Geschichte

Aktionskunst in Berlin: Vom DDR-Verkauf bis zum Ein-Mann-Stau

Sie sammelten Geld für IWF-Manager, gründeten Arbeitslosen-Parteien und bauten Parteibüros in U-Bahnschächte. Immer wieder erregten Berliner Aktionskünstler:innen mit provokanten Aktionen die Öffentlichkeit. Von Ulay, Marina Abramović bis zu Rocco & seine Brüder: Das sind die Highlights aus sechs Jahrzehnten Aktionskunst in Berlin.


Ulay: Als der Künstler Hitlers Lieblingsbild stahl

Der Künstler Ulay erzählt rückblickend von seinem spektakulären Kunstraub. Video: Lousianna Channel

Vielleicht der Urknall der Aktionskunst in Berlin: 1976 stahl der Künstler Ulay das Gemälde „Der arme Poet“ von Carl Spitzweg aus der Neuen Nationalgalerie, fuhr per Fluchtwagen nach Kreuzberg und brachte das Werk im Wohnzimmer einer türkischen Arbeiterfamilie an. Kameramann Jörg Schmidt-Reitwein und Ulays damalige Partnerin Marina Abramović dokumentierten den Diebstahl, der Film erschien unter dem Titel „Da ist eine kriminelle Berührung in der Kunst“: Das Biedermeier-Bild war eines von Hitlers Lieblingsbildern. Mit der Aktion kritisierte Ulay die Berliner Kunstszene, die sich als sehr modern verstand. Ulay, bürgerlich Frank Uwe Laysiepen, starb 2020 in Ljubljana.


Büro für ungewöhnliche Maßnahmen: IWF-Proteste und DDR-Verkauf

Das Institut für ungewöhnliche Maßnahmen auf einem der IWF-Gegenproteste. Foto: Imago/Matthias Reichelt

Wer Aktionskunst verstehen will, kommt an Kurt Jotter und Barbara Petersen nicht vorbei – die beiden sind Veteranen der Aktionskunstszene in Berlin. 1987 gründeten Jotter und Petersen das Büro für ungewöhnliche Maßnahmen (BfM), das in der Cuvrystraße in Kreuzberg residierte. In puncto Provokation und Humor stand die Aktionskunst des BfM auch der Spaßguerilla von Berliner Sponti-Linken wie Rainer Langhans und Fritz Teufel nahe, letzterer wirkte auch bei den Studentenprotesten in Berlin mit. Die Entwicklung von den Studentenprotesten bis zur RAF lest ihr übrigens hier nach. Wen aber Fritz Teufels Wasserpistolen-Intermezzos in politischen Talkshows geistig unterforderten, war auf den Happenings des BfM besser aufgehoben. 

„Verfremdet die Medien, Ämter und Behörden! Montiert euch eure Hampelmänner selbst! Lasst die Puppen tanzen”, lautete das Credo der Gruppe. Im Zuge der Jahrestagung des Internationalen Währungsfonds (IWF) organisierte das BfM diverse Gegenproteste: So sammelten die Künstler auf dem Ku’damm ironisch Geld für die IWF-Manager oder applaudieren den Anzugträgern unter dem Slogan „Bürger beklatschen Banker“.

„Bestattungen aller Art“ – dazu gehörte auch die „BRDigung“ der DDR. Foto: Kurt Jotter /Wikimedia Commons / CC-BY-SA-3.0

Im Mai 1990 fand die Aktion „Das letzte Geläut – die DDR-BRDigung in bester Verfassung“ statt. Vor der Gethsemane-Kirche im Prenzlauer Berg trug das BfM die DDR zu Grabe und hielt anschließend eine Nachtwache vor dem Rathaus Schöneberg. Bei der „Übergabe des Kaufpreises für die DDR” wirkte sogar Helmut Kohl mit – zumindest in Gestalt eines künstlichen Kopfes: Das BfM performte einen „Bananenkuss“ zwischen Helmut Kohl und dem Vorsitzenden der Ost-CDU, Lothar de Maizière – fast so schön wie der sozialistische Bruderkuss. 


Marina Abramović: Nackt-Radeln in Mitte 

Marina Abramovic ist wohl die Übermutter der Aktionskunst. Dabei geht nicht nur die gebürtige Serbin an körperliche und mentale Grenzen – ihre Kunst versetzt die Zuschauer:innen in Zustände der Scham, des Ekels, der Faszination. 1997 fand die Uraufführung ihrer Aktion „Luminosity“ in Berlin statt. Dafür saß sie sechs Stunden nackt auf einem Fahrradsitz, der an den Klinkerwänden der Berliner Kunst-Werke in der Auguststraße befestigt war. Zuletzt feierte die serbische Ausnahmekünstlerin ihren 77. Geburtstag in Berlin und inszenierte „7 Deaths of Maria Callas“ an der Deutschen Oper.

Seit der Uraufführung in Berlin lässt Abramovic ihre Performance „Luminosity“ immer wieder an verschiedenen Orten aufführen, so auch in Basel – mittlerweile allerdings nicht mehr als Performerin selbst. Ein Video davon seht ihr hier auf Youtube.


Christoph Schlingensief: Kohl-Bashing und die Partei der Arbeitslosen 

Christoph Schlingensief (rechts) während der Kunstaktion „Tötet Helmut Kohl“. Foto: Imago / Petra Schneider

Christoph Schlingensief war das „Enfant Terrible“ der deutschen Medienwelt – und ein Schreckgespenst für die CDU: Das begann 1993 mit seiner Inszenierung „100 Jahre CDU – Spiel ohne Grenzen“ an der Volksbühne, drei Jahre später folgte „Tötet Helmut Kohl“ im Prater der Volksbühne. Zwar wurde in dem Kunst-Tribunal nur eine dem Kanzler ähnelnde Puppe verwendet – dennoch mussten Zuschauer:innen mitansehen, wie reichlich Blut bei der Enthauptung floss. Triggerwarnungen gab es eben damals noch nicht. Der Künstler starb am 21. August 2010 an Lungenkrebs. Anlässlich seines zehnten Todestages haben wir uns 2020 auf Spurensuche durch 12 Stationen von Christoph Schlingensiefs Lebens begeben.

Stand der Partei „Chance 2000“ auf dem Alexanderplatz. Foto: Imago/Brigani-Art

Zwei Jahre später gründete Schlingensief in einem Zirkuszelt die Partei „Chance 2000“ – eine Kunstaktion mit einer beachtlichen Länge von neun Monaten. Das Kuriose dabei: Man konnte für sich selber kandidieren, sobald man 2000 Unterschriften von Wahlberechtigten des eigenen Wahlkreises erhielt. Eine der zentralen Forderungen von „Chance 2000“ war es, Arbeitslosigkeit zum Beruf zu machen. Mit der Aktion gewann Schlingensief prominente Unterstützer wie Wolfgang Joop und Harald Schmidt. Lediglich mit einem Vorhaben ging Schlingensief baden: Der Versuch, mit sechs Millionen schwimmenden Arbeitslosen den Wasserspiegel im Wolfgangsee so zu erhöhen, dass Helmut Kohls Ferienhaus überflutet würde, scheiterte grandios, stand Schlingensief doch als einziger im See.  


Wolfgang Flatz: Als die Kuh vom Himmel fiel

„Fleisch“ als Kunstperfomance und Song samt Musikvideo. Video: Wolfgang Flatz

Im Jahr 2001 versuchte sich der Münchner Aktionskünstler und Musiker Wolfgang Flatz in Berlin mit dem Abwurf einer toten Kuh per Hubschrauber. „Fleisch“ nannte er die Aktion. Und wie schon bei Schlingensief floss wieder Blut im Prenzlauer Berg: Über der Backfabrik an der Saarbrücker Straße hing Flatz blutüberströmt an einem Baukran; kurz darauf warf der Hubschrauber den geköpften Kuhkadaver, der zuvor auf Tierseuchen geprüft worden war, in eine Baugrube.

Auf dem anschließenden Konzert spielte der Künstler dann noch Horror-Industrial a la Rammstein auf Technobeats: „Gib mir dein Fleisch/ ich geb‘ dir meins/ dann sind wir eins“. Mit der Aktion wollte Flatz auf missbräuchliches Verhalten gegenüber Tieren aufmerksam machen. Akustische Untermalung bekam das Event durch Buhrufe von Tierschützern.


Zentrum für politische Schönheit: Die AfD-Trolle  

Fünf Millionen Flyer ließ das Zentrum für politische Schönheit in Containern verrotten. Foto: Imago / A. Friedrichs

Der zweite große Thesenanschlag nach Martin Luther: 2009 rief Philipp Ruch, Aktionskünstler, zehn Thesen aus, die Deutschland politisch schöner machen sollten. In feierlicher Manier wurde das Pamphlet dabei auf Pferden vor den Bundestag gebracht – das Zentrum für politische Schönheit (ZPS) war geboren. In der Tradition eines Christoph Schlingensief versucht das ZPS, durch künstlerische Aktionen das „Staatstheater“ zu entblößen und brachte eine neuen Moralismus in die deutsche Aktionskunst. Immer wieder arbeitet sich das ZPS auch an der Alternative für Deutschland (AfD) ab. Ein besonderer Coup gelang Ruch 2021 mit dem „Flyerservice Hahn“.

Im Jahr der Bundestagswahl gründete das ZPS ein fiktives Unternehmen, den „Flyerservice Hahn“: Plötzlich gingen Angebote bei sämtlichen AfD-Verbänden Deutschlands ein – und 85 Orts-, Kreis- und Landesverbände der AfD bissen an. Schließlich ließen die Aktionskünstler hinter dem Unternehmen fünf Millionen Flyer in Containern verrotten. Zwei Jahre später errichtete das ZPS eine AfD-Verbotswebsite, auf der seitdem Hinweise gesammelt werden, um einen Verbotsantrag gegen die Partei zu fördern. Vermeintlich warb sogar Olaf Scholz auf der Website für Unterstützung – allerdings nicht der echte, sondern nur ein KI-Avatar.


Peng! Collective: Mit Google-Drohnen die Familie überwachen

„Wir arbeiten hart daran, sie zu verkleinern“, sagt der Google-Mitarbeiter aka Paul von Ribbeck über die Drohne (rechts oben) auf der re: publica. Foto: Jeangleur / Wikimedia Commons / CC-BY-SA-4.0

Die Gegner mit den eigenen Waffen schlagen: Mit einer spritzenden Ölfontäne auf dem Wissenschaftswettbewerb des Ölkonzerns Shell glitt das Peng! Collective auf das schmierig-glatte Parkett der Global Player-Werbeveranstaltungen. Ein Jahr später persiflierte das Kollektiv den Technologiekonzern Google auf der Tech-Konferenz re:publica in Berlin. Die Aktionskünstler Paul von Ribbeck und Gloria Spindle gaben sich als Google-Mitarbeiter aus und stellten vier neue Überwachungsprodukte im Rahmen der „Google Nest Initiative“ vor.

Auch Schauspieler Jan Josef Liefers (Minute 11:50) war der Teil der Kunstaktion. Video: re:publica

Eins dabei kurioser als das andere: Etwa „Google Bee“, eine Drohne, mit der man die eigene Familie per Livestream überwachen kann. Oder „Google Bye“, ein Onlineprofil, das sich nach dem Tod aktiviert. Die re:publica und die Zuschauer waren dabei in die Aktion eingeweiht. Google selbst fand die neue Produktpalette gar nicht lustig und forderte das Berliner Kollektiv auf, die entsprechende Google Nest-Website zu löschen: „It’s completely free – you pay with your data“, hieß es dort.


Rocco & seine Brüder: Untergrund statt abgehoben

Überdimensionale Stolpersteine vor der AfD-Zentrale in der Schillstraße 9. Am nächsten Tag wurden sie bereits wieder entfernt. Foto: Rocco und seine Brüder

Wenn Marina Abramovic die Klassik der Aktionskunst ist, dann ist das Künstlerkollektiv Rocco & seine Brüder Straßenrap. Ursprünglich stammen die Künstler, die anonym bleiben wollen, aus der Graffitiszene Berlins. Doch ihre Kunst geht weit über das Trainwriting hinaus, sie übt Kritik an Rassismus, sozialer Ungerechtigkeit und Rechtspopulismus. Im Dezember 2017 hämmerten die Jungs Stolpersteine in Gedanken an die Wehrmacht vor die AfD-Zentrale in den Asphalt. Der Hintergrund: AfD-Politiker Alexander Gauland hatte zuvor in einer Rede gesagt, so wie andere Länder „haben wir das Recht, stolz zu sein auf Leistungen deutscher Soldaten in zwei Weltkriegen“. Über die Zeit des Nationalsozialismus befand er: „Man muss uns diese zwölf Jahre nicht mehr vorhalten“.

So richtige Arbeitsatmosphäre kommt hier nicht auf: Das CDU-Büro im U-Bahntunnel. Foto: Rocco und seine Brüder

In einer anderen Aktion bauten Rocco & seine Brüder einen Notausgangsschacht der U9 kurzerhand zu einem Büro für die CDU um. Die CDU ging damals politisch gegen den Mietendeckel vor – und musste wegen steigender Mietpreise ihr eigenes Büro verlassen.


Simon Weckert: I got 99 problems but the traffic ain’t one 

Weckert zog mit dem Bollerwagen unter anderem durch die Tucholskystraße in Mitte. Dort befindet sich auch die Berliner Geschäftsstelle von Google. Video: Simon Weckert

Der in Berlin lebende Künstler Simon Weckert reflektiert in seinen Arbeiten Gesetzmäßigkeiten von Daten und Algorithmen und deren gesellschaftliche Auswirkungen. Klingt kompliziert? Muss es nicht sein. Ganz anschaulich wird es, wenn man einen Bollerwagen mit 99 Smartphones durch die Stadt zieht – genau das machte Weckert 2020 mit der Aktion „Google Maps Hacks“. Auf jedem der 99 Handys wurde Google Maps aktiviert. Weil der Kartendienst die GPS-Daten als hohe Verkehrsdichte fehlinterpretierte, wurden die Straßen als überlastet gekennzeichnet. Also nutzten die Verkehrsteilnehmer die ihnen vorgeschlagenen Alternativrouten – und der Künstler lief durch leergefegte Straßen in Mitte. Gegenüber der Washington Post sagte Weckert, die Zahl 99 sei von Jay-Zs Song „99 Problems“ inspiriert: „Es sind 99 Probleme für technologische Dienstleistungen.“


Mehr Kunst in Berlin

Das Kunstkollektiv Rocco und seine Brüder kommen ursprünglich aus in der Graffiti-Szene. Diese weiteren Graffiti-Crews haben ebenfalls das Stadtbild Berlins mitgestaltet. Im Gegensatz zu den oft illegalen Graffiti-Aktionen zieren auch viele legale Kunstwerke die Mauern und Wände der Stadt – etwa die Fassadenkunst von Gert Neuhaus. Ein Berliner Bezirk mit einer dynamischen Kunstszene ist Neukölln – dort befindet sich auch die Kunsthalle Neukölln. Warum Kreativwerkstätten so wichtig sind wie diese, erfahrt ihr hier. Generell gibt es in Berlin immer was zu bestaunen: Neue Kunst-Tipps und die letzten Ausstellungschancen haben wir hier für euch zusammengestellt.

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