19. Jahrhundert

Die Königsmauer: Die vergessene Rotlichtmeile in Berlins Mitte

An der Königsmauer in Mitte verlief im 19. Jahrhundert die größte Rotlichtmeile, die es je in Berlin gegeben hat. In dieser Seitenstraße ballte sich das Milieu: Knapp 300 Prostituierte boten in 25 Bordellen sexuelle Dienstleistungen an. Über ein Soziotop, das die Stadtgesellschaft empörte

Kontaktaufnahmen in einem historischen Bordell in Paris: Es handelt sich um ein Zeitdokument aus dem 19. Jahrhundert. Von der Königsmauer sind keine derartigen Bilder überliefert. Foto: Imago/piemags

Königsmeile: „Norddeutsches Babel“, schimpften die feinen Leute

Womöglich erinnert sich heute deshalb niemand mehr an diese Gasse, weil sie längst unter Neubauten begraben worden ist. Weder Schautafel noch Straßenschild rufen die Königsmauer ins Gedächtnis.

Dieser Pfuhl im Kern der Stadt war eine prosperierende Rotlichtmeile, vor allem in der Mitte des 19. Jahrhunderts. Sie verlief, nahe des heutigen Roten Rathauses, entlang eines Abschnitts der mittelalterlichen Stadtmauer, jener Festungsanlage, die heute zum allergrößten Teil aus dem Stadtbild verschwunden ist, infolge von Abbrüchen.

Damals war dieses Berliner Moulin Rouge eines der bedeutendsten Zentren des Sexkaufs in Mitteleuropa. Knapp 300 Prostituierte boten in 25 Bordellen sexuelle Dienstleistungen an. In dieser Seitenstraße ballte sich das Milieu, auch Straßenprostitution hat es gegeben. In den 1880er-Jahren sind die Königsmauer und ihre Immobilien dem Erdboden gleichgemacht worden, angestoßen von politischen Kräften in der neuen Hauptstadt des Wilhelminischen Reichs. Wie auch das Viertel drumherum.

Die Königsmauer war im Preußenstaat ein Symbol für Moraldebatten, soziales Elend und Kriminalität. Ordnungshüter und Pfaffen skandalisierten die red light zone – und Behördenleute duldeten sie nur widerwillig. „Norddeutsches Babel“, schimpften die feinen Leute.

Die Frauen warben offensiv um Kunden: „Unzüchtige Geberden und Handlungen“ würden sie „hinter nicht verhängten Fenstern“ vornehmen, empörte sich ein Polizeiarzt namens Friedrich Jacob Behrend. Und zwar in seiner Schrift „Die Prostitution in Berlin und die gegen sie und die Syphilis zu nehmenden Maßregeln“. Ja, auch Geschlechtskrankheiten grassierten in den Etablissements; deren Eindämmung war eine Sisyphosarbeit. Der Seuchenbekämpfer Behrend kanalisierte diese Ängste in ein Wutbürgerpamphlet.

Rotlichtmeile: Zwischen fünf und 15 Silbergroschen

Die Selbstvermarktung in Schaufenstern: ein Anblick wie in den einschlägigen Distrikten der Gegenwart, ob in Amsterdam, Brüssel, St. Pauli. Auch das übrige Personal wirkt teils vertraut. Tätig in den Lokalen waren Wirte ebenso wie Rausschmeißer. Unterhalter mit Gitarren sorgten im Empfangsbereich für eine lockere Stimmung. Kuppler bereicherten sich an den Umsätzen im Grauzonengewerbe. Frisiermamselln kümmerten sich um die Haare der Frauen. Als Zeitmesser dienten Funzeln auf den Zimmern. Sobald deren Licht abgebrannt war, endeten die Schäferstündchen. Zwischen fünf und 15 Silbergroschen sollen die Sexualakte gekostet haben.

Als „durchweg sehr mäßig“ wird dieses Preisniveau in einer zeitgenössischen Studie beschrieben. „Die Prostitution und ihre Opfer: Nach Amtlichen Quellen und Erfahrungen“, so heißt diese Betrachtung, vorgenommen von einem Mann der Obrigkeit. Wilhelm Stieber war Jurist, dann Polizei-Assessor, später diente er Otto von Bismarck als Regierungsrat. Er hat empirisch Daten zusammengetragen.

Bereits in den frühen 1840er-Jahren protestierten Anwohner gegen das Sexgewerbe – und forderten dessen Vertreibung. In einer Protestnote führten sie 1842 die Wohnungsnot ins Feld. Gerade in der Gegend der Königsmauer sei „für viele Leute, die in derselben ihr Brodt hatten, dass dringende Bedürfnis nach billigen Wohnungen vorhanden, diesem Bedürfnisse könnte leicht entsprochen werden, wenn die Königsmauer der anständigen Bevölkerung wiedergegeben würde“.

Ein Geistlicher, der anscheinend die Beletage des Milieus in seiner Kirche taufte und traute, ereiferte sich über die Prunksucht: „Die Kuppler und Dirnen erscheinen in den glänzendsten Carossen, dem reichsten Costüme, dem zahlreichsten Gefolge (…)“. Viel spricht dafür, dass dieser Pomp nur Blendwerk eines kleinen Rotlichtadels war. Die Lebensverhältnisse der meisten Prostituierten dürften bescheiden gewesen sein. Geldnot trieb die Frauen, deren Wurzeln proletarisch waren, in die schlecht beleumundete Tätigkeit.

Rotlichtmeile: Die wirtschaftliche Not der Prostituierten

So berichtet die 20-jährige Auguste Zielke, deren Vater – ein Tischlergeselle – früh gestorben war, sie lebe „auf eigene Hand von der Prostitution“. Ihr Fazit ist ernüchternd: „Dennoch habe ich das Leben satt (…), weil ich einsehe, dass auf solchem Erwerbe kein Segen ruht.“ Sie will in einer Fabrik arbeiten. Eine andere Sexarbeiterin: Anna Klinik, 35, seit dem 18. Lebensjahr ist sie im Gewerbe aktiv. Schon zehn Jahre wohnt sie an der Königsmauer. „Eine Frau gab mir den Rath, auf eine Stube zu ziehen“, erzählt sie. Ihr hat der Beruf anscheinend ein eigenes Heim verschafft. Diese Selbstauskünfte prekärer Existenzen sind in den späten 1860er-Jahren festgehalten worden. Zu diesem Zeitpunkt war die Königsmauer bereits im Niedergang.

Die Politik lavierte während des Booms an der Königsmauer zwischen Pragmatismus und Repression. Voller Widersprüche war der Umgang mit der Prostitution Mitte des 19. Jahrhunderts: Zeitweise erlaubten die Autoritäten die Sexarbeit nur in Bordellen, dann tolerierten sie auch die Straßenprostitution. Ein Geschäft, das mit den Puffs im Wettbewerb war, an der Königsmauer, aber auch in anderen Vierteln. Hin und wieder gerieten selbst die Bordelle unter die Kuratel des Gesetzes. Apropos: Mindestens 5.000 Prostituierte soll es damals in der Stadt gegeben haben.

Ein neuer Paragraf im preußischen Strafgesetzbuch kriminalisierte von 1851 an einen Teil dieser Berufsgruppe: „Erwerbsmäßige Unzucht“ war jetzt ein Verbrechen. Acht Wochen Gefängnis, danach Einweisung in ein Arbeitshaus, lautete das Strafmaß. Das Gesetz zielte ab auf Sexarbeiterinnen, die sich den Bordellbetrieben verweigerten. Freie Prostituierte, meist auf der Straße, auch „Winkelhuren“ genannt. Die Verschärfung fiel in die Thronzeit von König Friedrich Wilhelm IV.

Die Königsmauer wiederum wurde Geschichte im Zuge der städteplanerischen Neuordnung von Berlins Mitte in der rapide wachsenden Stadt. Der Magistrat ließ von den 1860er-Jahren an Gebäudezeilen an der Sexmeile kaufen, Parzelle um Parzelle. Enteignungen folgten. Schon bald ist die Gasse wie überhaupt die angrenzende Proletariergegend einem neuen, preußischen Erscheinungsbild von Berlins Mitte gewichen, das die Machthaber für präsentabler hielten. Mit einer neuen Verkehrsachse wie der Kaiser-Wilhelm-Straße, der heutigen Karl-Liebknecht-Straße. Aber auch dem erwähnten Roten Rathaus, das schon 1869 vollendet war. Das Rotlichtgewerbe: zu schmuddelig.


Mehr über Sexarbeit in Berlin

Das Rotlichtgewerbe wanderte in der jüngeren Geschichte Berlins von Hotspot zu Hotspot. Zur Jahrundertwende haben beispielsweise Huren an der Jungfernbrücke auf der Fischerinsel ihre Dienste angeboten – wir erzählen mehr über die Geschichte der Prostitution in Berlin. Im modernen Berlin hat sich das Gewerbe stark aufgefächert. Ein spezialisiertes Berufsbild: die Sexualassistentin, die sich um die Bedürfnisse von alten Menschen kümmert. Der Internationale Hurentag am 2. Juni ist unterdessen ein widerkehrendes Datum, an dem sich Sexarbeiterinnen und Sexarbeiter gegen die Stigmatisierung ihres Jobs wehren.

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