Biografie

Sex, Poesie und Dialektik: Wie Bertolt Brecht das Theater revolutionierte

Bertolt Brecht war prägend für Berlin und für das Theater. Ach was, man kann von einer ästhetischen Revolution sprechen: Der kommunistische Dramatiker und Lyriker hat Altbekanntes umgeworfen, bis heute führt kein Weg an ihm vorbei. Am 10. Februar 2023 wäre Brecht 125 Jahre alt geworden. Wir blicken zurück auf sein Leben, sein Schaffen, sein Berlin – und auf die Zeit, als man im Westen nichts mit ihm zu tun haben wollte.

Bertolt Brecht im Jahr 1948. Foto: Imago/Allstar/Mary Evans/AF Archive

Bertolt Brecht: Von München zu Marx

Fast wäre er Mediziner geworden, doch die Bücher standen ihm im Weg. Geboren am 10. Februar 1898 in Augsburg, studierte Eugen Berthold Friedrich Brecht – irgendwann kürzte er seinen Namen auf Bertolt – zunächst Medizin und Philosophie in München. Statt sich in die Vorlesungen zu schleppen, verlor sich der junge Student in einem Literaturseminar – und machte sich auf den Weg, zu einem der bedeutendsten Dichter und Theatermacher des 20. Jahrhunderts zu werden. Seine ersten Stücke schrieb er während des Studiums. Mit Erfolg: 1921 schmiss er die Uni und begann, als Dramaturg an den Münchner Kammerspielen zu arbeiten. Noch im selben Jahr wurde sein erstes Werk “Trommeln in der Nacht” uraufgeführt. 

Der aufhaltsame Auftsieg des Arturo Ui von Bertolt Brecht im Berliner Ensemble, unter der Regie von Heiner Mueller. Foto: Imago/DRAMA-Berlin.de

Den Marx hatte er da noch nicht entdeckt, im Zentrum standen Frauen: Von seiner Jugend an hatte Brecht zahlreiche Liebschaften, die er immer wieder in Gedichten thematisierte. Seine erste Ehe schloss Brecht 1922, er heiratete die Sängerin Marianne Zoff, mit der er zwei Kinder zeugte. Als die Beziehung nach zahlreichen Affären 1929 in die Brüche ging, heiratete Brecht die jüdisch-österreicherische Schauspielerin Helene Weigel, die fortan zu seiner kongenialen Begleiterin werden sollte. Sie hatte bereits während Brechts vorheriger Beziehung ein Kind von ihm geboren.

Schauspielerin Helene Weigel winkt mit Nelken im offenen Wagen auf einer Kundgebung zum 1. Mai in Berlin. Foto: Imago/Stana

Auch in der zweiten Ehe setzten sich Brechts Liebschaften und Affären fort – doch anders als es etwa bei Sartre und de Beauvoir der Fall gewesen war, hielt Weigel sich Zeit ihres Lebens bedeckt über die Affären ihres Mannes. 

Brechts erster Aufenthalt in Berlin: Marxismus und Lehrstücke 

Wenngleich München eine rote Insel im erzkonservativen Bayern war, führte für Kunstschaffende kein Weg an Berlin vorbei: Brecht verließ Bayern, von 1924 bis 1926 arbeitete er als Regisseur am Deutschen Theater. Hier lebten Brecht und Weigel in Wilmersdorf. In den darauffolgenden Jahren setzte er sich intensiv mit dem Marxismus auseinander und entwickelte sich, wenngleich er nie in die KPD eintrat, zum überzeugten Kommunisten.

“Eine halbwegs komplette Kenntnis des Marxismus kostet heut, wie mir ein Kollege versichert hat, zwanzigtausend bis fünfundzwanzigtausend Goldmark und das ist dann ohne die Schikanen. Darunter kriegen Sie nichts Richtiges, höchstens so einen minderwertigen Marxismus ohne Hegel oder einen, wo der Ricardo fehlt usw. Mein Kollege rechnet übrigens nur die Kosten für die Bücher, die Hochschulgebühren und die Arbeitsstunden und nicht was Ihnen entgeht durch Schwierigkeiten in Ihrer Karriere oder gelegentliche Inhaftierung, und er läßt weg, daß die Leistungen in bürgerlichen Berufen bedenklich sinken nach einer gründlichen Marxlektüre; in bestimmten Fächern wie Geschichte oder Philosophie werdens nie wieder wirklich gut sein, wenns den Marx durchgegangen sind.”

  • Bertolt Brecht: Flüchtlingsgespräche, Frankfurt/M, 1961, S.83

Fortan sollte sich dies auch in Brechts Werken widerspiegeln: In seinem Stück “Die Mutter” etwa verwandelt sich eine Arbeiterin über die Erfahrung, Teil einer kollektiven Bewegung zu sein, zu einem emanzipierten Individuum.

Aktives Theater: Bertolt Brecht und das Lehrstück

In dieser Zeit entwickelte Brecht das Konzept des epischen Theaters, welches er später auch als “dialektisches Theater” bezeichnete. Die Idee dahinter ist so einfach wie radikal: Statt sich in der Oberfläche der Verhältnisse zu spiegeln, soll das Theater für Brecht die Welt in ihrer Widersprüchlichkeit erkennbar machen. Damit soll die Veränderbarkeit der politischen, wirtschaftlichen oder sozialen Situation ersichtlich werden und der:die Zuschauer:in handlungsfähig werden. 

Jürgen Holtz als Jonathan Jeremiah Peachum in Brechts „Die Dreigroschenoper“ im Berliner Ensemble. Foto: Imago/DRAMA-Berlin.de

Das zentrale Mittel dafür: Verfremdungseffekte. Stücke wurden durch Lieder oder Kommentare unterbrochen, durch Requisiten gestört oder das Publikum direkt angesprochen. In seinen “Lehrstücken”, die auch als Vorboten der Aktionskunst gesehen werden, legte Brecht den Fokus zudem auf die Beteiligten selbst und löst sich damit vom klassischen Publikum. Der Erkenntnisgewinn soll vor allem im Spielen liegen, das Stück die Beteiligten zum Nachdenken bewegen. Die Schauspieler:innen stellen keine Individuen dar, auf klassische Figuren wird ohnehin verzichtet. Wer heute viel Zeit in Stücken von Frank Castorf oder René Pollesch verbracht hat, ist nicht mehr überrascht von solchen Methoden. In den 1920er-Jahren war dieser Umbruch revolutionär.

Das Publikum sollte nicht mit fertigen Entwürfen rein ästhetisch unterhalten werden, sondern sich aktiv eine eigene Haltung erarbeiten. Brechts große künstlerische Motivation: die gesellschaftlichen Strukturen durchschaubar und ihre Veränderlichkeit deutlich machen.

Das Bertolt Brecht Haus in der Chausseestraße in Berlin. Foto: IMAGO / Jürgen Ritter

Brecht im Exil: Paris, Dänemark, USA

Brechts revolutionäre Kunst und politischen Überzeugungen liefen den Nationalsozialisten zuwider: Ab 1930 begannen sie, Brechts Aufführungen massiv zu stören, bald schon stand er auf der “Schwarzen Liste” Wolfgang Hermanns. 1933 verließ Brecht Berlin und floh mit seiner Frau und Kindern ins Ausland. Am 10. Mai 1933 wurden seine Bücher, im Zuge der Bücherverbrennungen der NSDAP, auf dem Bebelplatz verbrannt und sein gesamtes Werk verboten. 

Mehrere Jahre lebte er mit seiner Familie auf der dänischen Insel Thurø, später auch in Dänemark und Finnland. Hier entstanden wichtige Exil-Werke wie “Das Leben des Galilei.” 1935 wurde ihm schließlich die deutsche Staatsbürgerschaft aberkannt. Brecht wurde zum Staatenlosen. 

“Auf der Flucht vor meinen Landsleuten
Bin ich nun nach Finnland gelangt. Freunde
Die ich gestern nicht kannte, stellten ein paar Betten
In saubere Zimmer. Im Lautsprecher
Höre ich die Siegesmeldungen des Abschaums. Neugierig
Betrachte ich die Karte des Erdteils. Hoch oben in Lappland
Nach dem nördlichen Eismeer zu
Sehe ich noch eine kleine Tür”

  • Bertolt Brecht, Steffinische Sammlung, 1940

Bertolt Brecht in Hollywood

Erst 1941 emigrierte Brecht mit seiner Familie in die USA und zog in ein Haus in Santa Monica, nahe Hollywood. Die Zeit sollte für das Paar zur künstlerischen Durststrecke werden: Brecht arbeitete kaum literarisch und bezeichnete sich angesichts seiner Abneigung gegen die USA und dem amerikanischen Desinteresse an seinem Werk als “Lehrer ohne Schüler”. 

Nachdem er vom Ausschuss für unamerikanische Tätigkeit verhört worden war, kehrte er 1947 nach Ost-Berlin zurück – der Zugang zu Westdeutschland blieb ihm verwehrt. Unter Wolfgang Langhoff begann er, am Deutschen Theater eigene Stücke zu inszenieren und bald seine literarischen Werke im Aufbau-Verlag und bei Peter Suhrkamp zu publizieren. Drei Jahre später erhielt das zuvor staatenlose Paar Brecht, auf Fürsprache zahlreicher Kulturschaffender, die österreichische Staatsbürgerschaft. 

Brecht zurück in Berlin: Die Gründung des Ensembles

In Berlin machte Brecht sich endlich wieder an die Arbeit: Im Jahr 1949 gründete seine Frau gemeinsam mit ihm das Helene-Weigel-Ensemble, das spätere Berliner Ensemble. Hierbei wurden sie von der SED mit 1,5 Millionen Mark bezuschusst, Weigel wurde zur Intendantin. 

Blick auf das Berliner Ensemble am Schiffbauerdamm. Foto: Imago/Jürgen Ritter

Eine große Zäsur für Brechts Arbeiten in der DDR stellten die Massenproteste am 17. Juni 1953 dar. Der Arbeiteraufstand wurde gewaltsam niedergeschlagen und kostete mindestens 55 Menschenleben. Brecht reagierte mit einem Brief, in dem er seine „Verbundenheit mit der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands“ ausdrückte, gleichzeitig aber Kritik übte und die „Aussprache mit den Massen über das Tempo des sozialistischen Aufbaus“ forderte.

So differenziert bekam die Öffentlichkeit das jedoch nicht mit. In der Zeitung “Neues Deutschland” wurde von der Regierung ausschließlich der Teil des Briefes gedruckt, in dem er seine Parteinähe zum Ausdruck brachte. Brecht versuchte noch, den vollständigen Brief zu veröffentlichen, doch es war zu spät: Sein Ansehen war dahin, zahlreiche westdeutsche und österreicherische Bühnen strichen seine Werke vom Spielplan. Der Boykott hielt etliche Jahre an.

Nach dem Aufstand des 17. Juni
Ließ der Sekretär des Schriftstellerverbands
der Stalinallee Flugblätter verteilen
Auf denen zu lesen war, daß das Volk
Das Vertrauen der Regierung verscherzt habe
Und es nur durch doppelte Arbeit
Zurückerobern könne. Wäre es da
Nicht doch einfacher, die Regierung
Löste das Volk auf und
Wählte ein anderes?

  • Die Lösung, Bertolt Brecht (1953)

1954 wurde Brecht in den künstlerischen Beirat des neu gegründeten Ministeriums für Kultur der DDR berufen und zum Vizepräsidenten der Deutschen Akademie der Künste ernannt. Zudem erschien seine “Kriegsfibel”, ein Anti-Kriegsbuch, bestehend aus 69 Fotoepigrammen.

1956 starb Bertolt Brecht an den Folgen seiner chronischen Herzerkrankung. Bei seiner Beerdigung wurde, dem Wunsch seines Testaments entsprechend, geschwiegen. Brechts letzte Ruhestätte auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof ist eines der berühmtesten Gräber Berlins.

Das Grab von Helene Weigel und Bertolt Brecht auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof. Foto: Imago/Jürgen Ritter

Heute ist von den Antipathien gegenüber Brecht nichts mehr übrig, im Gegenteil: Auch fast 60 Jahre nach seinem Tod leben seine mehr als 30 Theaterstücke, 2.500 Gedichte und Lieder, seine Romane und Dramen weiter. Die Inszenierungen überall auf der Welt sind teils legendär. Und Brechts Denken passt ja zu unserer Zeit: Die Widersprüche von damals sind dieselben wie heute – jedenfalls würde ein marxistischer Dramatiker da nicht widersprechen. Und wie man aus der Passivität ausbricht, um etwas zu bewegen, lehrt Brecht noch immer.

„Wer A sagt, der muss nicht B sagen. Er kann auch erkennen, dass A falsch war.“

  • Bertolt Brecht

Anlässlich seines Geburtstages wird sein Werk und Wirken, vor allem auch in Berlin, erneut reflektiert. 60 Jahre nach seinem Tod setzt sich das Berliner Ensemble mit der Aktualität von Brechts Denken auseinander. “Kann Kunst radikal sein, die suggeriert, die Welt sei eine erkennbare?” fragt das BE in seiner Veranstaltungsbeschreibung zum Thementag „Ändere die Welt, sie braucht es”. “Oder ist das eine hoffnungslose Vereinfachung einer mittlerweile zu komplexen Wirklichkeit – und ist gerade jene Kunst, die die Welt als radikal sinn- und bedeutungsoffen versteht, die politisch radikale?” Am Sonntag, den 12.02.2023 werden diese und weitere Fragen in drei Podiumsdiskussionen im BE diskutiert. 

  • Berliner Ensemble Bertolt-Brecht-Platz 1, Mitte, 12.2.2023, ab 13 Uhr, kostenlos, Tickets hier

Im Brecht-Haus wird am 10. Februar mit einem ausführlichen Programm gefeiert. Beginnend auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof setzt sich der Tag mit Sonderführungen durch das Brecht-Weigel-Museum und Filmen fort. Schauspiel-Studierende tragen zudem Gedichte und Lieder Brechts vor.

  • Literaturforum im Brecht-Haus Chausseestraße 125, Mitte, 6.-12.2.2022, 0-6€ (je nach Veranstaltung), Infos hier

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