Berlin verstehen

1920er-Jahre in Berlin: Fakten aus dem beliebtesten Reiseführer der Ära

1927 schrieb der ungarisch-deutsche Journalist und Autor Eugen Szatmari seinen berühmten Berlin-Reiseführer „Was nicht im Baedeker steht“, in dem er mit viel Liebe für die Stadt, Humor und zuweilen abwegigen Fakten einen Hit landete. Inzwischen ist Szatmaris Bestseller neu erschienen. In 12 Stationen lassen wir uns von dem fast 100 Jahre alten Text durch die Stadt führen. Hinein ins Berlin der 1920er-Jahre!

Die Stadt machte in den 1920er-Jahren einen gewaltigen Sprung nach vorn: Technik, Lebenslust und Weltgewandtheit zogen in die Metropole ein, die sich zudem von den Schrecken des Ersten Weltkrieges erholte. In den Nachtclubs feierte man unentwegt, man tanzte auf dem sprichwörtlichen Vulkan. Die Restaurants wurden besser, vielfältiger und internationaler, der Verkehr dichter. Auch Touristen strömten in den „Roaring Twenties“ in Massen an die Spree. Sogar aus den USA. Mit Szatmari geht es zu den feinen Etablissements, in Theater und Kinos und in die Unterwelt. Einiges wirkt antiquiert, doch vieles hat sich erstaunlicherweise nicht sehr verändert. Gute Reise!


Tipps für Automobilisten

1920er in Berlin: Der Potsdamer Platz mit Verkehrsturm, 1926. Foto: Imago/Arkivi
Der Potsdamer Platz mit Verkehrsturm, 1926. Foto: Imago/Arkivi

„Heutzutage“, schreibt Eugen Szatmari in seinem Reiseführer, „da sich das Automobil zu einem vollwertigen Verkehrsmittel entwickelt, wird es gewiss viele Leute geben, die nicht mit der Eisenbahn in der Reichshauptstadt eintreffen, sondern als Touristen mit dem eigenen Auto kommen“. Mitte der 1920er-Jahre gehörten Personenkraftwagen bereits zum Berliner Alltag dazu, vor allem waren es aber Taxis, die so genannten Droschken, oder Privatwagen mit Chauffeur, die sich die Oberschicht leisten konnte.

Die Tipps von Szatmari erklären die wichtigsten Verkehrsregeln in Berlin, etwa die damals noch recht neuen Ampelanlagen am Potsdamer Platz sowie das in der Weimarer Republik geltende Rechtsfahrgebot. Die vorgeschriebene Fahrgeschwindigkeit lag damals stadtweit bei 35 Stundenkilometern, auch attestierte der Autor den Droschkenchauffeuren (sprich Taxifahrern) „nicht gerade rücksichtsvoll zu fahren.“


Wo wohnt man in Berlin?

1920er in Berlin: Unter den Linden mit Blick auf Hotel Adlon, 1928. Foto: Imago/Arkivi
Unter den Linden mit Blick aufs Hotel Adlon, 1928. Foto: Imago/Arkivi

Nach dem Ersten Weltkrieg entwickelte sich Berlin zwar zu einer europäischen Metropole ersten Ranges, etwa 1,6 Millionen Besucher kamen in den 1920er-Jahren an die Spree, davon 30.000 Amerikaner, wie der Autor des Reiseführers „Was nicht im Baedeker steht“ begeistert feststellt. Im Vergleich zu anderen Städten dieser Größenordnung war „Berlin aber eine ausgesprochen hotelarme Stadt“.

Zumindest gab es in den Hotels aus dem mittleren Lage stets Strom, fließend Wasser und auch, man höre und staune, Telefon. Ganz begeistert ist Szatmari jedoch von der Luxusklasse und besonders vom Adlon, das schon immer die erste Adresse in der Stadt war. „Rudolph Valentino hat ebenso im Adlon gewohnt wie Pola Negri oder Charlie Chaplin und Douglas Fairbanks“, das Namedropping geht immer weiter. Andere wichtige Hotels waren damals das Esplanade, Kaiserhof, Bristol, Eden und Fürstenhof.


Ein Spaziergang am Vormittag

1920er in Berlin: Unter den Linden, Ecke Friedrichstraße, um 1925. Foto: Imago/Arkivi
Unter den Linden, Ecke Friedrichstraße, um 1925. Foto: Imago/Arkivi

Die schönste Straße Berlins ist laut Eugen Szatmari Unter den Linden. Die Geschichte des prächtigen Boulevards erzählen wir hier. Hier beginnt auch der von ihm empfohlene Spaziergang, den man am Vormittag machen sollte. Vom Brandenburger Tor geht es an seinem geliebten Hotel Adlon vorbei hinunter zum Lustgarten. Man passiert die russische Botschaft und die „Weltecke“, dort wo der Boulevard auf die Friedrichstraße trifft. Es folgen das ehemalige Kronprinzenpalais, das Berliner Schloss, irgendwann Alexanderplatz, Potsdamer Platz und die großen Warenhäuser von Tietz und Wertheim. Irgendwann landet der Flaneur in der City West, streift herum am Kurfürstendamm, Gedächtniskirche, entzückt von dem Großstadtgewühl, den Kinos und Kaffeehäusern. Ein klassischer Spaziergang.


Wo soll man essen? Berliner Restaurants in den Goldenen Zwanzigern

1920er in Berlin: Restaurant Hotel Hessler in Charlottenburg, 1925. Foto: Imago/Arkivi Berlin
Restaurant Hotel Hessler in Charlottenburg, 1925. Foto: Imago/Arkivi Berlin

Das vermutlich lustigste und aufschlussreichste Kapitel in Eugen Szatmaris Berlin-Reiseführer aus den 1920er-Jahren widmet sich dem Essen. Berlin war mit der typischen Küche nicht unbedingt als die Hauptstadt des guten Geschmacks bekannt, Gourmets reisten lieber nach Paris oder nach Wien, über die deutsche Metropole rümpfte man die Nase. Doch immerhin empfiehlt der Autor auch preisgünstige Etablissements, neben den luxuriösen Hotelrestaurants und feinen Adressen wie dem Hiller Unter den Linden, dem Borchard in der Französischen Straße oder dem einst weltberühmten Horcher in der Augsburger Straße.

„Es gibt eine ganze Reihe von bürgerlichen Restaurants, wo man schon für 1,25 Mark ein Gedeck bekommt“, schreibt er und setzt süffisant hinzu: „Nur dass ihm dort freilich meistenteils der ortsübliche Sauerbraten vorgesetzt wird, mit einer Generalsauce von unbestimmbarer Farbe übergossen, ferner jenes Flammende, das eine Speise sein soll, aber für den Nichtberliner sein Leben lang nur ein zittriges Etwas bleiben wird, an das er voller Schrecken zurückdenkt!“ Herrlich! Allein für diese Einschätzungen lohnt sich eine Blick ins Berlin vor 100 Jahren. Und im Berlin heute? Da empfehlen wir euch in der Food-Rubrik die besten Restaurants.


Stars, Kritiker und Bühnen: Theater und Kabaretts der Stadt

1920er in Berlin: Werner Krauss in "Falstaff" am Deutschen Theater, 1929. Foto: Imago/United Archives
Werner Krauss in „Falstaff“ am Deutschen Theater, 1929. Foto: Imago/United Archives

Auch in den 1920er-Jahren kamen die Berlinbesucher nicht unbedingt wegen des guten Klimas oder der hervorragenden Küche in die Stadt, nein, schon damals hatte das Kulturleben eine magnetische Wirkung. Theater, Konzerte, Kinos und Varietés spielten die ganze Woche, rund um die Uhr. Legendäre Künstler, von Brecht und der Dietrich über Max Reinhardt bis Erwin Piscator, prägten von Berlin aus den modernen Kulturbetrieb.

Süffisant, jedoch mit viel Hochachtung, beschreibt Szatmari die heute so nicht mehr existierende Berliner Theaterwelt. Er zeichnet ein Panorama des kulturellen Lebens zwischen Dramatikern und Diplomaten, Regisseuren und Geheimräten, eine Welt der Skandale und des Glamours. Der Autor führt in Redaktionsstuben, wo die Kritiker mit scharfer Feder richten, in die Logen, wo die Juwelen klimpern, und hinter die Kulissen der Bühnen, in die Kantinen und Garderoben, wo die Stars mal Mensch sein können. Heute gibt es immer noch viel Kabarett in Berlin: Tolle Bühnen für politische Satire.


Kinostadt par excellence

Filmplakat zu Fritz Langs "Metropolis", 1927. Foto: Imago/ Everett Collection
Filmplakat zu Fritz Langs „Metropolis“, 1927. Foto: Imago/ Everett Collection

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Das Medium Film war in den 1920er-Jahren noch ein relativ junges Medium. In Berlin gab aber bereits die Universum Film AG, kurz Ufa, seit 1917 den Ton an. Damals aber noch ohne Ton, aber gerade in der Stummfilmära war Berlin durch Filme von Fritz Lang, darunter sein bahnbrechendes Meisterwerk „Metropolis“ (1927), und anderer Regisseure eine der Welthauptstädte des Kinos. Hollywood zog erst nach und nach 1933 gingen nicht wenige Berliner Filmemacher ins US-Exil, um im Land der unbegrenzten Möglichkeiten Karriere zu machen.

Szatmari schwärmt von den alten Kinopalästen am Ku‘’D’damm, etwa dem Marmorhaus und dem Emelkapalast, damals wurden die Foyers noch zum jeweiligen Kinohit thematisch passend ausstaffiert. Lief ein Piratenfilm, verwandelte sich der Eingangsbereich in eine Piratenhöhle. Das Vergnügen war teuer, drei bis vier Mark kostete eine Karte, dafür gab es aber zwei Filme und die Wochenschau. Das sind heute Berlins beste Kinos: Von klein und besonders bis Mainstream.


Das Romanische Café

Milieustudie im Romanischen Café in Berlin, 1927. Foto: Rudolf Großmann/Gemeinfrei
Milieustudie im Romanischen Café in Berlin, 1927. Foto: Rudolf Großmann/Gemeinfrei

Gleich nach dem Ersten Weltkrieg gab es in Berlin zwei Künstlerlokale, weiß Szatmari, das Café Größenwahn und das Maenz. Um 1927 sind beide irrelevant. An der Ecke Kurfürstendamm und Joachimsthaler Straße, im Zooviertel, das mittlerweile City West genannt wird, sitzt in verqualmten Räumen die geistige Elite der Stadt. Das „hochmoderne Kaffeehaus“ ist „todschick“, mit rotgoldenen Tapeten und gleichgültigen Kellnern. Die Gäste schlürfen Mokka und Melange, rauchen und reden, einige schreiben, viele streiten und debattieren. Maler, Literaten, Redakteure und Galeristen verkehren hier regelmäßig.

Bruno Cassirer, der Verleger, ist Stammgast, ebenso dessen Kollege Alfred Flechtheim, auch der rasende Reporter Egon Erwin Kisch schaut regelmäßig rein, Otto Dix und Max Pechstein lassen sich sehen. In den Ecken drängen sich russische und ungarische Immigranten und so manches junge Talent warten hier auf den Durchbruch. Im Romanischen Café konzentrierte sich der Weltgeist, es war die kulturelle Quintessenz der Weimarer Republik. Noch mehr Lokale der Berliner Kunstszene: Hier traf und trifft sich die Boheme.


Berliner Nächte

Die Gedächtniskirche bei Nacht, um 1930. Foto: Imago/Arkivi

„Die Berliner Nacht, diese lichterfüllt glitzernde, sektperlende, jazzbanderfüllte, laute, fast überlaute, und stets überquellende Nacht“, schreibt Szatmari. Wohin geht man in den 1920er-Jahren in Berlin also am Abend? Die Beantwortung dieser Frage ist eine „heikle Aufgabe“, die sich dem Autor des berühmten Reiseführers stellt. Für ihn ist klar: ab in den Westen! Wer nicht ins Theater oder Kino will, nicht zu einer Sportveranstaltung oder ins Restaurant, den zieht es in die Vergnügungslokale der Stadt – und diese sind in Charlottenburg.

Zwar zählt Szatmari einige feine Etablissements in Mitte auf, den Pavillon Mascotte, den eleganten Palais de Danse, Tummelplätze der „nächtlichen Schmetterlinge“, doch so richtig schien es damals rund um den Ku’Damm abzugehen. Im Valencia und Barberina, dem Palais am Zoo und den „zahllosen Kasinos, Dielen und Bars“ in der Umgebung. Auch von geheimen Lokalen, die trotz Polizeistunde geöffnet blieben, ist die Rede. Auch jenseits der „goldtrotzenden Marmorpaläste“ hat er Tipps für nächtliches Amüsement, etwa das Eldorado in der Lutherstraße, kein Luxus, keine Pracht, dafür wird das schönste Kostüm prämiert. Der erste Preis war ein lebender Affe.


Die Unterwelt Berlins

Polizeirazzia in Berlin der 1920er-Jahre. Foto: Imago/United Archives International

„Jede Großstadt hat ihre Unterwelt“, schreibt Szatmari, und die ist für den neugierigen Besucher durchaus interessant. In den 1920er-Jahren war das Verbrechen in Berlin überall präsent – auf legendäre Kriminalfälle blicken wir hier zurück. Gaunerbanden, die so genannten Ringvereine, trieben ihr Unwesen, es gab Gegenden, in denen Prostitution an der Tagesordnung war, und immer wieder sorgten Serienmörder wie die „Bestie vom Schlesischen Tor“ für furchterregende Schlagzeilen.

Doch „ein echtes Verbrecherviertel wie Whitechapel in London, hat Berlin nicht“, weiß der Autor, wenn überhaupt, war es vielleicht das Scheunenviertel. „Aber das Scheunenviertel ist bebaut und umgebaut“. Gentrifizierung war auch vor 100 Jahren ein Thema, selbst wenn der Begriff damals noch nicht existierte. „Es gibt aber eine Reihe von dunklen Stadtgegenden, die am Tage nüchterne Arbeiterviertel zu sein scheinen“. In den Hinterhöfen, Nebengassen und Gängen tauchen nach Sonnenuntergang zwielichtige Gestalten auf, geschminkt Mädchen und fies dreinblickende Männer. Lichtenberg, Jannowitzbrücke, Schlesischer Bahnhof aber auch Moabit und Wedding, das sind die Stadtteile, wo „das Verbrechen in Berlin vornehmlich zu Hause ist“.


Rennbahnen und grüner Rasen

Rennbahn in Mariendorf, 1920er-Jahre. Foto: Imago/Arkivi

Berlin hatte sechs Rennbahnen in den 1920er-Jahren, zwischen Hoppegarten, Mariendorf, Grunewald und Karlshorst entstand eine anziehende Welt für Liebhaber des Pferdesports. Galopp, Hindernisrennen oder Trab, man wettete auf alles. „Die Grunewaldbahn hat riesengroße moderne zweistöckige Tribünen und ein elegantes Restaurant“, schreibt Szatmari in „Was nicht im Baedeker steht“. Er entzückt sich über das frische Grün des Geläufs in Hoppegarten und freut sich über die Grafen und feinen Damen der Gesellschaft und „Zilles Volk“, die allesamt zu den Rennen pilgern. Auch heute noch gibt es Rennen in Berlin: Wir stellen euch die Pferderennbahnen vor.


Das „Argot“ und die Berliner Redensarten

Ein echtes Backfeifenjesicht? Foto: Imago/Siegfried Pilz/United Archives

„Das Wort ‚Argot‘ ist unübersetzbar“, behauptet Szatmari. Im Gegensatz zum Dialekt, der eine durch natürliche Entwicklung entstandene Abart einer Sprache ist, handelt es sich beim „Argot“ um eine Spezialität der Großstädte. So ist das „Argot“ sehr veränderlich, es bereichert sich von Jahr zu Jahr, weshalb sich die Berliner Redensarten auch ständig wandeln.

Freilich findet man die Wendungen und Begriffen zumeist im „Milljöh“. Man „türmt“, findet Sachen „knorke“ und knallt dem Gegenüber ein „Vahsteste“ an den Kopf. Allein für Geld kennt der waschechte, in Spreewasser getaufte Berliner folgende Ausdrücke: Marie, Eier, Zimt, Piepen, Moneten, Platten, Pinke, Möpse, Moos. Nicht alles sind heute noch in Gebrauch, aber das Berlinern und Schimpfen gehört heute noch zur DNA der Stadt.


Ein Ausflug nach Potsdam

Potsdam, Panorama vom Brauhausberg mit Nikolaikirche, 1926. Foto: Imago/Arkivi

Wie in jedem guten Berlin-Reiseführer, findet sich auch in Eugen Szatmaris ein Kapitel, das sich Potsdam widmet. Die brandenburgische Residenzstadt ist bis heute ein „Must See“ für alle Berlinbesucher. Denkmäler, Schlösser, Gärten, die ganze preußische Pracht, all das würdigt Szatmari pflichtbewusst. Er zergeht sich über Stil und Architektur, der ganzen Friedrichs und Wilhelms, Alte Markt, Nicolaikirche, Luisenplatz. Alles schön, alles glänzt! Schließlich ist Potsdam bis heute eine wunderbare Stadt, die es sich zu entdecken lohnt. Aber so richtig gehört sein Herz dann doch der wuseligen Großstadt Berlin, die nur wenige Jahre nach der Veröffentlichung und dem großen Erfolg seines Reiseführers, sich schlagartig verändert hat.


  • Eugen Szatmari: „Berlin – Alles was nicht im Baedeker steht„, Milena Verlag, mit einem Nachwort von Magnus Klaue, zahlreiche Illustrationen, ca. 240 Seiten, Hardcover, Farbschnitt, Leseband, 23 Euro

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