• Stadtleben
  • Europacity am Hauptbahnhof – Ist das noch unser Berlin?

Stadtplanung

Europacity am Hauptbahnhof – Ist das noch unser Berlin?

Hinter dem Hauptbahnhof, mitten im Zentrum von Berlin, entsteht die Europacity. Wo früher eine städtische Brachfläche mit ein paar kleinen Galerien war, bauen heute vor allem private Investoren. Doch was für ein Viertel entsteht da eigentlich

Foto: Stephanie von Becker

Wenn der Künstler Yves Mettler aus dem Fenster seines Ateliers schaut, sieht er Kräne. Viele Kräne. Sie schwenken ihre gewaltigen Arme direkt hinter dem ehemaligen Nordhafen, auf den Mettler von seinem Atelier in der Tegeler Straße blickt.

Es sind die Baukräne von Berlins zentralstem neuen Kiez: der Europacity in Moabit, die sich nördlich des Hauptbahnhofs zwischen Nordhafen, Heidestraße und Humboldthafen auf einem 40-Hektar-Areal ausbreitet. Die Europacity ist noch lange nicht fertig. Aber schon seit langem eines der umstrittensten Viertel der Stadt.

„Ich finde, Berlin kann es sich nicht leisten, einen ganzen Stadtteil zu bauen, nur um reichen Spekulanten neue Anlagemöglichkeiten zu bieten“, sagt die Linken-Politikerin Katalin Gennburg. „Ich denke, in der Europacity werden sich viele junge Menschen und Familien ansiedeln“, sagt die Senatsbaudirektorin Regula Lüscher. „Dort entstehen viel zu wenige Sozial­wohnungen und so gut wie keine neuen Grünflächen“, sagt die Stadtaktivistin ­Susanne Torka. „Manchmal gehen neben der ganzen Kritik auch die Gewinne unter, die so ein Bauprojekt für die Stadt bringen kann“, sagt der Stadtführer André Franke.

In der wachsenden Stadt, in der die bezahlbaren Wohnungen immer ­knapper werden, wo zahlreiche neue Quartiere in Planung sind, könnte sich an diesem herausragenden Ort exemplarisch zeigen, wie das neue Berlin aussehen könnte, die künftige Stadt, ihre neue Architektur. Oder ist die Europacity schon jetzt eine grandios vergeigte Chance?

Entwicklungsgebiet Europacity, Foto: CA Immo / STÖBE. Die Agentur für Kommunikation

Yves Mettler, der Künstler mit dem Baustellenblick, beobachtet die Entwicklung des neuen Stadtteils schon lange. ­Gerade mal ein Jahrzehnt ist es her, dass auf dem Areal um die Heidestraße vor ­allem Künstlerinnen einzogen. Auf einem Tisch in seinem Atelier breitet Mettler den Bebauungsplan des Areals aus, zieht mit dem Finger eine Linie entlang der ­zentral gelegenen Straße, deutet auf eine ­Reihe von Gebäuden und sagt: „Früher war hier Leben, es gab Ateliers und Kultur. Künstlerinnen wie Olafur Eliasson, Thomas Demand oder Tacita Dean haben hier gearbeitet und konnten ihre Kunst auch deshalb entwickeln, weil es diesen Raum gab.“ Dann macht er eine Pause, denkt kurz nach. Sein Gesicht ist angespannt. „Die neue Europacity wird eher ein kapitalistischer Ort“, sagt Mettler dann. „Kunst wird dort nicht mehr produziert – sondern nur noch konsumiert.“

16 Euro nettokalt pro Quadratmeter

1,3 Kilometer erstreckt sich das Areal von Norden nach Süden, rund 340 Meter ist es breit. In die künftige Europacity würden rund 90 Fußballfelder passen. Zu Mauerzeiten unterstanden große Teile des Gebiets als Reichsbahngelände juristisch der DDR und langen brach. Nun wollen private Immobilienunternehmen hier die Vision einer modernen Großstadt verwirklichen: mit urbanen Quartieren, exklusiven Geschäften und begrünten Promenaden.

Die Wohnungsbauprojekte, die hier entstehen, tragen die bedeutungsstrotzenden Namen von Immobilienentwicklern mit dem Drang zum großen Reibach: „Budapester Höfe“, „Prager Karree“, „Wiener Etagen“ – alle drei liegen nahe beieinander. In die vier Gebäude der „Budapester Höfe“ zogen 2017 die ersten Mieterinnen der Europacity ein. Zu den Zwei- bis Vierzimmerwohnungen gehören ein Balkon, eine Loggia oder ein Privatgarten. Die monatliche Nettokaltmiete der insgesamt 204 Wohnungen liegt bei rund 13,50 Euro pro Quadratmeter. Nur 42 der Wohnungen sind mietpreisgebunden – sie kosten zwischen 368 und 604 Euro. In den insgesamt 302 geplanten ­Wohnungen der noch im Bau befindlichen Projekte „Prager Karree“ und „Wiener Etagen“ sind die Monatsmieten sogar noch teurer: durchschnittlich 16 Euro nettokalt pro Quadratmeter.

Es ist das krasse Gegenteil von dem, was Berlin gerade am dringendsten nötig hat: bezahlbare Wohnungen für untere und mittlere Einkommensschichten. 2017 bewegten sich die durchschnitt­lichen Nettokaltmieten für Neuvermietungen in Moabit noch zwischen 3,89 Euro und 8,97 Euro pro Quadratmeter. Heute, zwei Jahre später, lag diese Spanne dem Portal immowelt.de zufolge schon bei 8,80 Euro bis 20 Euro. Dieser Trend setzt sich in dem neuen Stadtteil fort: Bei gerade einmal 257 der rund 3.000 geplanten Wohnungen in der künftigen Europacity liegen die Mieten bei 8 Euro nettokalt pro Quadratmeter und darunter. Das sind knapp neun Prozent aller Wohnungen. Eigentlich dürfte es so einen niedrigen Anteil gar nicht mehr geben. Schließlich gilt in der Stadt seit 2014 das „Modell der kooperativen Baulandentwicklung“. ­Dabei wurde erstmals festgelegt, dass bei neuen Großbauprojekten mindestens 25 Prozent der Wohnungen Sozialwohnungen sein müssen, seit 2018 sind es sogar 30 Prozent der Geschossfläche.

Yves Mettler & Alexis Hyman Wolff – Projekt „Am Rand von Europacity“, Foto: Stephanie von Becker

Nur greift diese neue Verordnung in der Europacity nur sehr eingeschränkt. In jenem Teil des Areals, der sich östlich der Heidestraße befindet, gilt die neue Quote nicht – und zwar ausgerechnet dort, wo sich die Baufelder mit dem höchsten Wohnanteil (70 bis 80 Prozent) befinden. Der Grund: Die Verträge mit den Investoren wurden hier bereits 2011 geschlossen – drei Jahre, bevor die kooperative Baulandentwicklung in Kraft trat. Westlich der Heidestraße, zu den Bahngleisen hin, soll es hingegen hauptsächlich Gewerbe geben. Dort entsteht momentan bis Mitte 2021 das „Quartier Heide­straße“ mit Gewerbe- und Einzelhandelsflächen auf rund 268.000 Quadratmetern.

Immerhin: Auch 920 Wohnungen werden gebaut, 215 davon als Sozialwohnungen. Insgesamt ist in der Europacity weniger als die Hälfte der Geschossfläche als Wohnraum vorgesehen. Ein Künstlertrio will zuhören Der Künstler Yves Mettler hat bereits einige Installationen in verschiedenen Ländern ­realisiert, die sich mit „Europacitys“ beschäftigen. Im letzten Jahr entstand dann in Kooperation mit der Künstlerin Alexis Hyman Wolff, dem Künstler Achim Lengerer und dem Klangkünstler Gilles Aubrey das Projekt „Am Rand von Europacity“. Durch Spaziergänge in und um die Europacity und Workshops zum „kollektiven Zuhören“ wollen die Kunstschaffenden alte und neue Nachbarschaften miteinander verbinden. Dafür sammeln sie die Stimmen von Anwohnerinnen der angrenzenden Kieze und Bewohnerinnen des neuen Stadtteils: Was für Vorstellungen verbinden diese mit der Europacity? Und was erhoffen sie sich von der neuen Nachbarschaft? Ein Anwohner erzählte den beiden zum Beispiel, dass er seit vielen Jahren am Nordhafenpark angeln ginge.

Mit dem Bau des neuen Stadtteils fürchtet er, sein Hobby in Zukunft an einer anderen Stelle ausüben zu müssen. Und eine Bewohnerin, die bereits in eines der neuen Gebäude der Europacity eingezogen ist, antwortete auf die Frage, was denn hier für ein Europa gebaut würde: „Ein teures.“ Auch Mettler und Wolff fürchten, dass es mit der Europacity zu einer neuen sozialen Segregation kommen könnte. Dass der Stadtteil eine neue Grenze zieht – passend zu seinem Namen, wie die beiden finden: eine Festung Europa quasi, mitten in Berlin. Wolff sagt: „Die Europacity wirkt wie eine Insel, auch durch den angrenzenden Schifffahrtskanal. Und sie nennt sich Europacity – nicht etwa Heidestraßenviertel oder so ähnlich. Sie erhebt also den Anspruch, eine Einheit zu bilden. Und da stellt sich für uns die Frage, welche neuen Grenzziehungen in der Stadt mit dieser Entwicklung einhergehen.“ Die Europacity verkörpere eine bestimmte Ideologie der Stadtplanung, so die Künstlerinnen. Mettler sagt: „Es ist eine garantierte Stadt. Man weiß, was man bekommt, darüber hinaus kann aber auch nicht viel passieren. Das hat auch mit Kontrolle zu tun.“

Dabei ist es beiden dennoch wichtig, die neuen Bewohner innen nicht vorschnell in eine Schublade einzusortieren. „Ich glaube, wenn man die glänzenden Fassaden der Gebäude sieht und was für ein Bild da vermarktet wird, ist es leicht zu denken, dass dort nur reiche Menschen einziehen“, sagt Wolff. Doch es seien auch viele Leute aus der Mittelschicht, die in die neuen Wohnungen zögen. Die urbane Mischung der Investoren Es ist gut zehn Jahre her, dass der Senat von Berlin einen städtebaulichen Wettbewerb für das gesamte Entwicklungsgebiet durchführte, Anfang 2008.

Den Masterplan, in den die Ergebnisse einflossen, stellte der Senat, zusammen mit den neuen Eigen­tümern des Geländes, am 1. Juli 2010 auf einer Standortkonferenz vor. Die Konferenz fand im damals in der Heidestraße residierenden Tape-Club statt – und damit in einem der vielen Kleingewerbe, die ­später durch den Bau der Europacity ­verdrängt werden sollten. Die Haupteigentümer des Entwicklungsgebietes sind das österreichische Immobilienunternehmen CA Immo und das Land Berlin. Die CA Immo hatte 2007 die Vivico-Gruppe übernommen, die ­ihrerseits jene Bahnimmobilien verwaltet hatte, die nicht mehr für den Betrieb benötigt werden. Europaweit hat die CA Immo ­bereits mehrere „Europacitys“ gebaut, unter ­anderem das Europaviertel in Frankfurt am Main. Einige seiner Grundstücke hat das Unternehmen mittlerweile an andere private Investoren weiterverkauft.

Katalin Gennburg, Foto: Stephanie von Becker

Wenn man deren Websites glaubt, soll die Europacity ein „trendiges Wohn- und Arbeitsviertel“ werden, mit „urbaner ­Mischung“. Einer der neuen Investoren, der hier baut, ist die Groth-Gruppe: einer der zehn größten Player in Immobilienprojekten deutschlandweit. In Berlin ist das ­Unternehmen unter anderem für Neubauprojekte am Mauerpark, in Wilmersdorf und in der Lehrter Straße, die an die Euro­pacity angrenzt, verantwortlich. Hauptsächlich handelt es sich dabei um teure Miet- und Eigentumswohnungen – nur ein Bruchteil der Wohnungen ist dagegen als geförderter Wohnungsbau oder explizit für Studierende ausgewiesen. In einem ­ihrer Werbevideos von 2014 bezeichnete die Groth-Gruppe die Europacity als „eines der spannendsten innerstädtischen Areale“. Eine Linke wünscht sich Bauwagen An einem frühlingshaften Donnerstag steht Katalin Gennburg am Ufer des Humboldthafens unweit des Europaplatzes. Sachte schwappen die Wellen gegen die Kaimauern. Ein Ausflugsdampfer tuckert über den Kanal. Im Hintergrund hört man das Rattern eines Presslufthammers.

Gennburg, Sprecherin für Stadtentwicklung, Tourismus und Smart City der Linksfraktion im Abgeordnetenhaus, ist eine wortgewaltige Kritikerin der Europa­city. Sie blickt auf die gigantische Bau- stelle, die sich auf dem Gelände nördlich des Hauptbahnhofs abzeichnet. Eine Brachfläche mit Sandhaufen, Absperrzäunen, Kränen. Das Hochhaus des französischen Ölkonzerns Total und ein Hotel bilden die vorläufige Skyline des neuen Viertels. In einer schriftlichen Anfrage an das Abgeordnetenhaus Anfang 2018 ­nannte Gennburg das neue Viertel ein „relativ ­lebloses Quartier“. Gennburg trägt ihre kurzen blonden Haare nach hinten, die orangefarbenen Ohrringe passen zu ihrem neongelben Hemd. Sie deutet auf einen schmalen Streifen Land zwischen Friedrich-List-Ufer und Hafenbecken. „Das ist eine der wenigen Flächen der künftigen Europacity, die dem Land Berlin gehören“, sagt die Politikerin. „Ich finde, dass man strikte Maßnahmen ergreifen sollte, damit zumindest diese Flächen nicht aufgewertet werden. Deswegen hatte ich vorgeschlagen, dort Bauwagenplätze anzusiedeln.“ Bauwagen gegen die Gentrifizierung. Die Politik, sagt die Linken-Politikerin, müsse die Stadt den Menschen zurück- geben. Nach der Wiedervereinigung Berlins hatte der Senat viele Flächen der Stadt als Entwicklungsgebiete ausgewiesen und sie an Investoren verkauft. So auch in der Europacity.

Gennburg findet, dass die Stadt diese Flächen lieber selbst ­hätte beplanen sollen. Sie sagt: „Allerdings kam man ­damals aus zwei verschiedenen Systemen. Die Stadt musste alte Wunden heilen, und man dachte, dass man froh sein könne, wenn diese Grundstücke überhaupt jemand kauft.“ Das sei eine totale Fehleinschätzung gewesen, sagt die Politikerin. Ein Galerist zeigt frühe Weitsicht Das Gelände der Europacity hat eine lange Geschichte. Im 19. Jahrhundert lag hier einer der größten Eisenbahnstandorte und Güterumschlagsplätze Berlins. 1848 ­wurde der Hamburger Bahnhof gebaut, 20 Jahre später der Lehrter Bahnhof. Im näheren Umfeld siedelten sich in den folgenden Jahren große Institutionen wie das Stammwerk der Schering AG, die Charité und der Reichstag an. Als Berlin nach dem Zweiten Weltkrieg geteilt wurde, befand sich das Viertel hinterm Hauptbahnhof plötzlich in einer unbedeutenden Randlage. Ein Teil der Fläche wurde als Containerbahnhof genutzt, der übrige Teil lag brach. Dann fiel die Mauer. Und die immense Freifläche wurde plötzlich wieder zentral – und höchst interessant – zuerst für Künstlerinnen.

Susanne Torka (Betroffenenrat), Foto: Stephanie von Becker

An der südlichen Grenze des Gebietes, im alten Hamburger Bahnhof, eröffnete 1996 das Museum für Gegenwart. 2002 zog gegenüber die Flick-Sammlung in die Rieckhalle ein. Auch in das temporäre Gebäude „Halle am Wasser“ in der Heidestraße zogen in den 2000er-Jahren eine Reihe kleinerer Galerien, darunter die international bekannte Galerie „Haunch of Vension“, in der schon Yoko Ono ihre Installationen präsentierte. 2008 eröffnete der Schweizer Juerg Judin, zusammen mit seinem New Yorker Partner David Nolan, die Galerie „Nolan Judin“ auf der Heidestraße. In einem Interview mit dem tip Berlin aus selbigem Jahr prophezeite Judin dem Areal rund zehn bis 15 Jahre als Galeriestandort. Ein Satz von erstaunlicher Weitsicht.

Wo einst die „Halle am Wasser“ lag, steht jetzt der „KunstCampus“ der Groth-Gruppe: 120 luxuriöse Eigentumswohnungen mit raumhohen Fenstern, Fußbodenheizung und Tiefgarage. Die günstigste ist rund 67 Quadratmeter groß und kostete 323.000 Euro – inzwischen sind alle Wohnungen verkauft. 2017 zogen hier die ersten Bewohnerinnen der Europacity ein. Zwischen Hamburger Bahnhof und reinen Wohngebieten gelegen, soll der siebengeschossige Gebäuderiegel als eine Art „Bindeglied“ fungieren: mit exklusiven Galerien im Erdgeschoss. Allerdings sind diese nicht für alle Bewohnerinnen der Stadt gleichermaßen zugänglich – darüber wird ein Concierge in der Eingangshalle des Gebäudes wachen. Schöne teure Welt

Die Senatsbaudirektorin erklärt sich

Regula Lüscher zeigt sich optimistisch über die Perspektiven der Europacity. Das muss sie schon von Berufs wegen. Lüscher ist die Senatsbaudirektorin von Berlin. Sie sagt: „Ich denke, wir werden hier eine hohe Aufenthaltsqualität haben: mit dem KunstCampus als einem neuen Standort für zeitgenössische Kunst, der Uferpromenade, die den Hamburger Bahnhof mit dem naturnahen Nordhafen verbindet, und dem Otto-Weidt-Platz als urbanem Zentrum.“

Auch in puncto Nachhaltigkeit und Infrastruktur lobt Lüscher das künftige Viertel: Hier entstünden viele Grünflächen und auch die Dächer würden bepflanzt. ­Außerdem sei sichergestellt, dass ausreichend Kita- und Schulplätze geschaffen werden. Denn dafür müssen laut dem „Modell der kooperativen Baulandentwicklung“ die Investoren des Neubaugebiets sorgen. In den Erdgeschosszonen der Europacity sollen so neue Kitas entstehen, eine neue Schule wird an der Ecke Boyenstraße/ Chausseestraße gebaut.

Aber eben nur dort, wo das Modell auch greift. Regula Lüscher betont, dass die Euro­pacity in einer Zeit geplant worden sei, als die Stadt noch darum gerungen habe, dass Entwicklungen überhaupt statt fänden: „Es hätte damals kaum jemand ­gedacht, dass das am Ende so schnell geht.“

Manfred Bartling (Künstler mit letzter Galerie auf dem Gelände), Foto: Stephanie von Becker

Um die Entwicklung des Stadtteils überwachen zu können und ­eventuelle Nachbesserungen zu veranschlagen, wurde ein Standortmanagement ins Leben gerufen. Dabei sollen Senat und Eigentümerinnen künftig eng zusammenarbeiten. Lüscher sagt: „Wir wollen die Erdgeschossnutzungen kuratieren und in Sachen Mobilität nachrüsten. Dafür ­wollen wir Fahrräder und Car-Sharing-­Konzepte mehr in den Stadtraum integrieren. ­Außerdem wollen wir zukunftsweisende Entsorgungskonzepte umsetzen.“ Die Europacity ist bis heute vor allem eines: eine riesige Baustelle. Hie und da ­huschen vereinzelt ein paar Arbeiterinnen umher. Ansonsten herrscht gähnende ­Leere. Auch auf der Heidestraße, dem Boule­vard von morgen, flaniert kaum ­jemand. Dabei hat die Stadt hier schon mit den Arbeiten begonnen: 137 Hainbuchen und Ulmen, mit dünnen Stämmen, wiegen sich in drei Reihen im Wind. Ansonsten ist es aber sehr einsam auf dem sieben Meter breiten Gehweg.

Lüscher sagt, sie bedauere sehr, dass der erste Teil der Bebauungspläne festgesetzt wurde, bevor die „kooperative Baulandentwicklung“ in Kraft trat. Aber daran ließe sich im Nachhinein nichts mehr ändern. „Wir haben uns bemüht, das Maximum an gefördertem Wohnraum zu realisieren“, sagt die Senatsbaudirektorin.

Dass es zum Beispiel in den hochprei­sigen „Budaster Höfen“ überhaupt einige ­wenige Sozialwohnungen gibt, ist nur ­einem Handel zu verdanken, den der Senat mit der CA Immo einging: Dem Immobilienunternehmen wurden dafür 16.000 Quadratmeter Geschossfläche mehr genehmigt als ursprünglich vorgesehen.

Im Kiez nebenan herrscht Sorge

In der Praxis werde das „Berliner Modell“ ohnehin häufig zugunsten privater Investoren „angepasst“. Das zumindest behauptet die Aktivistin Susanne Torka. Torka ist eine der Personen, die sich seit Jahrzehnten für die Gegend nördlich des Hauptbahnhofs stark machen und gegen Aufwertung und Verdrängung kämpfen. „Wenn die Europacity einmal fertig ist, wird es sehr eng hier“, sagt sie.

Seit 1990 betreibt sie zusammen mit Jürgen Schwenzel den B-Laden auf der Lehrter Straße in Moabit – im Kiez ­nebenan. Der B-Laden firmiert als nachbarschaftliche Initiative, Träger ist der Verein „für eine Billige Prachtstraße – Lehrter Straße“. Jeden Montag und Donnerstag beraten und unterstützen Torka und andere Mitarbeiterinnen des Ladens Anwohnerinnen bei diversen Anliegen – etwa dabei, Formulare richtig auszufüllen. Außerdem trifft sich hier seit fast 30 Jahren einmal monatlich der Betroffenenrat Moa­bit: eine Bürgerinnenvertretung, die laut Baugesetzbuch in Sanierungsgebieten für die Interessen der Anwohnerinnen und Gewerbetreibenden gegenüber der Stadt eintreten soll. Der Betroffenenrat Moabit ist die einzige dieser Vertretungen, die auch heute noch mit der Politik in Kontakt steht. Der Rest hat aufgegeben.

Susanne Torka ist eine Frau mit grauen Haaren und legerer Kleidung. Sie sitzt an einem Tisch in der Mitte des Ladenlokals und schenkt sich einen Tee ein. Das ganze Projekt sei vor allem Investoren-freundlich, kritisiert die Aktivistin. Sie befürchtet, dass sich ihr Kiez mit den vielen Neubauprojekten in den kommenden Jahren stark verändern wird. Auch das benachbarte Quartier „Mittenmang“, eines der großen Neubauprojekte der Groth-Gruppe, das in der Lehrter Straße entsteht, ist ihr ein Dorn im Auge: Insgesamt 1.000 Eigentums- und Mietwohnungen sollen hier in den kommenden Jahren entstehen.

Torka wohnt selbst schon lange in der Lehrter Straße und hat am eigenen Leib ­erfahren, wie sich der Kiez über die Zeit hinweg gewandelt hat. Als das Gebiet ­Anfang der 90er-Jahre erstmals saniert wurde, habe es in den Häusern noch Außenklos gegeben, erzählt sie. Im Winter seien auch mal die Wasserleitungen eingefroren.

Torka lacht. Dann wird sie plötzlich ernst. Über lange Zeit habe der Berliner Senat sich zu stark von den Investoren abhängig ­gemacht, sagt sie dann. „Und jetzt werden die Anwohner Stück für Stück aus ihrem Kiez verdrängt.“ Torkas Blick ist fest.

André Franke (Stadtführer & Blogger „Futurberlin“), Foto: Stephanie von Becker

„Wenn sich ein ganzes Haus zusammenschließen würde, dann könnte man eher etwas gegen diesen Zustand unter­nehmen“, sagt sie. Stattdessen finde die Verdrängung leise statt, einzeln und ­unauffällig. Viele der Anwohnerinnen mussten ihre Wohnungen bereits verlassen. Die meisten der Menschen, die heute noch da sind, hätten schon lange resigniert. Ein Künstler geht hier nicht mehr weg Das erste Bauwerk, das in der Europacity fertiggestellt wurde, war der Tour Total. Das rund 69 Meter hohe Bürohaus des französischen Mineralölunternehmens Total befindet sich seit 2012 auf dem nördlichen Teil des Europaplatzes.

Inzwischen sind weitere ­Bürogebäude und Wohnblocks hinzugekommen. Ihr ­Design stammt aus der Feder namhafter Architekturbüros. Dennoch: Bis auf den neuen Firmensitz des Netzbetreibers 50Hertz, der durch eine asymmetrische Bauweise und eine netzartige Fassade heraussticht, wirken die Bauwerke des neuen Stadtteils trist und funktional. Blockrandbebauung, Rasterfassaden und eine Architektur, die an westdeutschen Siedlungsbau der 60er-Jahre erinnert. Die moderne Architektur des neuen Stadtteils ist nur schwer in Einklang zu bringen mit den schlichten Gründerzeitbauten, die noch vereinzelt in der Heidestraße stehen. Glänzende Fassaden versus alter Farbe, die von den Wänden blättert. Ein paar der alten Häuser wirken fast unbewohnt. Die Fenster sind dunkel und ohne Vorhänge, viele Klingelschilder fehlen. In der Nummer 54 sind die Klingelschilder noch beschriftet. Hier steht das Haus Kunst-Mitte, eine der letzten Galerien, die noch von früher geblieben sind. Inmitten der riesigen Baustelle wirkt das alte Gebäude wie ein Überbleibsel aus einer vergangenen Zeit. Der Eigentümer ist Manfred Bartling. Der Künstler lebt und arbeitet hier – auf knapp 700 Quadratmetern. Viel Platz für den älteren Herren und seinen Riesen­pudel namens Tao. Er sagt: „Als ich im Jahr 2002 dieses Gebäude kaufte und das Haus Kunst-Mitte eröffnete, gab es hier in der Heidestraße eine regelrechte Galerie-Schwemme.“

Bartling trägt ein beigefarbenes Sakko, sein weißer Bart ist gestutzt. Langsam führt er durch seine Galerie, öffnet Tür um Tür. Unter seinen Füßen knarrt der alte Dielenboden. Die Ausstellungsfläche ­erstreckt sich über zwei Stockwerke: lichtdurchflutete Räume mit hohen ­Decken, an den Wänden Gemälde aus über fünf Jahrzehnten. In seinem Haus Kunst-Mitte realisiert er vier Ausstellungen pro Jahr. Die Hälfte der Zeit zeigt er dabei seine eigenen Werke. Denn er sei Künstler, betont er, kein Galerist. Trotzdem stellt er seine Flächen für die übrige Zeit auch anderen Künstlerinnen zur Verfügung. Mit seiner Stiftung „Asyl für Kunst“ will er so einen Schutzraum schaffen, inmitten der harten Realität der Berliner Kunstszene.

Bartling hat nach und nach die anderen Galerien um sich herum verschwinden sehen, ihre Grundstücke wurden an private Investoren verkauft. Bartling aber blieb. „Warum sollte ich auch weggehen?“ fragt er. „Ich habe mir hier doch alles so schön eingerichtet.“

Ein Stadtführer blickt voraus

Auf der anderen Seite des Berlin-Span­dauer Schiffahrtskanals, der die Heidestraße nach Nordosten begrenzt, ragt ein ehemalige DDR-Grenzturm empor. Für den Stadtführer André Franke ist die heutige Günter-Liftin-Gedenkstätte, die an den ersten Mauertoten der Stadt erinnert, ein wichtiger symbolischer Ort. Hier kommt er oft mit seinen Gruppen vorbei. Franke blickt über den Kanal. Auf der gegenüberliegenden Seite ragen die Baustellen der Europacity in die Höhe. Mit Neubaugebieten kennt der gelernte Stadtplaner sich bestens aus – sie sind sozusagen sein Steckenpferd. Auch auf seinem Blog namens „Futurberlin“ schreibt er über aktuelle Themen der Stadtentwicklung.

Franke ist oft mit dem Fahrrad unter­wegs – privat wie beruflich. „Durch den Bau der geplanten Fußgänger- und Fahrradbrücke wird es künftig eine direkte Ost-West-Verbindung durch das gesamte Areal geben“, sagt er. „ So werden die angrenzenden Bezirke erstmals miteinander verbunden. Und das gefällt mir gut.“

Bei seinen Führungen zeigt er den Menschen am liebsten die Orte, an ­denen sich die Stadt gerade verändert. „Wo Berlin immer noch in diesem berühmten Werden begriffen ist“, sagt Franke. „Da beziehe ich mich auf ein berühmtes ­Zitat von Karl Scheffler von 1910: Berlin ist dazu verdammt, immerfort zu werden und niemals zu sein.“

Ende 2019 soll die erste der beiden Brücken in der Europacity fertig sein. Sie wird das Weddinger Ufer mit dem neuen Stadtplatz verbinden. Auch die geplante Uferpromenade wird dann voraussichtlich eröffnet. Eine weitere Brücke soll vom Quartier Heidestraße nach Westen über die Bahngleise führen und so die Europacity mit der Lehrter Straße verbinden.

Allerdings muss zunächst die tempo­räre Planung für die S-Bahnlinie 21 freigegeben werden, die die Deutsche Bahn bauen lassen will. Denn über deren ­Gleise soll die Brücke später einmal führen.

cube berlin, Europacity, CA Immo

Voraussichtlich wird dies nicht vor 2023 der Fall sein. Und auch der Start der geplanten S-Bahnlinie wird sich auf unbestimmte Zeit verzögern. Wie so oft fehlt es am Budget.

Was in der Europacity gebaut wird, ist größtenteils entschieden. Wer genau hier aber künftig leben und arbeiten wird, ob die Straßen des neuen Viertels belebt oder tot sein werden und wie sich der neue Stadtteil in die angrenzende Kiezkultur einfügen wird, muss sich noch zeigen.
Der Stadtführer André Franke sagt: „So ein neues Viertel ist nicht sexy – eben weil es neu ist. Denn alles, was neu gebaut wird, muss erst einmal belebt werden. Erst dann wird es auch interessant.“

In die Europacity ziehen, das würde Franke jedenfalls nicht.

Tip Berlin - Support your local Stadtmagazin