Vor 100 Jahren ging in Berlins Mitte der erste deutsche Radiosender an den Start. 1923 wurde der neuen Technologie der Weg zum deutschen Massenmedium geebnet. Eine Story über „Schwarzhörer“, glanzvolle Jahre während der Goldenen Zwanziger sowie barbarische Nazis – und einen Pionier, der heute fast vergessen ist.
„Hier ist die Sendestelle Berlin, im Vox Haus. Auf Welle 400 Meter.“
Um 20 Uhr, an einem Herbsttag im wirrsten Jahr der jungen Weimarer Republik, meldet sich die Stimme eines 49-jährigen Grandseigneurs über den Äther. Gekleidet in einen schwarzen Anzug ist dieser Mann. Das Aufnahmezentrum nistet im dritten Stock eines Gebäudes an der Potsdamer Straße 4, das heutzutage nur noch als Erinnerung auf Schwarz-Weiß-Fotos existiert.
Seine Ansage ist der Urknall eines Medienphänomens, das sich annähernd so schnell verbreiten sollte wie ChatGPT und TikTok in unseren 2020er-Jahren. Friedrich Georg Knöpfke heißt der feierlich gestimmte Mann.
Seine Worte an diesem 29. Oktober 1923 sind epochal: „Achtung, Achtung! Hier ist die Sendestelle Berlin, im Vox Haus. Auf Welle 400 Meter.“ Er verkündet, dass „am heutigen Tage der Unterhaltungsrundfunkdienst mit Verbreitung von Musikvorführungen auf drahtlos-telefonischem Wege beginnt“. Um sodann ein Rundfunk-Konzert fürs durchlauchte Publikum im Land von Beethoven und Brahms zu präsentieren.
So wurde man vor 100 Jahren zum Zeugen des Starts, den der erste deutsche Radiosender zündete – falls denn ein Endgerät zum privaten Hab und Gut gehörte. Knöpfke, der Moderator, war Direktor der „Deutschen Stunde“. So nannte sich der Kanal.
Der Zeitkolorit ist umwölkt von Trübsal. Hyperinflation, Straßenkämpfe, eine labile Demokratie. Zwei Wochen nach dem Sendestart wird ein Weltkriegsveteran namens Adolf Hitler einen Putsch versuchen, den Sicherheitskräfte vereiteln. Etwas weiter südlich, im unruhigen München. Nur so zur Illustration der historischen Atmosphäre.
Die Geschichte des Radiosenders erzählt von einem Medienorgan, das anfangs exklusiv war. Und schon bald aufsteigen sollte zur Massenerscheinung, die in der ersten deutschen Demokratie politisch hart umkämpft wurde.
Zunächst aber ertönte zur Premiere gediegene Musik: das „Andantino“ des zeitgenössischen Komponisten Fritz Kreisler, eingespielt von einem Pianisten und einem Cellisten. Die Antenne auf dem Dach des Vox-Hauses versendete das Audiospektakel in einen Umkreis von 150 Kilometern.
Radio in der Protophase: Ein Medium für Bastler
In den Wohnzimmern saßen „Schwarzhörer“, die ihre Abspielgeräte selbst gebastelt hatten. Dort knisterten vorsintflutliche Detektoren und als Empfangsgeräte verwendete Kopfhörer. Deren Besitzer waren die Hacker in der Protophase technischer Medien.
Der erste registrierte Hörer der Radiostation war hingegen ein early adopter aus dem Mittelstand. Wilhelm Kollhoff betrieb einen Zigarrenladen an der Turmstraße 47 in Moabit. Für schlappe 350 Milliarden Reichsmark holte er sich zwei Tage nach der auditiven Sternstunde eine Lizenz, die Gesetzestreue vom Staat erwerben mussten.
Der Sender war ein Privatunternehmen – im Besitz der Reichspost sowie der Vox Schallplatten- und Sprechmaschinen-AG, einem Universum der Klänge, das seinen Sitz im gleichnamigen Haus inmitten der Vier-Millionen-Metropole hatte. In 14 Tagen hatten Techniker der Reichspost die Sendezentrale aufgebaut, mit Pferdedecken als Dämmungen in den Studioräumen.
Ein Ingenieur hatte die politischen Rahmenbedingungen geschaffen. Hans Bredow, 44, eigentlich Hochfrequenztechniker, bekleidete seit 1921 das Amt des Staatssekretärs für das Telegrafen-, Fernsprech- und Funkwesen. Unter der Regentschaft dieses Paten des öffentlichen Rundfunks war bereits 1922 der „Drahtlose Wirtschafts-Rundspruchdienst“ entstanden. Das journalistische Angebot lieferte Wirtschaftsnachrichten für Abonnenten. Sozusagen die Bloomberg News einer erfinderischen Ära.
Radio und sein unaufhaltsamer Aufstieg: Musik für Millionen
Zum großen Hype wird das neue Medium, nachdem die Preisschilder in den Warenhäusern keine Schwindelanfälle mehr auslösten. Mit der Einführung der Rentenmark hatte die Reichsregierung die Inflation vertrieben. Fortan war die öffentliche Abgabe fürs Radiogerät erschwinglich: zwei Mark.
Ein Jahr nach dem Start sind 270.000 Geräte in Deutschland angemeldet, 1926 sind es 1,2 Millionen. Zugleich beglückt die Elektrobranche das wachsende Publikum mit der Fertigung passender Technologie. In Serie produzieren die Firmen Detektoren und Röhrenempfänger.
„Funk-Stunde“ heißt der Kanal inzwischen, und das einstündige Start- reift zum Vollprogramm. Angetrieben von einem berauschenden Beginnergefühl prägen die Medienmacher neue Formate. Nachrichtensendungen, Fußballreportagen, musikalische Unterhaltung von Schlager bis Sinfonie. Der Verbreitungsradius weitet sich ebenso.
Zum Sender Nr. 1 kommen im ganzen Land weitere Anstalten hinzu. Brecht, Modernist in den Goldenen Zwanzigern, entwickelt sogar eine Radiotheorie. Darin äußert der Dichter und Dramatiker einen Wunsch: „Der Rundfunk wäre der denkbar großartigste Kommunikationsapparat des öffentlichen Lebens (…), wenn er es verstünde, nicht nur auszusenden, sondern auch zu empfangen, also den Zuhörer nicht nur hören, sondern (…) ihn auch in Beziehung zu setzen.“
Doch die Etablierung eines Radios 2.0, eines Mitmach-Mediums also, sollte nur Gedankenspiel bleiben. In der späteren Agonie-Phase der Weimarer Republik, befördert von Massenarbeitslosigkeit und Deflation, gerät der Hörfunk ins Visier der Propagandisten aus dem völkisch-nationalen Spektrum. Die Rattenfänger ahnen dessen demagogisches Potenzial und wollen das Medium kontrollieren. Zumal mittlerweile rund vier Millionen Deutsche ein Gerät besitzen.
Radio und die politische Vereinnahmung
Unter Reichskanzler Franz von Papen, dem Steigbügelhalter der NS-Diktatur, wird das Radio verstaatlicht – die Zentralisierung eines privatwirtschaftlichen Projekts. Als die Nazis ihr Terrorregime nach dem 30. Januar 1933 errichten, drangsalieren und verfolgen sie die Fortschrittsmacher aus dem Radiogewerbe.
Der Pionier, der dem neuen Medium eine Stimme gab, nämlich Friedrich Georg Knöpfke, ein SPD-Mitglied, wird von der Gestapo verhaftet. In den 20ern war er zum wichtigen Medienfunktionär aufgestiegen. Zeitweise war Knöpfke etwa Vorsitzender des „Programmrats der deutschen Rundfunkgesellschaften“, einem nationalen Machtzirkel.
Rechtsextreme Barbaren misshandeln diesen Demokraten nun auf übelste Weise – im Columbia-Haus in Kreuzberg, wo ein Konzentrationslager aufgezogen worden war. Nach der Entlassung nimmt sich der gebrochene Mann am 14. September 1933 das Leben.
Weitgehend in Vergessenheit gerät dieser Charakterkopf nach dem Zweiten Weltkrieg. Er erlebte nicht mehr, wie unabhängiges Radio dank des öffentlich-rechtlichen Rundfunks wieder on air ging. Keine Straße, kein Radiopreis, keine anderere sichtbare Remineszenz erinnert heute an Friedrich Georg Knöpfke.
Das fünfgeschossige Vox-Haus, das mal den ersten deutschen Radiosender beherbergt hat, ist derweil 1971 gesprengt worden. Am damaligen Todesstreifen fehlte die geografische Anbindung ans restliche West-Berlin. Heutzutage ragt an diesem Flecken der südwestliche Flügel des Kollhoff-Towers in den Himmel über Berlin. Hobby-Historiker erhoffen sich eine Gedenktafel. Vielleicht wird ja das 100-jährige Jubiläum die Erinnerungsmaschinerie in Fahrt bringen.
Mehr Hintergründe zur Rolle des Radios in Berlin und Umland
Die langjährige Historie des Rundfunks in Berlin und Brandenburg bietet weitere Schnurren und Storys – in Königs Wusterhausen etwa haben Pioniere 1920 die erste Live-Übertragung von Sprache und Musik in Deutschland gemeistert. Eine Erfolgsgeschichte, die vor allem im 21. Jahrtausend geschrieben wurde, ist wiederum die Lancierung des Senders „radioeins“ gewesen. Eine wichtige Personalie im Innenleben dieses Senders war kürzlich eine Neuorientierung der populären Moderatorin Anja Caspary: Sie hörte als Musikchefin auf. Mehr aus der Vergangenheit erfahrt ihr in unserer Rubrik zur Berliner Geschichte.