Zugegeben, Heinrich Zille war wohl nicht der erste Fotograf, der in Berlin wirkte. Die Geschichte der Fotografie reicht weiter zurück. Doch der berühmte Künstler zog schon um 1882 mit seiner Kamera los und entwickelte früh den Blick für das Abseitige, Authentische und Normale. Wie in seinen Zeichnungen und Skizzen, auf denen er das Leben der armen Leute, die heruntergekommenen Kieze, Kneipen und Hinterhöfe dokumentierte, zeigen auch Zilles Fotografien den Alltag jenseits von Glanz und berühmten Sehenswürdigkeiten. Eine unscheinbare Gastwirtschaft, ein Wohnungsumzug, eine marode Straßenecke, das waren die Motive, die Heinrich Zille interessierten. Als Fotograf begründete er damit eine fotografische Tradition, die bis heute existiert: den Blick auf das vermeintlich Unwichtige. Hier zeigen wir 12 Fotografien von Heinrich Zille aus den Beständen der Berlinischen Galerie.
Parochialstraße
Das Thema Heinrich Zille als Fotograf ist durchaus umstritten. Zwar fand man nach Zilles Tod im Jahre 1929 in dessen Wohnung mehrere Hundert Glaspositive, einige Glasnegative sowie Papierabzüge in einem Schrank, doch die Urheberschaft Zilles lässt sich nicht hundertprozentig Prozent nachweisen. Dennoch geht man davon aus, dass die Aufnahmen Zille selbst gemacht hat und diese als Vorlagen für seine Zeichnungen und Grafiken nutzte. Dieses Foto aus der Zeit um 1902/03 zeigt die Parochialstraße, Richtung Westen mit Blick auf die Nikolaikirchtürme und den Baubeginn eines Stadthauses.
Eisbahn vor Zilles Haus
Zille lebte in einer Wohnung in der Sophie-Charlotten-Straße 88. Das Bild zeigt eine Gruppe von fröhlichen Schlittschuhläufern, darunter seine Söhne Hans und Walter, direkt vor dem Wohnhaus der Familie. Es entstand im Winter 1898/99 und lässt sich aus heutiger Sicht in die Kategorie Familienfoto einordnen. Ende des 19. Jahrhunderts fotografierten sich allerdings die meisten Familien in professionellen Fotoateliers. Auf den Porträts schaute man streng in die Kamera, hier ist die Lust und Dynamik der Situation so spürbar, wie sie es auch heute wäre.
___STEADY_PAYWALL___
Umzug in der Hirtenstraße
Berlin war in der Kaiserzeit eine Stadt, die sich auf dem Weg zur Weltmetropole befand. Prächtige Boulevards, große Museen und herrschaftliche Stadtpaläste prägten die Ära. Offizielle Bilder aus jener Ära zeigen einen ernsten Kaiser Wilhelm II. und die Hauptachsen der preußischen Residenzstadt, Unter den Linden und die Friedrichstraße. Zille interessierte das weniger, er fotografierte 1901 einen Umzug in der Hirtenstraße.
Hinterhof mit Kegeljungen
„Zille sein Milljöh“ wurde zum Markenzeichen des Künstlers. Als Pinselheinrich, wie Heinrich Zille im Volksmund genannt wurde, zog er durch die Kaschemmen, Hinterhöfe und Seitengassen, wo er das Leben der Unterschicht dokumentierte. Straßenjungs, Dirnen, Säufer und Arbeiter wurden zu seinem Sujet, was ihm anfangs nicht viele Freunde macht. Die Szenen aus dem proletarischen Leben weckten Unmut beim Künstlerestablishment, Zille aber blieb stur und prägte mit berlinischen Sprüchen, Witzen und satirischen Zeichnungen eine Berliner Folklore, die den störrischen Geist von Alt-Berlin kongenial festhielt. Heute gilt sein Werk als bedeutender Beitrag zur sozialkritischen Kunst.
Sargmagazin „Thanatos“
Heinrich Zille war ein unsteter Geist, auch als Fotograf. Er pflegte viele Künstlerfreudschaften, verkehrte in Ateliers, Bars und zwielichtigen Etablissements, immer auf der Suche nach Inspirationen und Motiven. Nichts Menschliches war ihm fremd, so finden sich auf vielen seiner Bilder Frauenakte, aber auch explizite Motive, die ihn in Verruf und vor Gericht brachten. Doch Zeit seines Lebens interessierte sich Zille für die Welten der Sexualität, Prostitution und Pornografie. Dieses Bild thematisiert jedoch nicht den Eros, sondern den Totengott Thanatos, oder besser, einen Berliner Sarghändler, der sich nach dem düsteren Daimon aus der griechischen Mythologie benannte.
Schuppen im Vorhof
1898 war Berlin Großstadt und Dorf zugleich. Auf der einen Seite verwandelten Unternehmer wie Siemens und Borsig die Stadt zum Industriestandort, doch in vielen Hinterhöfen und abgelegenen Ecken der Stadt schien die Zeit still zu stehen. Schuppen, Manufakturen, Kühe und Hühner im Hinterhof, all das gehörte im 19. Jahrhundert noch zum Stadtbild dazu.
Destillation Wilhelm Knötzsch
Die Berliner Mietskaserne war auch zu Zilles Zeiten das dominierende Bauwerk der Innenstadt. Zwar könnte man sie um 1900 als Neubau bezeichnen, doch auf diesem Foto, das im Sommer 1901 entstand, sieht die Ecke Hirtenstraße und Amalienstraße bereits recht heruntergekommen aus. Der Putz blättert von der Fassade und die Schriftzüge der Destillation Wilhelm Knötzsch sehen alles andere als frisch aus.
Gastwirtschaft & Fremdenlogis in der Linienstraße
Jahrzehnte später würde man so eine Aufnahme wohl als „Street Photography“ bezeichnen. Heinrich Zille war als Fotograf ein Pionier dieses Genres. Er fing Alltagssituationen ein, so wie im Oktober 1900, als er in der Linienstraße sein Objektiv auf die Gastwirtschaft und Fremdenlogis richtete, aus der gerade ein Gast herauskam.
Hausecke und Mauer am Krögel
Die kurze Straße Am Krögel verläuft in Mitte hinter der Alten Münze und verbindet die Spree mit der Stralauer Straße. Die Botschaft der Niederlande befindet sich heute dort um die Ecke. 1902 sah die Gasse aus, als wäre hier seit dem Mittelalter nur wenig passiert. Heinrich Zille ist als Fotograf ein Bewahrer von Szenen, die für viele seiner Zeitgenossen wertlos erschienen.
Markt am Friedrich-Karl-Platz
Man stelle sich vor, wie Heinrich Zille heute über den Wochenmarkt am Winterfeldtplatz flaniert, hier und da einen Plausch hält und mit seinem Smartphone Schnappschüsse macht. Im Sommer 1901 zog es ihn zum Friedrich-Karl-Platz in Charlottenburg, wo sich auch damals die Nachbarschaft mit Lebensmitteln versorgte. Seit 1950 heißt er Klausenerplatz, und siehe da, einen Wochenmarkt gibt es dort immer noch. Nicht alles hat sich seit Zilles Tagen in Berlin verändert.
Alexanderplatz mit Berolina
Zwar scheute Heinrich Zille als Fotograf die Sehenswürdigkeiten, im verregneten Frühling des Jahres 1897 streifte er dennoch über den von der Geschichte hin und her gerissenen Alexanderplatz. Dabei machte er diese recht düstere Aufnahme, die am rechten Rand die vom Kunstschmied Friedrich Peters aus Kupfer gefertigte Berolina-Statue zeigt. 1942 wurde die Figur der mythischen Personifikation Berlins abgebaut und zu Kriegszwecken eingeschmolzen.
Blick von der Waisenbrücke über die Spree
Heinrich Zille fotografierte Gassen, Fassaden, dunkle Ecken, manchmal auch in Ateliers oder Zirkuskünstler. Auf seinen Fotos sieht man selten Weite. Diese Aufnahme aus dem Winter 1896/97 erlaubt jedoch einen Blick von der Waisenbrücke über die Spree nach Westen. Eine Stadtperspektive! Man wünscht sich, er wäre damals noch etwas öfter mit seiner Kamera losgezogen und hätte sich der Fotografie mit genauso viel Eifer gewidmet, wie seinen Grafiken und Zeichnungen.
Auch diese Fotografen haben Berlin verewigt
West-Berlin 1975 bis 1990: Gottfried Schenk fotografierte Kiez und Subkultur. Weiter zurück? Max Missmanns Fotografien zeigen das historische Berlin nach 1900. Alexander Steffen begann seine fotografische Spurensuche nach dem verschwindenden Berlin in den 1990er-Jahren: „Vanishing Berlin“. 12 Bilder von Ost-Berlin in den 1980er-Jahren fotografiert von Gerd Danigel zeigen wir hier. Die Fotografin Ilse Ruppert über Ost-Punks, Christiane F. und Dennis Hopper.