Blase voll, Beine über Kreuz, Kabine auf und Hose runter. Endlich pinkeln! Der Berliner Fotograf Florian Reimann fängt den intimen Moment der Erleichterung seit 2012 mit der Kamera ein. Genauer: Er fotografiert sich beim Pissen in Berliner Club- und Bartoiletten. Man kann sich ekeln, man kann auch fasziniert sein. Reimann verbildlicht den täglichen Toilettengang glanzvoll – so ästhetisch, dass man ihn auf Fine Art Prints und verzwölffacht im Kalender erwerben kann.
Florian Reimanns Projekt „Pee Berlin“ ist ein wunderbarer Gesprächsstarter
Das Café in dem wir Reimann zum Gespräch treffen, hat er sich selbst ausgesucht. Der Außenbereich ist gemütlich, grün und so ganz anders als der nahgelegene trübselige Hermannplatz. Reimann wollte das Café schon immer einmal ausprobieren, erzählt er, als er gemütlich eintrudelt. Der gebürtige Brandenburger zog in den 2000er-Jahren in die Großstadt, in einer Zeit, die von langen Barnächten und Clubgängen geprägt war.
Reimann arbeitet üblicherweise als Portrait- und Dokumentarfotograf, wobei Eventfotografie seine „cash cow“ sei, wie er es beschreibt. Da fällt „Pee Berlin“, ein Projekt zwischen kunstvoller Hochglanzfotografie und rauen Alltagsschüssen, deutlich aus der Reihe. Der Wahlberliner klingt dennoch routiniert, wenn er davon spricht – kein Wunder, nach mehr als 200 Fotografien und über einer Dekade Arbeitsprozess. Es sei immer ein wunderbarer Gesprächsstarter gewesen, merkt Reimann an.
Reimann hat mit 27 Jahren eine Fotografenausbildung angefangen, zuvor hatte er Kommunikation studiert und eine kaufmännische Ausbildung absolviert. Seine Passion für Fotografie war trotz Umwegen lange vorbestimmt, die Point-and-Shoot-Kamera trug Reimann schon in frühen Jahren ständig mit sich herum. Der Impuls, „Pee Berlin“ ins Leben zu rufen, kam 2012 in einem Seminar über Projektentwicklung. An jenem Tag forderte ihn seine Dozentin dazu auf, freie Projekte konzeptionell zu entwickeln. Reimann erinnert sich an ihre Worte: „Guckt einfach mal in eure Lebenswelt, wo ihr so unterwegs seid, und entwickelt daraus Ideen. Das ist viel nachhaltiger, das hat viel mehr mit euch zu tun und es gibt eh schon alles, also probiert gar nicht, euch ein Bein auszureißen, tut einfach, was euch bewegt und was ihr so feiert.“
___STEADY_PAYWALL___
Stichwort: Feiern. „Zu dem damaligen Zeitpunkt war ich total viel im Nachtleben unterwegs. Habe Berlin regelrecht eingesogen“, erinnert sich der Fotograf, „da lag das irgendwie nahe, mich in diesem Ausgehkontext zu fotografieren. Hatte das dann mal irgendwo gezeigt und die Reaktion darauf war super vielschichtig, aber immer positiv interessiert.“ So entstand über die Jahre eine Art Typologie, die Reimann bei freien Projekten sowieso total liebe. Mehr als ein Jahrzehnt später ist Reimann erfolgreicher Berufsfotograf für Klienten wie „Vogue“ und „Süddeutsche Zeitung“, und „Pee Berlin“ ist von einem „just for the lols“-Projekt zu einem selbsttragenden Nebenprodukt geworden.
Pissoirs sind die schöneren Motive
Toiletten im Nachtleben werden schnell von ihrem ursprünglichen Zweck entfremdet, um zu Lust- und Erleichterungsorten zu werden: ekstatischer Sex, dicke Lines oder auch einfach eine geheimnisvolle Schnackerei. Was auf der Toilette passiert, bleibt auf der Toilette. Nicht aber für Reimann, denn genau diese Verschwiegenheitsbarriere bricht er, indem er Material für den voyeuristischen Blick schafft. So werden wir alle zum pinkelnden Fotografen. „Auf Berliner Toiletten gibts einfach viel zu gucken“, deshalb bleibt auch die deutsche Großstadt weiterhin Dreh- und Angelpunkt des Projekts. Von der Weinerei am Weinbergpark, der Ankerklause am Maybachufer und zum inzwischen geschlossenen Farbfernseher in der Skalitzer Straße. Reimann war mit seiner Kamera schon überall.
Respekt vor anderen Pissenden
„Es kamen schon lustige Gespräche zustande“, erzählt er und muss ein wenig lachen, „mit dieser Brennweite und der Kamera fotografiere ich nur ein ganz bestimmten Winkel, sodass die Person neben mir sicher nicht drauf ist. Das ist mir total klar, aber der anderen Person vielleicht nicht.“ Leute gehen oft von einem normalen Smartphone mit Weitwinkel aus, wenn das so wäre, wären direkt drei Pissende nebeneinander, erklärt Reimann. Das vermeide er natürlich, denn er selbst sei ja auch nicht im Bildausschnitt. Und notfalls verschwindet er einfach in eine Kabine, wenn es zu voll wird.
Sowieso sind Reimanns Entstehungsprozess mittlerweile äußert routiniert und wenig spontan: Er brauche genug Druck auf der Blase, müsse immer einen Schritt zurückgehen und sich mit Spannung entleeren. Und dann natürlich der technische „crispy Blitz“ der Point-and-Shoot-Kamera. Wenn das alles stimme, nehme er genau zwei Fotografien auf.
„Pee Berlin“ soll viele amerikanische Fans haben
Im Vorgespräch zum Interview verrät Reiman, dass er eine auffällig große Followerschaft in Amerika hat. So ganz kann er sich das selbst auch nicht erklären, holt er dann beim persönlichen Treffen aus. Vielleicht sei die eine oder andere Fotografie über den See geschwappt, vielleicht habe eins der vielen Toilettengespräche internationale Wellen geschlagen oder vielleicht auch durch die Fine Art Prints, die sich eine Zeit lang gut verkauft haben. Übersee-Followerschaft hin oder her, mit „Pee Berlin“ trifft Reimann auch noch zwölf Jahre später den Zeitgeist der Hauptstadt und spricht alle an, die sich mehr Edginess und Absurdität zuhause wünschen: Reimanns „Point of View“-Pinkelbilder können auch dieses Jahr wieder als Kalender erworben werden.
Immer noch Druck auf der Blase? Hier gibt’s eine Auswahl an Öffentlichen Toiletten in Berlin: Vom Café Achteck zur City Toilette. Oft planlos, wo die nächste öffentliche Toilette ist? Es gibt „EasyPZ“, die öffentliche Toiletten in eurer Nähe findet. Ihr habt euch schon immer gefragt, was hinter der Geschichte des „Café Achteck“steckt? Hier erfahrt ihr mehr.