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Grüner Daumen

Ein Garten in Berlin: Die grüne Sehnsucht der Menschen

Froh ist, wer einen Garten hat: In diesem Frühling hantieren die Berliner:innen vielleicht so motiviert wie noch nie mit Harke und Spaten. Über die gesellschaftspolitischen Facetten eines Lebensgefühls, das gesund und sehr begehrt ist

Wer keinen eigenen Garten in Berlin hat, kann man auf einen der vielen urbanen Gärten in Berlin ausweichen. Foto: Imago Images/Winfried Rothermel
Wer keinen eigenen Garten in Berlin hat, kann man auf einen der vielen urbanen Gärten in Berlin ausweichen. Foto: Imago Images/Winfried Rothermel

Die kleinste Einheit ist ein Garten für die Fensterbank. Dafür muss man nur die Do-It-Yourself-Box des Berliner Startups Grüneo öffnen, schmächtig wie eine Pralinenschachtel. Darin ist grünes Allerlei für eine Saison verpackt: Saat, kleine Töpfe, natürlicher Dünger.

Es gibt einmal den „Asia Kräuter Garten“ mit Thai-Basilikum, Rotem Shiso und Koriander für Menschen mit Fernweh, außerdem den wildromantischen „Nachtschatten Garten“ mit Cherry-Tomate, Aubergine und Physalis. Anbaugebiete en miniature fürs Zuhause in der Großstadt-Wohnung, die zwei junge Gründerinnen entwickelt haben: Alicia Ferrer, eine Geschäftsfrau, und Lena Müller, die Gartenbau und Pflanzenforschungsmanagement studiert hat. „Leider leben wir in großen Städten“, sagt Ferrer. Die Idee hinter ihren Produkten sei, dass „jeder einen Garten haben kann und nichts Exklusives daran ist“.

Kein Wunder: Tiny Houses gibt es ja schon in dieser Stadt, also Behausungen, eng wie ein Wohnmobil – für Stadtbürger:innen, denen kein Eigenheim vergönnt ist. Der Trend zum Minimalismus treibt nun auch Blüten auf den Beeten. Eine Genügsamkeit, die mehr ist als nur Mode-Phänomen, gespeist aus Instagram-Ästhetik und Marie-Kondo-Philosophie. Sie verhüllt auch einen Mangel: dass nämlich nicht alle Berliner:innen überhaupt den Platz vor der Haustür haben, um Keim- und Stecklinge hochzuziehen.

Sehnsucht nach botanischer Selbstverwirklichung

Dabei sind Gärten in diesen Corona-Zeiten ersehnte Orte der Zuflucht. Wie viel botanische Selbstverwirklichung kann diese Stadt bieten? Die 892 Quadratkilometer, die Berlin umfasst, sind größtenteils bedeckt von Straßenland, Häusermeeren und Gewerbezonen sowie Gewässern, Parks und Wäldern. Nur ein kleiner Anteil ist für Gärten reserviert.

Die Kleingärten zum Beispiel, vom Gartenbauverein Staaken bis zu Laubenpieper:innen in Wilhelmshagen am östlichen Rand der Stadt: Sie erstrecken sich über  rund drei Prozent der Stadtfläche. Die Dichte der Kleingärten beträgt 1,9 pro 100 Einwohner – ein mäßiger Wert. Die Hochburgen in der Republik sind ostdeutsche Großstädte, die bis heute noch von einer freundlichen DDR-Bodenpolitik profitieren: Rostock (7,5), Chemnitz (7,0) und Leipzig (6,8). An diesen Horten kultivierter Natur spiegelt sich das Missverhältnis von Angebot und Nachfrage in diesem Frühjahr besonders drastisch. Die Wartelisten auf Parzellen sind länger denn je.

Ein Garten in Berlin ist oft nicht größer als ein Fenstersims. Foto: Imago Images/agefotostock
Ein Garten in Berlin ist oft nicht größer als ein Fenstersims. Foto: Imago Images/agefotostock

Ganz zu schweigen von Urban-Gardening-Angeboten, dem Allmende-Kontor auf dem Tempelhofer Feld, dem Himmelbeet im Wedding, den Prinzessinnengärten. Oder jenen Feldern, wo Hobby-Bäuer:innen ein bisschen Acker vermietet wird, für die Dauer einer Saison, etwa auf Arealen in Rudow oder am Baumschulenweg, die das Netzwerk „Meine Ernte“ bespielt. Wer an solchen Orten eine Scholle ergattert, ist ein grüner Daumen im Glück. Die Übrigen müssen sich bescheiden mit Innenhof, Balkon oder dem Brett vorm Fenster des WG-Zimmers. Oder man zählt zur ganz privilegierten Schicht. Und ist Grundstückseigentümer:in mit eigenen Latifundien.

Gärten bilden damit eine knappe Ressource – ausgerechnet in einer Zeit, wo immer mehr Berliner:innen im Aroma von Muttererde und Gemüsezwiebel positive Schwingungen entdecken. Längst ist die Zeit vorbei, wo viele Leute nur Zweckbeziehungen pflegten zum domestizierten Grün, das oft bloß Appendix steriler Suburbia-Architektur war – mit Kiesbeet und einem auf Kurzrasur getrimmten Rasen. Eine Regression, die der Berliner Biologe Ulf Soltau zuletzt immer wieder in seinem vielbeachteten Social-Media-Blog „Gärten des Grauens“ angeprangert hat.

Gärtnern ist gut für die Seele

Jetzt ist draußen wieder Leben, besonders in Berlin. Denn die Gärtnerei schmeichelt der Seele. Empirie dafür liefert eine niederländische Studie von 2011. Nach einer geistig anstrengenden Beschäftigung waren dabei Proband:innen in zwei Gruppen aufgeteilt worden. Eine Kohorte las 30 Minuten lang in einem ruhigen Raum; die andere Gruppe gärtnerte dieselbe Zeitspanne unter freiem Himmel. Der Cortison-Spiegel rauschte in beiden Fällen herunter – in der Gruppe der Gärtner:innen allerdings vehementer. Was für eine Erkenntnis: Radieschen, Robinie und Rübe sind entspannender als Roman-Lektüren.

Dafür bürgt auch Hans von Trotha, ein Doyen der Gartenkultur. Der Berliner Literaturwissenschaftler und Historiker ist Autor von Fachbüchern. „Im Garten der Romantik“ lautet eine Begehung, andere heißen „Der Englische Garten – Eine Reise durch seine Geschichte“ oder „Garten-Kunst – Auf der Suche nach dem verlorenen Paradies“. Dieser Schwärmer konstatiert eine Wiederentdeckung des Gartens im 21. Jahrhundert – nachdem das vorangegangene Säkulum von einem „verlorenen Verhältnis zur Natur“ gekennzeichnet war. Die Schotterwüsten, abgebildet in den „Gärten des Grauens“, sind Ausläufer dieser Phase der Entfremdung.

Das Gärtnern in der Großstadt von heute, vor allem die Triebe der Urban-Gardening-Bewegung, lobt Hans von Trotha folgendermaßen: „Innere Werte sind dabei wichtiger als äußere Werte.“ Es geht eben nicht um Blumenpracht à la Versailles, sondern um eine soziale Idee. Das Urban-Gardening-Konzept erscheint revolutionär. Ihr Programm sei „die Auflösung der Grenze zwischen privatem und öffentlichem Raum“.

Während der Pandemie sind Gärten zudem erprobte Refugien, daran erinnert Hans von Trotha ebenso. So wie im „Decamerone“ von Giovanni Boccaccio, einem prägenden Werk der italienischen Literatur aus dem 14. Jahrhundert. In der Rahmenhandlung verlustieren sich junge Menschen auf dem Grundstück eines Landhauses nahe Florenz, umgeben von sprießenden Gärten. Vor der Pest sind diese Asylsuchenden geflohen.

Kleingärten haben ihre Klischees längst überlebt

Im jetzigen Berlin, wo derlei Kulissen erneut begehrt sind, auch wegen der Corona-Beschränkungen, bröckeln sogar Kleingarten-Klischees. Deutschlandfahne, Gartenzwerg und Windspiel sind mancherorts vielleicht noch verbreitet – aber kein verbindliches Identitätsmerkmal mehr.

Für eine Parzelle im Kleingartenverein Kolonie Westend in Charlottenburg wartet man mehrere Jahre. Foto: Imago Images/ Schöning
Für eine Parzelle im Kleingartenverein Kolonie Westend in Charlottenburg wartet man mehrere Jahre. Foto: Imago Images/ Schöning

Der Respekt der rot-rot-grünen Senatsregierung vor der Lobby der Schrebergärtner:innen ist immens. Weil die Vereine den gesellschaftlichen Mainstream verkörpern. Im aktuellen „Kleingartenentwicklungsplan 2030“ sind dementsprechend 82 Prozent der Gärten dauerhaft gesichert, weitere 9,6 Prozent immerhin bis 2030. In einer Stadt, wo Fläche für neuer Wohnraum dringend nötig ist, eine kühne Bestandswahrung.

Die Debatte, ob manche Kolonie neuen Quartieren weichen sollte, wird dennoch nicht verklingen. Zumindest die knapp zehn Prozent Fläche, die im „Kleingartenentwicklungsplan 2030“ nicht gesichert ist, könnte potenzielles Bauland sein. Noch bezirzt dort die Flora.

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In vielen Teilen Berlins haben sich Nachbarschaften zusammengeschlossen, um Gemeinschaftsgärten zu eröffnen. Wir stellen besonders schöne Gärten in Berlin vor. Sebastian Lehmann ist Poetry Slammer, Autor und Kabarettist in Berlin. Hier schreibt er über perfekte Gartentage, Brühe in der Abwassergrube und einen Mentor namens Heinz. Die Erdbeersaison hat begonnen und für die saftig-süßen Beeren braucht ihr keinen eigenen Garten. Wir verraten euch, wo ihr in Berlin am besten Erdbeeren kaufen oder selbst pflücken könnt.

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