Der türkische Fotograf Ergun Çağatay reiste kurz nach der Wende quer durch Deutschland. Auf seinen Trips durch Hamburg, Köln, Werl, Berlin und Duisburg dokumentierte er migrantische Arbeits- und Lebensrealitäten. Die knapp 3500 Fotografien zum türkisch-deutschem Leben, die 1990 entstanden, bilden die umfangreichste Bildreportage zu türkischer Einwanderung, Missständen innerhalb der deutschen Integrationspolitik und dem Kampf um Akzeptanz und Identität in einer neuen Heimat.
107 Fotografien des monumentalen Zeitdokumentes sind bis Februar 2023 im Museum Europäischer Kulturen zu sehen. „Wir sind von hier. Türkisch-deutsches Leben 1990“ heißt die Ausstellung. Einige von Ergun Çağatays Fotos zeigen wir euch hier.
Schultheiss-Straßenbahn vor dem Türkischen Basar
Während einer Reise durch Deutschland kurz nach der Wende besuchte Ergun Çağatay den Türkischen Basar im Hochbahnhof Bülowstraße. Elf Jahre nach dem Mauerbau und der darauffolgenden Stilllegung der Linie 2 schuf ein türkischer Geschäftsmann 1972 ein Stückchen anatolische Heimat im Herzen von West-Berlin. Über 20 Jahre diente der Türkische Basar als migrantischer Treffpunkt und Identifikationsort.
In Teestuben oder beim Süßigkeitenhändler tauschte man sich über das Leben in Berlin aus und verbrachte Zeit mit Leuten in ähnlichen Lebenssituationen. Außerdem konnten hier Lebensmittel, Haushaltsgegenstände, Schmuck und Kleidung gekauft werden, die in deutschen Supermärkten nicht angeboten wurden. „Die Händler boten alles feil, was unsere sehnsüchtigen Herzen damals begehrten oder unser türkisches Leben hier in Berlin so brauchte“, erinnert sich Özlem Suzana Ayaydinli in ihren Memoiren zur Bülowstraße. Der Fotograf Ergun Çağatay zeigte sich beeindruckt von diesem außergewöhnlichen Ort und dokumentierte den repräsentativen Kontrast zwischen historischem Bahnwaggon mit Schultheiss-Werbung und Türkischem Basar im Jugendstil-Bahnhof.
Ergun Çağatay fotografierte türkische Kinder in Kreuzberg
In den frühen 1960er-Jahren kamen die ersten Arbeitskräfte aus der Türkei nach Kreuzberg. Wenig später entwickelte sich besonders die heruntergekommene Gegend im Südosten, bekannt als SO36, zur Hochburg türkischen Lebens in West-Berlin. Die unsanierten Altbauten wurden zum Großteil von Migrant:innen bewohnt und die Gegend von der neuen Nachbarschaft geprägt. So entstanden Moscheen, Beratungsstellen für türkische Arbeiter:innen, türkische Kindergärten, Bibliotheken, Geschäfte und Cafés. Bis heute ist dieser spannende Einfluss in Kreuzberg und vielen anderen Stadtteilen zu spüren und trägt einen großen Anteil zu Berlins Attraktivität bei.
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Auch Ergun Çağatay spazierte selbstverständlich in den 1990er-Jahren durch Kreuzberg. Eine besonders schöne Kiez-Impression liefert ein Foto von türkischen Kindern, die vor einem Hauseingang rumlungern. Hinter ihnen eine abgeranzte Holztür, neben ihnen der Poster-Traum von Lego und Barbie. Ein kleiner Moment naiver Glückseligkeit in einer Gegend, in der definitiv nicht immer alles rosig verlief.
„Wir sind von hier“: Die Jugendgang 36 Boys in Kreuzberg
Die Gegend rund um das Kottbusser Tor war in den 1980er- und 1990er-Jahren das Revier der berüchtigtsten Jugendgang der Stadt: Die 36 Boys, benannt nach dem ehemaligen Postbezirk, machte als Gruppierung aus über 100 Jugendlichen verschiedener Herkunft die Kreuzberger Straßen unsicher. Ursprünglich als Hip-Hop-Crew von Subkultur-Ikone Maxim mitbegründet, entwickelten die 36 Boys in kurzer Zeit ein hohes Gewaltpotenzial und lieferte sich heftige Revierkämpfe mit Neonazis, Skinheads und rivalisierenden Banden. Während der Mai-Krawalle schlossen sich die größtenteils türkischen und kurdischen Jugendlichen kurzer Zeit den Autonomen an.
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Die Jugendgang sprühte Graffitis in ganz Berlin und trug ihre Schlägereien mit rechten Gruppierungen sogar teilweise in der abgelegenen Jungfernheide aus. Die Prügeleien und Graffitis wurden schnell als Bedrohung durch die „bösen Ausländer“ instrumentalisiert. Eher repräsentieren die 36 Boys jedoch soziale Diskrimierung, Perspektivlosigkeit, Armut und regelmäßig erlebten Rassismus. All dies entlud sich in Unzufriedenheit, Gewalt und Kriminalität. Viele der Fotografien von Ergun Çağatay, die aktuell in der Ausstellung „Wir sind von hier“ im Museum Europäischer Kulturen zu sehen sind, dokumentieren die massiven Herausforderungen der Integrationspolitik, die oft genug gescheitert ist.
Doch entgegen aller Erwartungen haben einige Mitglieder der 36 Boys nach Auflösung der Gang abseits des kriminellen Milieus Karriere gemacht: Tim Raue als Spitzenkoch, Sinan Tosun als 36-Boys-Merchandise-Händler, Muzaffer Tosun als Profiboxer und Killa Hakan als Rapper.
Türkisch-deutsches Leben 1990: Döner in der Mensa der Humboldt-Universität
Ein Döner in Ost-Berlin so kurz nach der Wende: Eine Sensation. Die Studierenden stehen sich in der Mensa der Humboldt-Universität Unter den Linden die Beine in den Bauch, um einen Döner – der Döner ist eng mit Berlin verbunden – zu ergattern. Ergun Çağatay ist natürlich dabei und verewigt die skurrile Szene mit seiner Kamera. Die Ostberliner Studierenden schauen auch etwas irritiert. Besonders spannend: An der Säule hinter dem improvisierten Imbiss stehen die Preise in Mark und D-Mark.
Fotograf Ergun Çağatay: Ein Zeitzeuge türkisch-deutscher Geschichte
Der 1937 in Izmir geborene Ergun Çağatay zählt zu den renommiertesten türkischen Fotografen und Fotojournalisten. Ab 1968 machte er sich als Fotojournalist bei verschiedene Agenturen und Unternehmen einen Namen. Im Jahr 1983 erlitt Çağatay bei einem Bombenanschlag auf dem Flughafen Paris Orly schwere Verletzungen.
Nach seiner Genesung fertigte er als erster eine Fotoserie illustrierter Manuskripte aus dem Topkapı-Museum in Istanbul an. Nach dem Großprojekt widmete er sich dem Reisen durch Europa und Zentralasien. Sein Lebenswerk ist die rund 3500 Fotografien umfassende Reportage „Türken in Deutschland 1990 – Die zweite Generation“. Hierbei dokumentierte er migrantische Lebens- und Arbeitsrealitäten und ließ immer wieder politische Entwicklungen und Bewegungen in seine Fotografie einfließen. Bis zu seinem Tod im Jahr 2018 widmete sich Çağatay verstärkt Eigenproduktionen.
„Wir sind von hier“ bis zum 7. Februar 2023 im Museum Europäischer Kulturen
Bis zum 7. Februar 2023 sind 107 Fotografien aus Çağatays Lebenswerk in der Sonderausstellung „Wir sind von hier. Türkisch-deutsches Leben 1990“ im Museum Europäischer Kulturen zu sehen. Auf einem Rundgang lassen sich die Reisestationen des Fotografen nachvollziehen.
Hierbei begleiten die Betrachter:innen Protestzüge gegen das Ausländergesetz in Hamburg, türkische Autoschrauber:innen in ihren Werkstätten in Köln, Kinder in einer Moschee in Werl, eine Jugendgang vor ihren Graffitis in Kreuzberg und Arbeiter im Bergwerk in Walsum, Duisburg. So unterschiedlich die Orte sind, so unterschiedlich die Lebensweisen der türkischen Communitys dort. Die Medieninstallation „Annäherungen“ und Videointerviews mit Zeitzeug:innen intensivieren dieses emotionale Zeitdokument türkisch-deutscher Geschichte.
- Museum Europäischer Kulturen Arnimallee 25, Dahlem, Di-Fr 10-17 Uhr, Sa-So 11-18 Uhr, 8/4 €, 1.So/Monat frei, bis 7.2.23, weitere Infos und Tickets hier
Berlin und die Türkei gehören zusammen: 12 wichtige türkischstämmigen Menschen zwischen Politik und Kultur. Zur Geschichte der Migration erfahrt ihr noch mehr bei uns: So lebten vietnamesische Vertragsarbeiter:innen in Ost-Berlin. Was ging sonst so früher ab? Über diese Themen berichtete der tipBerlin in den 1990er-Jahren. Sie prägten die Stadt, aber viele legendäre Gebäude in Berlin gibt es nicht mehr. Immer neue spannende Geschichten aus der Geschichte Berlins findet ihr hier. Und was sich abseits von „Wir sind von hier“ lohnt, lest ihr hier: Die besten aktuellen Ausstellungen in Berlin.