• Stadtleben
  • Die Stilllegung der Oranienstraße – Kreuzberg wird Provinz

Kommentar

Die Stilllegung der Oranienstraße – Kreuzberg wird Provinz

Die Oranienstraße soll zur „Flaniermeile“ werden – weg mit den Autos, ein Grünstreifen in die Mitte gelegt, totale Beruhigung. Die Verkehrswende des Senats nimmt konkrete Züge an und im grünregierten Kreuzberg vollzieht sich der Wandel besonders radikal. Punk ist tot, die Erben- und die Müslifraktion haben den Kulturkampf im sagenumwobenen Bezirk gewonnen. Ein Kommentar von Jacek Slaski.

Alles so schön hier, bald soll aus der Kreuzberger Oranienstraße eine Flaniermeile werden. Foto: Imago/Schöning
Alles so schön hier, bald soll aus der Kreuzberger Oranienstraße eine Flaniermeile werden. Foto: Imago/Schöning

Der Autoverkehr wird in Kreuzberg schrittweise abgeschafft

Kreuzberg, so stellt sich Annika Gerold von den Grünen wohl vor, das sind lustige nette Familien mit viel Nachwuchs, die gerne im Bioladen einkaufen und mit Lastenrad zum Kinderladen fahren. Denn genau für diese Klientel macht die 36-jährige Stadträtin in Friedrichshain-Kreuzberg Politik. Gerold ist auch für den Verkehr im Bezirk zuständig, gerade erst hat sie die Begrünung und Stilllegung der geschichtsträchtigen Oranienstraße beschlossen. 2024 soll es soweit sein, dann dürfen nur noch Busse und Anlieger über die Hauptschlagader von Kreuzberg 36 fahren. Der Autoverkehr wird, wie schon am benachbarten Lausitzer Platz und de facto an der Bergmannstraße, abgeschafft. Die Idee ist nicht neu; auch die frühere Bezirksbürgermeistern Monika Herrmann, Gerolds Parteifreundin, arbeitete an der Umsetzung.

Es ist ein Kulturkampf gegen das Auto und ganz offensichtlich gegen die Bedürfnisse vieler Kreuzberger und Kreuzbergerinnen, die Auto fahren – sonst gäbe es ja nicht so viele davon im Kiez. Ein Kiez, der stadtbekannt ist als Drogenumschlagplatz, Stichwort Görlitzer Park, und für lange Nächte grölender Besoffener, die ihre Billig-Cocktails nicht verkraftet haben und die Menschen wachhalten. Ein Kiez, in dem genau diese Probleme aber, dieser Eindruck drängt sich für manche auf, lieber hintenangestellt werden. Denn die grüne Politik hat derzeit vor allem ein zentrales Feindbild, das Auto. Egal wer es fährt und weshalb, ob es ein kleiner Elektroflitzer oder ein aufgepumpter SUV ist, es soll weg. Weg, weg, weg.

Alles andere im Bezirk scheint egal zu sein oder wird ohnmächtig hingenommen. Die Grünen haben sich der Gentrifizierung im Bezirk zwar immer mal ein bisschen in den Weg gestellt, sie aber auch nicht aufhalten können, trotz Regierungsauftrag im Bezirk. Am Ende konnten sie auch nur zusehen, wie das Kommerzmonster Mercedes-Benz-City in ihren Zuständigkeitsbereich gebaut wurde, wie die Mieten stiegen und wie die Menschen mit den dickeren Portmonees den Alteingesessenen den Kiez unbezahlbar machten.

Längst sind die Grünen eben eine neoliberale Partei

Längst sind die Grünen in den Augen vieler Kritiker eine neoliberale Partei, die sich den „Gesetzen des Marktes“ unterwirft. Wohl aus Imagegründen und als medientaugliches Alleinstellungsmerkmal und letzte Unterscheidung etwa zur FDP oder CDU pflegt die Partei, vor allem eben in Kreuzberg, dazu eine autofeindliche Stimmung. Damit trifft sie zwar den Nerv von linken Akademikerfamilien mit Eigentumswohnung sowie Singles, die gerne in neu eröffnete Hipster-Restaurants oder ins Berghain gehen, aber ignoriert einen großen Teil der restlichen Berliner und Berlinerinnen.

Und sie ignoriert auch eine Entwicklung. Dass es weit weniger Unfälle in Berlin gibt als noch in den 1980er- oder 1990er-Jahren, scheint für sie irrelevant zu sein. Dass längst die Autos mit Katalysatoren ausgestattet sind und immer mehr auch elektrisch fahren, wodurch sich der Schadstoffausstoß verringert – geschenkt. Das Auto muss weg! Früher war man bei den Grünen wenigstens noch gegen die Pershings oder Atomkraftwerke. Zur Demo im Wendland fuhr man aber mit dem alten Golf oder dem VW-Bus.

In Westdeutschland nannte man solche Konzepte Fußgängerzone

Die Oranienstraße soll also eine „Flaniermeile“ werden, dazu gab es im Vorfeld Treffen der Bezirkspolitiker und Stadtplaner mit den ansässigen Gewerbetreibenden. Man hört von einem beteiligten Ladenbesitzer, das Projekt sei zwar vorgestellt und diskutiert worden, er habe bei den Gesprächen aber den Eindruck gewonnen, das Ergebnis stehe sowieso längst fest. Schon heute ahnt man, dass bei der Entscheidung Probleme ignoriert wurden, die offensichtlich sind und die sich nach der Verkehrsberuhigung zwangsläufig einstellen dürften. Dass sich etwa die Nebenstraßen zu Durchfahrtspisten entwickeln oder die Neuregelung der Ladezonen ins Chaos führen wird. An der Oranienstraße muss nahezu ständig irgendetwas ausgeliefert werden. Dutzende Läden, Restaurants, Spätis, Kneipen, Büros und Institutionen befinden sich auf dem Abschnitt zwischen der Skalitzer Straße und dem Moritzplatz.

Alles egal, Grünstreifen ab 2024. Übrigens, liebe Frau Gerold, so etwas ist keine neue Idee, in Westdeutschland nannte man das Konzept bereits in den 1970er-Jahren Fußgängerzone, die war in Berlin zum Glück nie besonders verbreitet. Auch ein Grund, weshalb sich Berlin von den Städten unterschied, aus denen die ganzen Leute flohen, auf der Suche nach einem interessanteren Lebensgefühl. Nach „mehr Stadt“. Dazu gehört auch der Verkehr.

Der Verkehr soll aber weg. So wie die Kohleöfen, günstige Mieten und Zigaretten aus dem Alltag verschwinden, verschwinden auch bald die Autos. Kreuzberg wird zum Bullerbü, erfunden am Reißbrett der Politik. Eine innerstädtische Öko-Provinz mit Grünstreifen, Fahrradautobahnen, Eichhörnchen und teuren Wohnungen, die sich die Erbengeneration mit internationalen Investoren teilt. Nur hier und da wird eine brandenburgische Abiturklasse, mit Happy-Hour-Cocktails abgefüllt, grölend durch die Oranienstraße ziehen und das heimelige Neoglück stören.

Disclaimer: Der Autor ist in Kreuzberg aufgewachsen und wohnt unweit der Oranienstraße. Er hat sein Leben lang die Grünen gewählt (das Leben ist ambivalent).


Mehr Berlin

Das Mammutprojekt Verkehrswende: So will Berlin gen Zukunft radeln. Fusion Festival – die besten Fotos aus den vergangenen 20 Jahren. Rebellisches Berlin – Expeditionen in die untergründige Stadt. Jugend in Ost-Berlin: FDJ, Punks und Gruftis – 12 Fotos aus den 1980er-Jahren. 12 Dinge, die man über David Bowie in Berlin wissen sollte.

Berlin am besten erleben
Dein wöchentlicher Newsletter für Kultur, Genuss und Stadtleben
Newsletter preview on iPad