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Philosophin Eva von Redecker: Sie fordert eine Revolution für das Leben

In der Corona-Krise wird uns die Zerbrechlichkeit der Welt bewusst. Eine Chance für neue Protestbewegungen, findet die Berliner Philosophin Eva von Redecker. Wir haben mit ihr über Solidarität und ihr neues Buch gesprochen.

Die Philosophin Eva von Redecker bei einer Lesung. Foto: imago images / Horst Galuschka
Die Philosophin Eva von Redecker bei einer Lesung. Foto: Imago Images/Horst Galuschka

Eines der kurioseren Phänomene in den ersten Monaten von Corona war das Decamerone-Syndrom. Menschen, die es sich leisten konnten, zogen sich aufs Land zurück und sahen aus halbwegs sicherer Distanz und mit schnellem Internet der nervösen Welt beim Versuch zu, mit einem neuen Virus zurechtzukommen. Die Philosophin Eva von Redecker, eine der wichtigsten jüngeren intellektuellen Stimmen, verbrachte diese Monate in einer vergleichbaren Situation: in der Kommune im Ruppiner Land, in der
sie schon seit einigen Jahren lebt.

Allerdings ging es bei ihr nicht um Weltflucht und Idylle, sondern um das Gegenteil. Sie schrieb ein Buch über Politik für eine Welt, in der sich vieles, vielleicht sogar alles ändern muss. Es heißt „Revolution für das Leben – Philosophie der neuen Protestformen“.

Bis 2019 war Redecker an der Humboldt Universität akademisch tätig, demnächst wird sie eine neue Stelle in Verona antreten. Mit dem aktuellen Buch zeigt sie, dass sie über die Universität hinaus ein größeres Publikum
ansprechen kann. Das Gespräch mit dem tip findet schließlich per Skype statt, auch wenn Redecker mit dem Regionalexpress immer wieder nach Berlin kommt.

Eva von Redecker über die Politisierung des Lebens

Wir beginnen mit einer allgemeinen Frage: Was zeichnet für Redecker die gegenwärtige Situation aus? „Es gibt eine neue Erfahrung des entfesselten, aus der Systemkonkurrenz befreiten Kapitalismus und merkliche Änderungen durch die einsetzende Klimakatastrophe. Der Ausnahmezustand durch die Pandemie ist im Grunde nur ein Schauplatz innerhalb der großen Katastrophe im Naturverhältnis. Auf Deutschland
bezogen: Wir sehen uns in unseren begüterten Lebensrealitäten mit der Zerbrechlichkeit des Lebens konfrontiert.“

Das Leben ist der Schlüsselbegriff in ihrem Buch. Ist das nicht vielleicht ein bisschen sehr allgemein? Diesem möglichen Einwand entgegnet Redecker mit Blick auf heute prägende Bewegungen: „Zum Teil sind es einfach neue Gruppen wie Fridays for Future, bei denen ich wahrnehme, dass sie das Leben selbst politisieren, noch vor Fragen von Umverteilung oder Bürgerrechten. Das Motiv taucht in kleineren Mobilisierungen auf, aber auch in einer großen Bewegung wie der antirassistischen Black Lives Matter.

BML Demonstration in Berlin. Foto: imago images/Christian Spicker
BML Demonstration in Berlin. Foto: imago images/Christian Spicker

An vielen Orten mobilisieren Menschen gegen einen sozialen oder politischen Tod.“ Und sie skizziert, wie ein revolutionäres Leben aussehen könnte: Das wäre ein „freies, sprudelndes, gelingendes, solidarisches Leben
im Unterschied zum bloßen Überleben oder Leben als ständiger Konkurrenz“.

Politische Theorie hat häufig eine Tendenz zum Utopischen, und auch in „Revolution für das Leben“ gibt es einen langen Teil, der nach vorne blickt, in eine Zukunft, die sich aus dem Widerstand gegen die Destruktivität des gegenwärtigen Systems einmal erheben könnte.

Die junge Linke: Solidarität und Sensibilität

Gleichzeitig ist Redecker bestens in die manchmal ganz schön komplizierten Debatten unter jüngeren Politaktivist*innen eingebunden,
in denen es häufig zuerst einmal darum geht, wer überhaupt über was sprechen darf. „Ich erlebe mich da selber auch schon manchmal ein bisschen wie eine Oma in dieser Hinsicht, wenn ich sehe, wie standpunkttheoretische Fragen diskutiert werden: Kann man aus dieser oder jener Position mit jener anderen überhaupt Empathie empfinden?
Da würde ich spontan meinen: So geht doch jede Art von Solidarität verloren. Am übernächsten Tag aber organisieren diese jungen Leute eine situationistische Aktion zum Berliner Wohnungsmarkt. Ein Teil der
Altlinken will diese jungen Leute als zu sensibel verschreien, aber da habe ich viel gelernt.“

Die „Oma“ ist übrigens Jahrgang 1982, wurde in Kiel geboren, und sie kennt
Berlin noch aus einer Zeit vor dem Immobilienhype. „Ich bin nach Berlin gezogen, bevor das Silver Future, eine wegweisende queere Bar in Neukölln, aufgemacht hat. Mit solchen Markierungen erinnern wir uns heute. Damals konnten wir es gar nicht fassen, dass es in Neukölln plötzlich eine Bar mit bayerischem Bier gibt – das Freie Neukölln. Leider konnte man wunderbar studieren, wie diese Belebung in kürzester Zeit zur Übernahme
durch das einkommensstarke Segment der Bevölkerung geführt hat.“

Eva von Redecker entschied sich, auf Land zu ziehen

In Berlin hat Redecker auch prägende Erfahrungen gemacht, die nun in ihre theoretischen Überlegungen eingehen: „Ich bin sehr ahnungslos auf bestimmte aktivistische Kontexte getroffen und war schnell vollkommen fasziniert von solidarischen Ökonomien, und seien es bloß WGs, die ihr
gesamtes Einkommen teilen. Mit der Entscheidung, aufs Land zu ziehen und eine permanente Baustelle zu teilen, rückte plötzlich das Vertrauen zueinander und wie man mit den Dingen umgeht, ganz neu ins Zentrum.“

Im Brandenburgischen erlebt Redecker nun auch sehr konkret, wie das Klima zu einem Indikator der politischen Großwetterlage geworden ist. Die Trockenheit ist kein bloßes Wetterphänomen mehr. „Es ist
Wahnsinn. Schon vor zwei Jahren habe ich aus dem Zug immer fassungslos auf diese Äcker gestarrt und konnte nicht verstehen, dass nicht alle darüber reden. Sicher hat es damit zu tun, dass ich selbst auf einem Hof aufgewachsen bin, dass ich das dringende Bedürfnis habe, anzusprechen, dass die Wiese gelb ist. Ich will mein Leben so umstricken, dass es sich diesem Eindruck stellt.“

Nach dem Lesen ihres Buches wird man sich diesem Vorsatz wohl eher anschließen wollen.

  • Revolution für das Leben – Philosophie der neuen Protestformen, Eva von Redecker, S. Fischer Verlag, 23 €

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