staatliche Prozesskostenhilfe beantragen können.“
Solange bleibt vieles, wie es ist. „Manchmal fühle ich mich wie ein Bettler“, sagt Nawaz. „Obwohl ich arbeite und mein Geld verdiene – es fühlt sich nicht so an. Weil niemand wertschätzt, was ich tue. Aber wie sollte dein Sushi heute Abend ankommen, wenn ich es dir nicht bringe?“
*Name von Redaktion geändert
Mehr aktuelle Themen aus dem Stadtleben-Ressort für euch: Rassismus und Mobbing bei der Polizei sind weit verbreitet. Die NGO Gesellschaft für Freiheitsrechte bringt Whistleblower zum Reden. Der Berliner Autorin Julia Friedrichs gelang etwas, was eigentlich kaum möglich ist: Sie traf Superreiche und hat sich mit ihnen unterhalten. Wir sprachen mit ihr über ihr Buch „Crazy Rich. Die geheime Welt der Superreichen“. Immer gut über das Leben in Berlin informiert: Abonniert jetzt unseren tipBerlin-Newsletter.