Berlin verstehen

Berlin 1972: Horst Mahler, Angela Davis und West-Besuche im Osten

Berlin, 1972. Die Stadt wird bunter und moderner, langsam normalisiert sich die politische Situation, dafür sorgt der Grundlagenvertrag zwischen der BRD und der DDR, ab sofort dürfen die West-Berliner mit einem Tagesvisum den Osten besuchen. Der nachbarschaftliche Systemkampf wird zum Alltag. In Ost-Berlin marschieren die Blauhemden am 1. Mai und die radikale Aktivistin Angela Davis besucht die DDR-Hauptstadt. Im Westen rollen die Alliierten mit Panzern über die Straße des 17. Juni. Auch in der Berliner Kultur tut sich einiges. Diese 12 Fotos führen ins Berlin des Jahres 1972.


Viermächteabkommen regelt die Teilung der Stadt

Alliierten-Militärparade in Berlin, August 1972. Foto: Imago/Gerhard Leber
Alliierten-Militärparade in Berlin, August 1972. Foto: Imago/Gerhard Leber

West-Berlin hatte keine Sperrstunde und die Männer mussten nicht zur Bundeswehr, politisch war die Mauerstadt abgekoppelt, an den Bundestagswahlen nahm man nicht teil. Das lag an den alliierten Schutzmächten, die Berlin offiziell regierten. Die West-Berliner arrangierten sich gerne und die „Amis“ waren so etwas wie die großen Brüder. Es gab Diskotheken, Einkaufsläden und Kinos in denen die GIs verkehrten, hin und wieder mal eine Militärparade und die Volksfeste. Und auch sonst viele Gelegenheiten, bei denen sich die Besatzer und die Bevölkerung begegneten. Nicht wenige deutsch-amerikanischen Ehen gehen auf diese Zeit zurück. 


Unterzeichnung des Grundlagenvertrages

Bundesminister für besondere Aufgaben Egon Bahr (SPD) und Staatssekretär für westdeutsche Fragen Michael Kohl (SED) anlässlich der Unterzeichnung des Grundlagenvertrages zwischen der BRD und der DDR in Ost-Berlin, Dezember 1972. Foto: Imago/Sven Simon
Bundesminister für besondere Aufgaben Egon Bahr (SPD) und Staatssekretär für westdeutsche Fragen Michael Kohl (SED) anlässlich der Unterzeichnung des Grundlagenvertrages zwischen der BRD und der DDR in Ost-Berlin, Dezember 1972. Foto: Imago/Sven Simon

Die Weltpolitik entspannte sich bereits 1971 ein wenig. Nach der Unterzeichnung des Viermächteabkommens über Berlin, zogen die BRD und die DDR nach. Willy Brands „Ostpolitik“ zeigte ihre Wirkung und im Dezember 1972 unterzeichneten der Bundesminister für besondere Aufgaben Egon Bahr (SPD) und der Staatssekretär für westdeutsche Fragen Michael Kohl (SED) den Vertrag über die Grundlagen der Beziehungen zwischen den beiden deutschen Staaten. Darin wurden die Weichen für eine Annäherung beider Länder gestellt, man bekannte sich zu gutnachbarschaftlichen Beziehungen, erkannte die Grundsätze der Vereinten Nationen an und verpflichtete sich, die gegenseitigen Grenzen zu achten und auf Gewalt zu verzichten. Auch der Austausch von ständigen Vertretungen wurde vereinbart, damit nahmen die BRD und DDR diplomatische Beziehungen auf.


Die moderne Stadt – Kino International

Kino International in Berlin mit einem Plakat eines Films von Damiano Damiani ("Die Untersuchung ist abgeschlossen - Vergessen sie alles"), 1972. Foto: Imago/Marco Bertram
Kino International in Berlin mit einem Plakat eines Films von Damiano Damiani („Die Untersuchung ist abgeschlossen – Vergessen sie alles“), 1972. Foto: Imago/Marco Bertram

Die Hauptstadt der DDR war modern! Das lag auch an Josef Kaiser, der in den frühen 1950er-Jahren Chefarchitekt von Stalinstadt (heute Eisenhüttenstadt) wurde, anschließend wechselte er ins Büro von Hermann Henselmann. Auf Kaiser geht insbesondere die rötliche Fassadengestaltung des Staatsratsgebäudes der DDR zurück, daneben arbeitete er in den späten 1960er-Jahren an den Plänen für das Centrum Warenhaus am Alexanderplatz sowie am Außenministerium der DDR. Kaisers bekannteste Bauten allerdings finden sich auf der heutigen Karl-Marx-Allee. Mit dem Kino Kosmos, dem auch heute noch genutzten Kino International (Foto) und dem Café Moskau entwarf Kaiser ikonische DDR-Architektur, die auch 1972 die Atmosphäre in der Stadt prägte.


Horst Mahler und die Bewegung 2. Juni

Der Rechtsanwalt Otto Schily beim Mahler-Prozess in West Berlin, Oktober 1972. Foto: Imago/ZUMA/Keystone
Der Rechtsanwalt Otto Schily beim Mahler-Prozess in West Berlin, Oktober 1972. Foto: Imago/ZUMA/Keystone

Die 1970er-Jahre waren das Jahrzehnt des linksextremen Terrors, das bekamen auch die West-Berliner zu spüren. Die Verbindungen zwischen RAF und der Mauerstadt waren eng geknüpft und mit der Bewegung 2. Juni gründete sich in Berlin eine eigene terroristische Vereinigung. Eine der schillerndsten Figuren in der Anfangszeit der RAF war der extravagante und als brillant geltende Berliner Anwalt Horst Mahler. Er war Mitglied einer schlagenden Verbindung, der SPD und des Sozialistischen Deutschen Studentenbunds (SDS). Er kam in den 1950er-Jahren nach West-Berlin und studierte Rechtswissenschaften und war, neben dem Grünen-Urgestein Hans-Christian Ströbele, Mitbegründer des Sozialistischen Anwaltskollektivs. 1970 war Mahler an der Gründung der RAF beteiligt und Mitorganisator der so genannten „Baader-Befreiung“. Im Herbst 1972 begann der Prozess gegen Mahler, bei dem er unter anderem von dem späteren Bundesinnenminister Otto Schily (Foto) verteidigt wurde.


West-Besuche in Ost-Berlin sind möglich

Im April 1972 wurde die Mauer durchlässiger, ab sofort durften West-Berliner den Ostteil der Stadt besuchen. Foto: Imago/ZUMA/Keystone
Im April 1972 wurde die Mauer durchlässiger, ab sofort durften West-Berliner den Ostteil der Stadt besuchen. Foto: Imago/ZUMA/Keystone

Bis 1972 war es West-Berlinern nicht gestattet, ohne Weiteres in den Ostteil der Stadt zu reisen. Erst im Juni jenes Jahres konnten die Bewohnern der Mauerstadt jederzeit Ost-Berlin und die DDR besuchen. Die neuen Vereinbarungen erlaubten das einseitige Passieren der Grenze. Die Regel war ein so genanntes „Tagesvisum“, das einen Besuch bis Mitternacht ermöglichte. Ein Problem für Nachtschwärmer, die sich stets rechtzeitig wieder im Westen einfinden mussten.


„Cabaret“ kommt in die Kinos

Michael York und Liza Minnelli in "Cabaret" (1972). Foto: Imago/United Archives
Michael York und Liza Minnelli in „Cabaret“ (1972). Foto: Imago/United Archives

Berlin, Anfang der 1930er-Jahre. Sally Bowles ist Kabarettsängerin im Kit-Kat-Club. Als Star des Etablissements erhofft sie sich den großen Karrieresprung, dort trifft sie auch auf den englischen Studenten Brian. „Cabaret“ kam 1972 in die Kinos und prägt bis heute das Image der Stadt. Bob Fosses Adaption des berühmten Musicals nach den ebenfalls berühmten Erlebnissen des englischen Schriftstellers Christopher Isherwoods im Berlin der frühen 30er-Jahre wirkte auch bei den Berlinern selbst. Ein absoluter Kultfilm.


Die sozialistische Jugend feiert den 1. Mai

FDJ-Blauhemden während der Demonstration zum 1. Mai 1972 in Ost-Berlin. Foto: Imago/Sven Simon
FDJ-Blauhemden während der Demonstration zum 1. Mai 1972 in Ost-Berlin. Foto: Imago/Sven Simon

Der 1. Mai in Berlin hat eine mehr als wechselvolle Geschichte. Nach dem Krieg instrumentalisierte das von Moskau gesteuerte DDR-Regime auf Ost-Berliner Seite den Tag für Propagandazwecke. In den frühen 1950er-Jahren marschierten die Demonstrationen unter riesigen Porträts von Stalin und Pieck. Später feierte die sozialistische Jugend im Blauhemd und unter rotem Stern das internationale Proletariat. In West-Berlin herrschte am Tag der Arbeit 1972 noch verhältnismäßige Ruhe, die Krawalle in Kreuzberg sollten erst ein Jahrzehnt später beginnen.


Binnenschiff in Köpenick

Binnenschiff auf der Dahme in Köpenick. Foto: Imago/NBL
Binnenschiff auf der Dahme in Köpenick. Foto: Imago/NBL

Die 95 Kilometer lange Dahme entspringt in der gleichnamigen Stadt im Landkreis Teltow-Fläming und mündet in Köpenick, gleich hinter der Schlossinsel, in die Spree. Damit fließt nur der letzte Abschnitt auf Berliner Gebiet. Doch mit den Damemühlen und den Beschreibungen in Fontanes „Wanderungen“ gehört die Dahme zu Berlin dazu. Auch für die Binnenschifffahrt ist sie von Bedeutung, wie das Foto aus dem Sommer 1972 zeigt. Wer Lust auf eine Entdeckungstour hat: Ausflüge entlang der Dahme können in Schmöckwitz oder Grünau beginnen, am besten lässt sie sich aber rund um die Altstadt Köpenick bewundern.


Angela Davis besucht die Hauptstadt der DDR

Ikone der radikalen Linken: Soziologin Angela Davis besucht 1972 Ost-Berlin. Foto: Imago/Pemax
Ikone der radikalen Linken: Soziologin Angela Davis besucht 1972 Ost-Berlin. Foto: Imago/Pemax

Die afroamerikanische Bürgerrechtlerin, Soziologin und Ikone der „Black Power“-Bewegung Angela Davis pflegte internationale Kontakte und besuchte mehrmals die Hauptstadt der DDR. Ihr berühmtester Auftritt fand 1973 bei den X. Weltfestspiele der Jugend und Studenten statt. Doch schon am 11. September 1972, kurz nachdem sie in den USA von dem Vorwurf der „Unterstützung des Terrorismus“ freigesprochen wurde, kam sie nach Ost-Berlin. Die ostdeutsche Begeisterung für die radikale Aktivistin äußerte sich auch in dem Song „Free Angela“ der DDR-Rockband Panta Rhei.


Alexanderplatz, 1972

Urania-Weltzeituhr auf dem Alexanderplatz: Imago/Gerhard Leber
Urania-Weltzeituhr auf dem Alexanderplatz. Foto: Imago/Gerhard Leber

Auf dem Alexanderplatz glänzte die sozialistische Moderne und die Weltzeituhr diente schon seit ihrer Aufstellung Ende der 1960er Jahre als wichtiger Treffpunkt. Die Uhrenanlage wurde kurz vor dem 20. Jahrestag der DDR, zu dem auch der Fernsehturm eröffnet wurde, eingeweiht. Gestaltet hat die ikonische und sich weltweit großer Popularität erfreuende Weltzeituhr der Designer und Hochschuldozent Erich John.


„Keine Macht für Niemand!“ der Ton Steine Scherben erscheint

Mariannenplatz, Kreuzberg – Die Ton Steine Scherben geben ein Konzert vor dem leerstehenden Bethanien. Foto: Jutta Matthes
Mariannenplatz, Kreuzberg – Die Ton Steine Scherben geben ein Konzert vor dem leerstehenden Bethanien. Foto: Jutta Matthes

Im Oktober 1972 erschien das wohl berühmteste Album der Ton Steine Scherben: „Keine Macht für Niemand“. Ein dicker weißer Pappkarton, ein kritzliger Schriftzug, darin zwei schwarze Schallplatten. Die Doppel-LP gehört zu den bedeutendsten Plattenveröffentlichungen der Ära. Rio Reisers Texte rufen zu Protest und Widerstand auf. Für Berlin sind neben legendären Liedern wie „Die letzte Schlacht gewinnen wir“ und „Wir müssen hier raus!“ vor allem „Mensch Meier“ und der „Rauch-Haus-Song“ von zeithistorischer Bedeutung. In „Mensch Meier“ kritisieren die Scherben die Fahrpreiserhöhung der BVG und der „Rauch-Haus-Song“ handelt von der Besetzung des ehemaligen Bethanien-Krankenhauses am Mariannenplatz in Kreuzberg.


Am Frankfurter Tor

Friedrichshain am Frankfurter Tor, Winter 1972. Foto: Imago/Gerhard Leber
Friedrichshain am Frankfurter Tor, Winter 1972. Foto: Imago/Gerhard Leber

Die Karl-Marx-Allee reicht vom Alexanderplatz über den Strausberger Platz bis zum Frankfurter Tor. Die Zuckerbäckerarchitektur der Arbeiterpaläste dominiert die mächtige Achse, die Mitte mit Friedrichshain verbindet. Auch 1972 bot der Berliner Prospekt die klassische Perspektive in Richtung Stadtzentrum, wo der damals noch recht neue Fernsehturm in den Himmel ragt.


Mehr Berlin verstehen

Lust auf mehr Geschichte? So sah die geteilte Stadt 1981 aus. Und auch das Jahr 1991 haben wir uns genauer angeschaut. Immer neue spannende Geschichten aus der Geschichte Berlins findet ihr hier. So war das Leben in dder Hauptstadt der DDR: 12 Dinge, die jeder kennt, der in Ost-Berlin der 1980er gelebt hat. In Berlin gibt es Orte, die legendär sind und nicht mehr existieren. Eine Auswahl findet ihr hier. Neu in Berlin? Dann herzlich willkommen. Damit dieses Willkommen auch herzlich bleibt, hätten wir hier ein paar gute Tipps für Zugezogene.

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