Der 1. Mai in Berlin im Wandel der Zeit: Von Stalin bis zum Myfest
29.04.2022 - 15:58 Uhr
Berlin verstehen
Der 1. Mai in Berlin im Wandel der Zeit: Von Stalin bis zum Myfest
Der 1. Mai in Berlin hat eine mehr als wechselvolle Geschichte. Nach dem Krieg instrumentalisierte das von Moskau gesteuerte DDR-Regime auf Ost-Berliner Seite den Tag für Propagandazwecke. In den frühen 1950er-Jahren marschierten die Demonstrationen unter riesigen Porträts von Stalin und Pieck. Später feierte die sozialistische Jugend im Blauhemd und unter rotem Stern das internationale Proletariat.
Vermummungsgebot? 2020 wurde am 1. Mai in Berlin meist mit Maske demonstriert – aus gutem Grund. Foto: Imago/Travel-Stock-Image
In West-Berlin etablierte sich der 1. Mai ebenfalls im linken, aber anfangs eher sozialdemokratischem Spektrum. Es war das hohe Fest der Gewerkschaften und gewerkschaftsnaher Organisationen. In den 1980er-Jahren, als Folge der 68er, Punk- und Hausbesetzerbewegung, wandelte sich der Tag der Arbeit in bestimmten Milieus zum radikalen Protesttag gegen den Staat im Allgemeinen und Rassismus, Imperialismus und Faschismus im Besonderen.
Am 1. Mai in Berlin endeten in den 1980er-Jahren die Demos mit Straßenschlachten
In Kreuzberg organisierten sich linksradikale Gruppierungen und riefen den “Revolutionären 1. Mai” aus. Die Demos endeten in Straßenschlachten mit der Polizei, Autos und Mülltonnen brannten, Steine flogen. Am 1. Mai 1987 brannte der Bolle am Görlitzer Bahnhof. Der 1. Mai wurde in Berlin zum gewaltvollsten Tag im Jahr.
Ab 2003 riefen Kreuzberger Initiativen schließlich das Myfest aus. Man hatte keine Lust mehr auf die Krawalle und wollte feiern und tanzen. Die Polizei setzte stufenweise auf Deeskalation und der 1. Mai wandelte sich erneut: vom Fest der Zerstörung in ein Fest des Hedonismus. Dennoch ist er für viele linke Aktivisten immer noch ein wichtiges Datum und die Proteste prägen bis in die heutige Zeit den 1. Mai.
Wir haben 12 historische Momente vom 1. Mai in Berlin für euch herausgesucht:
1951 – Marschieren für Stalin
Der Zweite Weltkrieg ist vorbei, der Kalte Krieg im vollen Gange. Bei der Maikundgebung im sowjetischen Sektor marschieren die Teilnehmer vor den Abbildungen von Josef Stalin und Wilhelm Pieck. Foto: Roba/Siegfried Pilz/UnitedArchives
1965 – 400.000 demonstrieren vorm Reichstag
Die ganze Stadt ist da: Am 1.Mai 1965 versammeln sich 400.000 Menschen vor dem Reichstag. Es ist eine der größten Demonstrationen in West-Berlin überhaupt. Foto: Imago/ZUMA/Keystone
1972 – Volk und Partei feiern in Ost-Berlin
Jubelnde Demonstranten und auf der Tribüne die Partei und Staatsführung anlässlich der Demonstration zum 1. Mai 1972 in Ost-Berlin. Foto: Imago/Sven Simon
1977 – Der Sozialismus blüht
Ein roter Stern und das Jahr 1977. In Ost-Berlin blüht der Sozialismus und wird am Tag der Arbeit ausgiebig gefeiert. Foto: Imago/Sven Simon
1986 – Mit Dauerwelle für den Weltfrieden
Eine junge FDJlerin schwenkt Fähnchen bei der Demonstration zum 1. Mai 1986. Foto: Imago/Sven Simon
1987 – In Kreuzberg brennt Bolle
Der geplünderte und abgebrannte Bolle am Görlitzer Bahnhof. Am 1. Mai 1987 eskalierte die von linken Gruppen organisierte Maidemonstration und es kam zu Straßenkämpfen, Verfolgungsjagden und Verhaftungen. Es war der Beginn der 1.-Mai-Krawalle in Kreuzberg. Foto: Imago/Peter Homann
1989 – Die Revolution geht weiter
Kreuzberger Nächte sind lang und revolutionär: Nach der “Revolutionären 1. Mai-Demo” kam es am 1. Mai 1989 in Kreuzberg und Neukölln zu schweren Ausschreitungen. Foto: Imago/ Peter Homann
1990 – Ost und West demonstrieren gemeinsam
Nach dem Mauerfall: PDS-Chef Gregor Gysi im Kreis seiner Genossen auf der ersten gemeinsamen Ost-West-Maidemonstration vor dem Berliner Reichstag. Foto: Imago/Jürgen Heinrich
1999 – Gewerkschaftler am Alex
Der Klassiker: Eine 1. Mai-Kundgebung am Alexanderplatz mit Gewerkschaftlern und Friedensgruppen. Foto: Imago/Müller-Stauffenberg
2000 – Neonazis entdecken den 1. Mai
NPD-Aufmarsch am 1. Mai 2000: Mehr als tausend Rechtsextremisten von der NPD, sogenannten Freien Kameradschaften und Skinheads demonstrierten auf einer Kundgebung in Hellersdorf unter dem Motto “Arbeit zuerst für Deutsche”. Foto: Imago/Christian Ditsch
2004 – Feiern statt prügeln: Das Myfest startet
Die Kreuzberger haben keine Lust auf Krawalle und organisieren das Myfest, bei dem musiziert und gefeiert werden soll, statt sich mit der Polizei zu prügeln. 2003 geht es los. Auf diesem Bild von 2004 spielt die Chuck Norris Band auf der Oranienstraße. Foto: Imago/Seeliger
2019 – Der Hedonismus hat gesiegt
Das Myfest ist ein riesiger Erfolg und verwandelt Kreuzberg rund um den 1. Mai in ein gewaltiges Open-Air-Festival mit Konzerten, Fast Food und Drinks. Politik und Aktivismus weichen Party und Spaß. Der Hedonismus hat sich als einzig gültige Ideologie in Berlin durchgesetzt. Foto: Imago/Mike Wolf/Tagesspiegel
2020 – Corona
Die große 1.-Mai.Party fällt aus, Demos gibt es im ersten Pandemiejahr trotzdem, unter strikten Auflagen. Ganz lassen sich die Menschen den Protest eben trotz (oder gerade wegen) der Umstände nicht nehmen. Foto: Imago/Travel-Stock-Image