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Das Ende von Friedrichshain: Die Subkultur des Szenestadtteils rebelliert

A100, Amazon-Tower, RAW-Umbau: Die Verwertungsmaschine frisst sich durch Friedrichshain. Doch die Subkultur des Szenestadtteils rebelliert – gegen Gentrifizierung und Betonwahnsinn. Ist das Ende von Friedrichshain, wie wir es kennen, besiegelt, oder gibt es noch Hoffnung? Die letzten Kiezrebellen und gallischen Dörfer geben zumindest noch nicht auf. Eine Reportage zwischen Optimismus und Verzweiflung.

Die Kiezrebellen Friedrichshain vor der Pandion-Baustelle neben dem Zukunft am Ostkreuz. Foto: Saskia Uppenkamp

Das Ende von Friedrichshain: Endgegner Autobahn

Friedrichshains Antwort auf die A 100 ist kollektives Fahrradfahren. 8. April, Einfahrt in den Stadtteil, der als eine Hochburg des linksgrünversifften Widerstands gilt. Ein Strom aus rund 500 Fahrradfahrenden bedeckt die Elsenbrücke. Ihre Klingeln schrillen über die Spree, aus einem mobilen Verstärker erklingt Kraftwerks „Autobahn“. „Burn Ca(r)pitalism“ fordert ein flammenfarbenes Protestschild. 

Entlang der künftigen Trasse des 17. Abschnitts der A 100 fahren die Demonstrant:innen auf dem Markgrafendamm durch ein Spalier von Subkultur-Hochburgen. Rechts die Clubs Else und Wilde Renate und ein Gewerbehof, der seit den Neunzigern Raum für Wohnwagen und Austeiger:innen bietet, links der Veranstaltungsort Zukunft am Ostkreuz und der Techno-Club About Blank. Fast alle stehen der Autobahn im Weg, die das FDP-geführte Bundesverkehrsministerium hier entlangbetonieren will. Und der eine Ort, der bleiben könnte, wird von der Gentrifizierung erledigt.

Das Ende von Friedrichshain? Bei der Abschlusskundgebung gegen den 17. Bauabschnitt der A 100 vor dem About Blank kommt Revolutionsstimmung auf. Foto: Lennart Koch

Die Demo endet am About Blank. Graffiti, Bretterzaun, blätternder Putz. Obendrauf ein Banner: „Nie wieder Autobahn“. Aus dem Fenster über der zugestickerten Eingangstür peitschen Aktivist:innen die Masse auf. Zwischendurch erklingt Industrial-Punk. Eli vom Blank-Kollektiv stützt ihre Ellenbogen auf das Fensterbrett und fragt die Menge: „Gibt es einen dankbareren Endgegner als eine Autobahn?“ Das Klingeln der Radler schrillt über die Straße vor dem Club. Eli holt kurz Luft und beugt sich ein Stück aus dem Fenster. „Bei gigantomanischen Popanzprojekten aus dem vorherigen Jahrtausend sind wir traditionell in Steineschmeißlaune.“

So revolutionär er auch gemeint ist, der Widerstand wirkt zaghaft, angesichts dessen, was drumherum passiert: Direkt hinter dem About Blank entsteht der Luxusbüro-Komplex Ostkreuz-Campus, an der Warschauer Brücke wird gerade der 140-Meter-Amazon-Tower als Krone des Mercedes-Benz-Viertels in die Höhe gezogen, das RAW-Gelände steht vor einem grundlegenden Umbau, unter anderem mit einem 100-Meter-Hochhaus.  Mit jeder Wertsteigerung in der Nachbarschaft klettern die Preise für Wohnungen in immer astronomischere Höhen. Der ehemals alternative Szenestadtteil Friedrichshain wird bald vermutlich kaum mehr sein als ein gut erreichbares Spekulationsobjekt für internationales Kapital.

Backstein-Bretterbude oder Monumentalkomplex?

Friedrichshain ist noch berühmt für seine rauen Seiten und die Nischen, den Backstein-Bretterbuden-Charme: Bars, Clubs, Kunst, Graffiti und Freiräume für alternative Lebensformen. Durch solche Orte und die dort gelebte Kreativität werden Gegenden, wurde unsere ganze Stadt für Investoren interessant. Lebendige Kieze verkaufen sich gut. Nur dass sie dann selten lebendig bleiben. Sind die geplanten Neubauten das Ende des Freiraums Friedrichshain? 

Von den vielen subkulturellen Orten in Friedrichshain hat nur ein Bruchteil überlebt. Wo der Berghain-Vorgänger Ostgut Raum für queere Fans des Exzesses bot, befindet sich heute die East-Side-Mall. Auf die Geschichte des unsäglichen Mercedes-Quartiers blicken wir hier zurück. Der Rockclub Razzle Dazzle liegt unter einem Zalando-Gebäude begraben, er war einer der berühmtesten Berliner Clubs der 1990er-Jahre. Morlox und Rosi’s wurden zugunsten von Büros und Eigentumswohnungen planiert. Zuletzt wurde 2021 mit dem Nuke-Club eine der letzten Rock- und Goth-Bastionen verdrängt. 

Die Gegend rund um den Mercedes-Platz ist längst zur Investorenspielwiese mutiert. Luxusbauten wie das Upside Berlin verändern den Stadtteil. Foto: Imago/Christian Thiel

Die Autobahn wird Friedrichshain von Lichtenberg trennen, parallel zur Ringbahntrasse. Auch auf der Lichtenberger Seite davon gibt es monumentale Bauprojekte. Das B: Hub, ein 3.000-Plätze-Büroriegel, steht kurz vor der Eröffnung, daneben werden ein Aquarium und ein Hotelkomplex gebaut. Gehen mussten dafür Berlins größtes Obdachlosencamp und der Club Rummels Bucht. Neben Coral World, Investa GmbH und Groth Gruppe gehört natürlich auch Friedrichshains gefürchtetster Großinvestor Padovicz, der unter anderem das stadtbekannte Hausprojekt Liebig 34 auf dem Gewissen hat, zu den Big Playern der Rummelsburger Kapitalmaschine.

Wenige Friedrichshainer Subkultur-Spielstätten haben es geschafft, sich langfristig abzusichern. Der wohl bekannteste Berliner Techno-Club ist das Berghain, das Gebäude gehört seinen Betreibern, das Holzmarkt-Gelände erwarben ehemalige Bar-25-Macher mit Hilfe einer Schweizer Genossenschaft, heute gibt es dort den Nachfolgeclub Kater Blau, einen öffentlich zugänglichen Park, Swing-Tanz und Intimitätsworkshops. In den 2000er-Jahren hatte die Bar 25 mit anderen bedrohten Clubs zehntausende Raver auf Demos gegen die Bebauung des Spreeufers versammelt. Auch der Reggae-Ragga-Dancehall-Club Yaam rief dazu auf, er ist inzwischen in den ehemaligen Räumen der Maria am Ostbahnhof untergekommen, und auch in Zukunft soll das Yaam dem Bezirk erhalten bleiben

Das Ende von Friedrichshain: Der Club Wilde Rente liegt auf der Trasse des 17. Bauabschnitts der A 100. Die letzten Bretterbuden vor dem Aus? Foto: Imago/Jürgen Held

„Die Geschichte der Kämpfe in dieser Stadt zeigt, dass sie meistens mit Niederlagen enden. Trotzdem kämpfen wir weiter“, sagt Eli vom Techno-Club About Blank. Sulu, ebenfalls Teil des Blank-Kollektivs, sieht die Verantwortung zum Widerstand in der Stadtgesellschaft: „Nur von unten können wir Verdrängungsprozesse und Verwertungsinteressen stören, ausbremsen, durchkreuzen und scheitern lassen.“ Mit zwölf Party-Jahren gehört das About Blank in der Berliner Clublandschaft zu den Institutionen. „Wir verstehen uns als Barrikade“, sagt Sulu, „wir wollen ein Schandfleck sein in einer sauberen Stadt.“

Berliner Koalition gegen den 17. Bauabschnitt der A 100: „Bereit, zu eskalieren“

20.000 Menschen unterschrieben eine Petition gegen den Autobahn-Weiterbau, die Fraktionen der Grünen und der Linken im Berliner Abgeordnetenhaus sind auf ihrer Seite, die SPD ist gespalten. „Das ist verkehrspolitischer Wahnsinn“, schimpft Werner Graf, Fraktionsvorsitzender der Grünen im Berliner Abgeordnetenhaus, am Telefon, „das ist ein Rückschritt in die 50er Jahre, in denen man dachte, dass man mit einer Autobahnschneise eine Stadt gestalten könnte.“ Das Vorpreschen des Verkehrsministers Volker Wissing von der FDP sei „ein klares Foulspiel.“

Bereits der 16. Bauabschnitt der A 100 führte zu massiven Protesten. Der 17. Mitten durch Friedrichshain ist noch umstrittener. Foto: Imago/Schöning

Momentan prüfe man rechtliche Schritte, um gegen das Bauvorhaben vorzugehen. Die Möglichkeiten sind jedoch begrenzt, da die Entscheidungshoheit über das deutsche Autobahnnetz seit 2021 allein bei der Bundesregierung liegt. „Trotzdem werden wir alles tun, um den 17. Bauabschnitt der A 100 zu verhindern“, sagt Graf. 

Kristian Ronneburg, der verkehrspolitische Sprecher der Linksfraktion, hatte einen Tag vor der großen Fahrraddemonstration gegen die A 100 im Berliner Abgeordnetenhaus verkündet, die Linke sei „bereit, zu eskalieren.“ Der sozialdemokratische Verkehrsexperte Stephan Machulik stichelte gegen die FDP: „Arbeiten Sie nicht an den Träumen ihrer Großväter.“ Laut Felix Reifschneider von der FDP-Fraktion ist die A 100 notwendig, um den „Verkehr zu bündeln und Wohnviertel zu entlasten“. Aufsehen erregte die Berliner CDU mit ihren Plänen, die A 100 als „Klimaautobahn“ zu gestalten. Bettina Jarasch, Grüne, Verkehrssenatorin und Bürgermeisterin, schrieb tipBerlin, die Politik müsse „zugunsten von Menschen, nicht von Autos“ entscheiden.

Das Ende von Friedrichshain: Ostkreuz ohne Zukunft

Der einzige Freiraum, den die Autobahn am Markgrafendamm nicht zermalmt, ist das Zukunft am Ostkreuz: zwischen Brachen, Baustellen und Bahngleisen ist es seit über zehn Jahren als Kulturzentrum ein wichtiger Treffpunkt für den Kiez und aufstrebende Künstler:innen. Das Angebot umfasst Konzerte, (Freiluft-)Kino, Theater, Kunst und Kneipe zu günstigen Preisen. Doch auch das Zukunft hat keine Zukunft. Zumindest nicht an diesem Ort.

Nicht alle finden sich mit dem Ende von Friedrichshain ab: Max vom Zukunft am Ostkreuz (rechts), Timo von „Wem gehört der Laskerkiez” (zweiter v. rechts) und Mitstreiter. Foto: Saskia Uppenkamp

Am 31. März ist der Mietvertrag ausgelaufen. Die angrenzenden Bauzäune der Firma Trockland sind Vorboten von A Laska, zweier moderner Bürogebäude, die westlich und östlich direkt neben das Zukunft gebaut werden sollen. Die Immobilienfirma ist auch für den ambitionierten Hotel- und Wohnkomplex PIER 61I63 am Friedrichshainer Spreeufer und das Upside Berlin nahe des Mercedes-Benz-Platzes, ein Luxus-Wohnensemble bestehend aus einem 86 Meter und einem 95 Meter hohen Turm voller Eigentumswohnungen, verantwortlich: Bauprojekte, die Berlin verändern werden.

Auf der Homepage von Trockland heißt es, man verfolge beim Bauprojekt in der Laskerstraße „die Vision einer grünen, lebendigen Nachbarschaft, in der Menschen gern arbeiten und leben.“ Das Zukunft am Ostkreuz hat in dieser Vision keinen Platz. „Plötzlich befanden wir uns mitten auf einer riesigen Baustelle“, sagt Max vom Zukunft. „Das ist wie im wilden Westen mit den Gewerbemietverträgen, man hat eigentlich gar keine Rechte.“

Die Kündigung kam im Spätsommer 2021. Frist: sechs Monate. Der Kiez solidarisierte sich auf Demonstrationen und Aktionstagen. Fast 29.500 unterschrieben eine Petition zum Erhalt des Zukunft am Ostkreuz. Ein „Zukunftsrat“ gründete sich aus Betroffenen und bezirks- und landespolitischen Akteur:innen. Der Rat empfahl dem Eigentümer, das Zukunft im Erdgeschoss zu erhalten und darüber Büros zu bauen, der lehnte jedoch ab. Max vom Zukunft sagt: „Immerhin hat er uns nochmal zwei Monate Zeit gegeben“. Bis mindestens Ende Mai kann das Zukunft in der Laskerstraße bleiben, was danach passiert, bleibt ungewiss.

Auch Vertreter der Bezirkspolitik solidarisieren sich mit dem wichtigen Kulturstandort: Florian Schmidt, Baustadtrat in Friedrichshain-Kreuzberg, ist Teil des Zukunftsrats. Er sagt: „Es ist sehr schade, dass das kooperative Modell für das Zukunft bisher nicht vereinbart werden konnte, aber wir haben als Bezirk bei privaten Flächen kaum Handlungsspielraum.“ Daher müsse auf Kooperation mit Investoren oder auf kommunale Flächen zurückgegriffen werden. „Nur so können wir den innovativen Geist der Berliner Subkultur erhalten“, sagt er. Für das Zukunft am Ostkreuz sei momentan ein Ersatzgrundstück in Alt-Stralau in Aussicht. Was der Eigentümer mit dem bisherigen Grundstück vorhat, ist noch nicht öffentlich. 

Eine Oase zwischen Brachen und Baustellen. Das Zukunft am Ostkreuz. Foto: Saskia Uppenkamp

Auf der Ostseite des Markgrafendamms will International Campus möblierte Studentenwohnungen vermieten, in der Kreuzberger Filiale kosten 17 Quadratmeter über 700 Euro im Monat. Direkt südlich des Zukunft in Friedrichshain drehen sich die Kräne. Ein Zaun versperrt die Sicht auf eine Baustelle, auf der am Zaun befestigten Verkleidung sieht man leger gekleidete Menschen, die sich auf einer großen Terrasse unterhalten, im Hintergrund amüsieren sich zwei Kolleg:innen beim Tanz. Die Immobilienfirma Pandion baut hier den Ostkreuz-Campus.

Besonderes Aufsehen erregte Pandion Ende 2021 als die Firma Anwaltsschreiben an Verfasser:innen kritischer Google-Rezensionen verschickte. Auf der Homepage der Firma wird der Ostkreuz-Campus als Vorreiter der „Arbeitswelt von morgen“ zelebriert. Die innovativen Büros sollen durch die Integration von großzügigen Sozialbereichen „perfekte Work- und- Life-Balance“ schaffen. Und so „Teil dieser dynamischen Gemeinschaft“ im Laskerkiez werden. Mathias Groß, Niederlassungsleiter der Pandion AG, schrieb tip Berlin: „Das Projekt wird den Kiez aufwerten.“

Kiezrebell Timo: „Wir wollen das retten, was noch zu retten ist“

„Das ist eine absolute Frechheit“, sagt Timo, der sich seit Frühling 2021 mit dem Nachbarschaftsbündnis „Wem gehört der Laskerkiez“ gegen das Bauprojekt stellt. „Die suhlen sich darin, wie sehr der Kiez davon profitieren würde, dabei hat wirklich niemand hier Bock auf den Scheiss.“ Auf den Freiflächen solle der Bezirk lieber bezahlbaren Wohnraum schaffen, statt „noch so einer Luxusfirma in die Karten zu spielen.“

Timo steht vor dem About Blank, während die Vorbereitungen zur A-100-Kundgebung laufen. Eine junge Familie begrüßt ihn herzlich, eine Freundin aus dem Zukunft bringt Bier mit, Aktivist:innen wünschen ihm Glück für seine Rede. Im Kiez kennt man sich untereinander. Über 200 Nachbar:innen sind in einer Telegram-Gruppe vernetzt. Gemeinsam veranstalten die Kiezrebellen Demonstrationen, Aktionstage und Kiezspaziergänge. „Wir wollen das retten, was noch zu retten ist“, sagt Timo, „wir wollen der Politik klar machen, welch fatale Auswirkungen diese Bauprojekte auf unseren Kiez haben.“

Das Ende von Friedrichshain: Baustelle für möblierte Apartments am Markgrafendamm. Dahinter: B:Hub-Büroblock. Foto: Saskia Uppenkamp

Viele Verträge von umliegenden Spätis und Kneipen liefen in den nächsten Jahren aus, sagt Timo, die Büros würden kaufkräftigere Menschen in den Kiez locken, Vermieter könnten auf Eigenbedarf klagen und die Wohnungen im Anschluss für das Doppelte anbieten oder zu Eigentumsapartments umwandeln. „Es wäre einfach, pessimistisch zu sein, aber wir kämpfen um jeden einzelnen Ort und für jeden Mieter“, sagt Timo. 

Das Nachbarschaftsbündnis konnte auch schon Erfolge feiern. So wurde durch eine Demonstration im Herbst 2021 ein Eigentümer am Rudolfplatz überzeugt, die Kündigung einer Familie, die seit 20 Jahren im Kiez wohnt und einen Späti und Backshop betreibt, zurückzuziehen. „Das war echt rührend. Eine Schulklasse hat Poster bemalt mit Donuts drauf, die sie sich da immer in der Pause holen“, erzählt Timo, „auch die Stammkunden, die da immer ihr Bier trinken, waren dabei.“

Die Mainzer Straße war die Hochburg der Friedrichshainer Hausbesetzer-Szene. 1990 wurde sie unter massiven Ausschreitungen geräumt. Heute ist hier von Alternativkultur kaum noch was zu spüren. Foto: Imago/Werner Schulze

Das Ende von Friedrichshain: Abriss eines Spielplatzes

Dass es mal so eng wird in Friedrichshain, hätte kurz nach der Wende niemand gedacht. Damals war Friedrichshain eine subkulturelle, kreative und alternative Spielwiese, die endlos Raum zur freien Gestaltung und künstlerischen Selbstverwirklichung bot. Der Stadtteil war heruntergekommen, stand zu Teilen leer, viele Häuser wurden besetzt. Die Mainzer Straße war mit 13 besetzten Häusern das Aushängeschild. Ihre Räumung im November 1990, die dreitägige Schlacht um die Mainzer Straße, begründete den Mythos des widerständigen Friedrichshain.

Im Nordkiez konnten sich letzte Hausbesetzer-Bastionen jahrelang unter großer gesellschaftlicher Solidarität halten. Die Räumungen der Hausprojekte Liebigstraße 14 im Jahr 2011 und Liebigstraße 34 im Jahr 2020 wurden von Protesten und teils gewaltsamen Ausschreitungen begleitet. Das besetzte und später legalisierte Haus Rigaer 94 und die dort gelegene Kneipe Kadterschmiede sind trotz Gerichtsprozessen und polizeilichen Hausbesuchen bis heute in der Hand des Kollektivs.  

Die Rigaer 94 ist eine letzte Bastion der Friedrichshain Hausbesetzungsgeschichte. Foto: Imago/Christian Mang

Neben dem zukünftigen Autobahnareal, um das sich die oben genannten Neubauprojekte drängen, gibt es in Friedrichshain noch einen richtig großen Freiraum. 70.000 Quadratmeter misst das ehemalige Reichsbahnausbesserungswerk RAW. Die heruntergekommenen Backsteingebäude sind voll Streetart und beherbergen Skatehalle, Kletterturm, Swimmingpool und vor allem viele Musikspielstätten. Das RAW steht als soziokulturelles Zentrum, Streetart-Paradies und Partymeile in jedem Reiseführer. Der Herr vom wichtigsten und größten Teil des Geländes, gleich an der Warschauer Straße, ist seit 2015 Lauritz Kurth.

Bebauung des RAW-Geländes: Überlebt die Subkultur zwischen Beton und Glas?

Frisch rasiert, gekämmt und gegelt, in Lederslippern mit Bommeln, einem faltenlosen, weißen Hemd, Anzughose und Steppjacke steht Kurth auf dem RAW zwischen Scherben und Graffiti. Über 50.000 Quadratmeter beste Innenstadtlage stehen ihm zur Selbstverwirklichung zur Verfügung. Mit gerade einmal Mitte dreißig übernimmt der Sohn des Göttinger Immobilieninvestors Hans-Rudolf Kurth die Verantwortung für das prestigeträchtige Monumentalprojekt. Das Gelände ist das größte, dauerhaft kulturell bespielte Areal Deutschlands und die letzte nicht modernisierte Industriebrache im Zentrum Berlins. „Es gibt für die Stadt Potenzial, das noch nicht ausgeschöpft wurde, aber unter Erhalt des Charmes geweckt werden kann“, sagt Lauritz Kurth.

So sieht die Zukunft des RAW-Geländes aus. Der RAW-Tower (rot) soll 100 Meter hoch werden. Gegenüber der Amazon-Tower. Foto: Holzer Kobler Architekturen/Philipp Obkircher

Vater Kurth hatte kurz nach der Wende in den Ostteil Berlins investiert. Unter anderem errichtete die Kurth-Gruppe in den frühen Neunzigern ein Wohn- und Geschäftshaus mit 8.300 Quadratmetern Mietfläche an der Ackerstraße in Mitte und sanierte die angrenzenden, denkmalgeschützten Altbauten. Sohn Lauritz soll nun eine Baumasse von fast 150.000 Quadratmetern entwickeln und als Krönung des Projekts einen 100 Meter hohen Gewerbe-Turm an der Ecke Stadtbahngleise/Warschauer Straße verwirklichen. 

Dort, wo der Turm stehen soll, residieren derzeit Urban Spree (Street-Art-Ausstellungen, Partys, Konzerte und Biergarten) und Suicide Circus (Electro-Club), beide sollen laut Kurth neue Standorte auf dem Gelände finden, wie auch das Astra-Konzerthaus. Die benachbarte Strandbar Haubentaucher soll durch eine Markthalle ersetzt werden.

Das Ende von Friedrichshain: Das Urban Spree muss dem RAW-Tower weichen. Foto: F. Anthea Schaap

Auf den historischen Steinbögen möchte Lauritz Kurth einen Gewerbe-Block errichten. „Wir brauchen Nutzungen und Angebote, die das Gelände für alle Altersgruppen und Menschen öffnen, ohne die bestehenden Nutzung zu verdrängen. Man kann kulturelle Räume nicht schützen, indem man eine Käseglocke über sie legt“, sagt der Investor.

Florian Schmidt, grüner Baustadtrat von Friedrichshain-Kreuzberg, unterstützt die städtebauliche Vision der Holzer Kobler Architekten, die sich im Auswahlverfahren gegen drei weitere Planungsbüros durchsetzen konnten und nun den Kurth-Teil des RAW bebauen sollen. Die Bewahrung des industriellen Charakters und 30 Jahre Bestandsschutz für das „soziokulturelle L“ – ein Ensemble in Form des Buchstabens, das Raum für Musik, Sport, Design, Kunst, Handwerk, Zirkus, Gastronomie und soziale Vereine bietet –  seien durch diesen Masterplan gewährleistet.

Auch der Suicide Circus ist von den Bebauungsplänen betroffen. Foto: F. Anthea Schaap

Das kooperative Modell verspreche eine attraktive Mischung aus Arbeitsplätzen, soziokulturellen Angeboten, Versorgung und Erholungsflächen. „Hier soll ja nicht einfach nur ein langweiliger Büroturm hingeklotzt werden, sondern ein Ensemble entwickelt werden, das sowohl Bestehendes schützt, als auch Neues zulässt. Für mich ist das ein wegweisendes Projekt“, sagt Schmidt im Telefongespräch. 

Gentrifizierung in Friedrichshain: Aufwertung mit dem Vorschlaghammer

Auf der Brachfläche vor dem Urban Spree, die voraussichtlich schon 2024 vom RAW-Tower verschattet sein wird, steht Carsten Joost. 2008 war Joost das Gesicht der „Mediaspree Versenken“-Kampagne, die Demonstrationen mit bis zu 5.000 Teilnehmer:innen für freie Spreeufer auf die Straße brachte und fast 35.000 Einwohner:innen des Bezirks Friedrichshain-Kreuzberg dazu motivierte, für ihr Bürgerbegehren zu stimmen. Mit einer Mehrheit von 87 Prozent ist „Spreeufer für alle“ der bis dato erfolgreichste Bürgerentscheid Berlins. Einige Uferabschnitte wurden tatsächlich als Grünfläche gesichert.

Carsten Joost kämpft gegen die Bebauungspläne auf dem RAW. Im Hintergrund der Amazon-Tower. Foto: F. Anthea Schaap

Heute, 14 Jahre nach dem Höhepunkt seiner Widerstandskarriere, ist Carsten Joost immer noch Vollzeit mit dem Kampf um seinen Stadtteil beschäftigt. Für sämtliche städtebaulichen Entwicklungen entwirft der Architekt mit seiner Planungsagentur Gegenentwürfe, auf die sich Initiativen in ihrem Protest berufen können: „So lasse ich ein leichtes Gift in die Prozesse fließen und bringe die Motivation des Mainstreams zum Bröckeln“, sagt Joost, dem die Haare in Punkmanier in alle Richtung stehen. „Das ist böse, aber notwendig!“

So setzt er sich aktuell mit der Initiative „RAW-Kulturensemble“ gegen die Bebauungspläne und für ein gemeinschaftliche Entwicklung des Geländes ein. Die 30 Jahre Bestandsschutz des „soziokulturellen Ls“ seien Lauritz Kurths Druckmittel, um auf den restlichen 90 Prozent des Geländes alle baulichen Freiheiten zu erhalten. „Das ist eine offene Erpressung, die hier läuft“, sagt er.

Baustadtrat Florian Schmidt: „Der Mercedes-Platz ist städtebauliches Elend“

Der Mercedes-Platz: Beton, Werbung und Kommerz. Von Subkultur und sozialem Nutzen keine Spur. Foto: Imago/Christian Thiel

Joost blickt auf die gegenüberliegende Seite der Warschauer Straße und sagt: „Die vermeintliche Aufwertung passiert wie mit dem Vorschlaghammer.“ Seit 2018 geht es dort, wo sein Blick hinfällt, über einen Betonsteg ins Maul der East-Side-Mall. Rechts daneben steigt das Edge East Side in den Himmel. Der 140 Meter hohe Büroturm soll 2023 fertiggestellt werden. 28 der insgesamt 35 Etagen bezieht Amazon. Der dahinter liegende Mercedes-Platz wurde 2018 feierlich eröffnet und umfasst 20 Gastronomiebetriebe, die Multifunktionshalle Mercedes-Benz-Arena, eine Konzerthalle, ein Kino, ein Bowlingcenter und drei Hotels. Der künstliche Kiez wird von Securitys und Videokameras überwacht. Den Namen des Areals darf immer der aussuchen, der die Arena sponsert. 

Die Mercedes-Benz Arena ist das Herzstück des Mercedes-Platzes. Davor Screens und Wasserfontänen. Foto: Imago/Lakomski/Eibner-Pressefoto EP_dli

Das Entertainment-Quartier ist ein Paradebeispiel für die Arbeit der Verwertungsmaschine, die gerade Friedrichshain frisst. Moderne Beton- und Glasbauten, gigantische LED-Werbescreens und Shops von Fast-Food-Ketten prägen das Bild des Platzes. Subkultur, Freiflächen, Alternativorte, Ruinen und Streetart – das, was Friedrichshain in den Neunzigern und Nullern weltberühmt gemacht hat –, wurde hier mit der Dampfwalze vernichtet. „Die Verdrängung geht auf dem Platz ja so weit, dass man die Leute sogar mit den Wasserspielen verscheuchen kann“, sagt Joost. In den Boden des Platzes sind 96 Düsen eingelassen, die bis zu vier Meter hoch Wasser spritzen können. 

„Der Mercedes-Platz ist städtebauliches Elend“, sagt Florian Schmidt, „der enthält Null Komma Null Gemeinwohl.“ Lediglich Arbeitsplätze und Steuereinnahmen würden durch das Areal generiert werden. Unkommerzielle Kulturnutzung und bezahlbare Wohnungen gäbe es dort nicht.

Das Ende von Friedrichshain: Der Amazon-Tower als „ein ausgestreckter Mittelfinger“

Der Amazon-Tower gehört zu den umstrittensten Bauprojekten Berlins. Trotz großem Protest wird er in Rekordtempo in die Höhe gezogen. Foto: Imago/Christian Mang

Aktivist:innen der Initiative „No Amazon Tower Berlin“ befürchten, dass finanzkräftige Amazon-Angestellte fast jeden Preis für eine Wohnung im Kiez zahlen und so die Gentrifizierung in Friedrichshain weiter vorantreiben. Baustadtrat Schmidt hatte Ende 2019 einen Neustart des Projektes gefordert, nachdem sich die Bauherren in ihren Plänen nicht an die ursprünglichen Vereinbarungen gehalten hatten. Der Senat vereitelte jedoch Schmidts Vorhaben, indem er das Projekt an sich zog. Schon während der Bauarbeiten ist nicht zu übersehen, wie gravierend der Amazon-Tower das Bild der Warschauer Straße prägen wird. „Der Turm ist wie ein ausgestreckter Mittelfinger“, sagt Carsten Joost.

Rauhe Seiten, Brachen, Freiflächen: Was bleibt vom wilden Friedrichshain? Foto: Imago/Pop-Eye/Ben Kriemann

Joosts größte Angst ist, dass sich das RAW-Gelände zu genau so einem „toten und kalten Ort“ entwickelt. Baustadtrat Florian Schmidt und der Investor behaupten, durch das kooperative Modell könne auch die Sozio- und Subkultur auf dem RAW-Gelände erhalten und mit neuen Möglichkeiten kombiniert werden. Das RAW-Gelände „wird ein spannender und vielfältiger Ort bleiben“, sagt Schmidt. Lauritz Kurth sagt, dass er den Charakter des Geländes weitgehend bewahren will. Auch gegenüber der Streetart, die das RAW-Gelände so prägt, sei er aufgeschlossen. Allerdings solle an den öffentlichen Flächen auf „religiöse, politische und nicht jugendfreie Bilder und Mitteilungen“ verzichtet werden, „um das Gelände für alle Menschen offen zu halten“. 

Das RAW soll also weiter nach alternativer Szene aussehen, aber anecken ist nicht mehr erlaubt.


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Nicht nur Friedrichshain hat sich enorm verändert. So sah Prenzlauer Berg noch in den 1990er-Jahren aus, bevor die Gentrifizierung den Stadtteil umkrempelte. Wie sieht es in Kreuzberg aus? Auch die Oranienstraße hat eine bewegte Geschichte. Obwohl viele spannende Orte aus Friedrichshain verdrängt wurden, halten diese Clubs und Bars das Nachtleben im Szenestadtteil am Leben. Kieze im Umbruch: Ein (unvollständiger) Blick auf Gentrifizierung in Berlin. Immer auf dem Laufenden bleiben: Aktuelles und Interessantes zu Friedrichshain findet ihr hier. Was uns noch bewegt, darüber schreiben wir in unserer Politik-Rubrik.

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