Im 19. Jahrhundert tauchten sie erstmals in Berlin auf: die Litfaßsäulen. Erfunden hat sie der Berliner Drucker Ernst Litfaß, 1854 stellte er eine Anschlagsäule ins Stadtzentrum. Nachrichten, Plakate, Annoncen und natürlich Werbung konnten dort angeklebt werden – eine Art analoge Vorform der Timeline, wenn man so will. Es dauerte nicht lange, bis Litfaßsäulen das Stadtbild bestimmten. Bereits um 1860 gab es zahlreiche von ihnen, sie setzten sich in ganz Europa durch und wurden zu einem Symbol moderner Städte. Wir erzählen die Geschichte entlang von 12 Bildern und Fotos.
Die Geburt der Litfaßsäule
Berlin, Mitte des 19. Jahrhunderts. Das Kaiserreich ist noch nicht geboren, doch die Stadt entwickelt sich rasant zu einer Metropole. Die Stadt wächst, die Industrialisierung ist auf dem Vormarsch, das Leben der Berliner und Berlinerinnen verändert sich und der Bedarf nach Informationen steigt. Gedruckte Zeitungen, etwa die „Vossische Zeitung“, versorgen die Bewohner mit Nachrichten, aber das reicht nicht. Der Berliner Drucker Ernst Litfaß (1816-1874) macht sich in den Zeiten der März-Revolution von 1848 einen Namen als Herausgeber von Zeitungen wie dem „Berliner Krakehler“ und der „Berliner Schnellpost“. Mit innovativen Ideen, etwa der Einführung von Schnellpressen und des Farbdrucks, revolutionierte er die Branche.
Doch mit seiner Idee der Anschlagssäulen, physischen Trägern von bedruckten Nachrichtenblättern und Plakaten, ging er in die Geschichte ein. Ab 1854 tauchten die nach ihm benannten Säulen in der Stadt auf, nach wenigen Jahren waren es bereits Dutzende, auch in anderen Ländern setzte sich das Konzept durch. Heute existieren etwa 65.000 Litfaßsäulen allein in Deutschland. Die Berliner Erfindung wurde ein riesiger Erfolg.
Litfaßsäulen in Berlin: Die „Emil und die Detektive“-Ära
Die hohlen Rundsäulen haben einen Durchmesser von etwa 1,4 Metern und eine Höhe von 2,6 bis 3,6 Metern. Anfangs aus Eisen hergestellt, kamen später auch Kunststein und Beton zum Einsatz. Es gab schlichte Säulen und prunkvoll dekorierte, ihre Funktion war aber stets gleich, sie dienten als Träger von Informationen. Theater- und Konzerthäuser warben für aktuelle Veranstaltungen, die Polizei nutzte sie zur Verbreitung von Steckbriefen und Unternehmen priesen darauf ihre Produkte an.
Im 20. Jahrhundert waren die Litfaßsäulen vor allem in Berlin ein Bestandteil des urbanen Lebens, ebenso wie Springbrunnen, Parkbänke, öffentliche Toiletten oder Mülleimer. Sie gehörten zur standardisierten Ausstattung der Stadt. Ihre Bedeutung zeigt sich etwa auf der Umschlagillustration eines der berühmtesten Romane, die in Berlin je geschrieben wurden. Auf dem Cover vom Erich Kästners Detektivgeschichte „Emil und die Detektive“ beobachten zwei hinter einer Litfaßsäule versteckte Kinder den Dieb.
Hetze und Propaganda
Schon vor 1933 wurden die Litfaßsäulen für die Verbreitung politischer Ideen genutzt, doch die Nazis vermochten es, die alte Berliner Erfindung perfekt in ihre Propagandamaschine einzubauen. Unter Joseph Goebbels wurden die Massenmedien, Kulturbetrieb und Redaktionen gleichgeschaltet, die Säulen waren schon zuvor prominente Medienträger und damit ein wesentlicher Teil des nationalsozialistischen Projekts. An Säulen, die noch kurze Zeit vorher für Operetten oder Theaterstücke warben, die nicht selten von jüdischen Autoren geschrieben und jüdischen Regisseuren inszeniert wurden, prangten nun antisemitischer Hass und Hetze.
Litfaßsäulen im geteilten Berlin
Weder der Nationalsozialismus noch der Zweite Weltkrieg machten den Litfaßsäulen in Berlin etwas aus. Sie erduldten faschistische Parolen und die Bombennächte, viele wurden zerstört und schon bald wieder neu errichtet, und auch im geteilten Berlin standen sie wieder stoisch in den Straßen und auf Plätzen. Auf diesem Foto aus dem Jahr 1963 zeigen sich Mauerbau, das Gedenken für die Mauertoten und Fahndungsplakate. Die Litfaßsäule war hier wieder einmal die stumme Zeugin einer politischen Tragödie und zugleich Nachrichtenüberbringerin.
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Wahlkampf in West-Berlin
Die 1970er-Jahren waren in Berlin eine Zeit des Aufschwungs, die Stadt wurde bunt, moderne Architektur entstand, ebenso neue U-Bahnstrecken, und auch die Autobahn wurde weiter ausgebaut. Auch das Nachtleben wurde schillernder, David Bowie kam in die Stadt, und auf der anderen Seite formierte sich nach den Studentenprotesten der 1960er-Jahre eine linksalternative Bewegung, die schon bald Teile von West-Berlin prägen sollte.
Der SPD-Politiker Klaus Schütz prägte die Ära als Regierender Bürgermeister, von 1967 bis 1977 war er im Amt. Das Wahlplakat an der Litfaßsäule vor dem Rathaus Schöneberg aus dem Jahr 1975 zeigt den von Spontis und Linken verhassten Sozialdemokraten. Bei den Wahlen in jenem Jahr holte die SPD 42,6 Prozent der Stimmen, verlor damit die absolute Mehrheit, landete knapp hinter der CDU, regierte aber mit Unterstützung der FDP weiter.
Im Osten was Neues
Die Litfaßsäule passte in jedes System, sie stand auf beiden Seiten der Mauer. So auch hier an der Schönhauser Allee Ecke Gneiststraße. Wie so vieles andere auch, baute man in der DDR die öffentlichen Informationsträger aus Beton. Hinweise auf Sport- und Kulturveranstaltungen, politische Agitation und Werbung für volkseigene Produkte zierten die Säulen. In der Wendezeit kamen auch selbstgestaltete Plakate hinzu, die Kritik am SED-Regime übten.
Big Sexyland
Die Litfaßsäule ist nichts ohne die Plakate, die sie zieren. Sie ist blanker Träger von Information, der sich den jeweiligen Ansprüchen der Wirtschaft, Politik oder des Zeitgeistes zur Verfügung stellt. Hier gibt es keine Redaktion, der Markt regelt alles, kontrolliert von Agenturen, Aufstellerfirmen und dem Fachverband für Außenwerbung. Zuweilen umgibt eine zentimeterdicke Papierhaut die Rundkörper, Schicht um Schicht werden sie beklebt, stets den Zyklen und dem Rhythmus des öffentlichen Lebens folgend. In gewisser Weise ist die Litfaßsäule ein gut sichtbarer Indikator für den Zustand, in dem sich die Gesellschaft befindet.
Lange war in Berlin das Big-Sexyland-Plakat wichtig, die Werbung für das Erotic-Center in Schöneberg hing viele Jahre überall im Stadtraum, immer mit dem gleichen Motiv, dem Big-Sexyland-Girl. Fast 20 Jahre schaute das nackte Model lasziv von den Litfaßsäulen in Berlin und lockte in die Peepshow. Die echte Frau dahinter floh aus Berlin und richtete sich auf Gran Canaria ein neues Leben ein, sie wollte nicht mehr in einer Stadt leben, in der jeder ihre Brüste kennt.
Berlin und die Litfaßsäule 2.0
In den 2000er-Jahren begann der Wandel, die Digitalisierung und das Internet wurden zu den Motoren des Fortschritts, alles änderte sich. Der Medienkonsum ebenso wie die Art, wie wir Geschäfte machen oder miteinander kommunizieren. Auch in der Außenwerbung gab es gewaltige Einschnitte. Die Wall AG wurde zum zentralen Player in dem Bereich. Das Unternehmen übernahm die Obhut über Plakatwände, Bushaltestellen und öffentliche Toiletten und stattete sie mit modernen Plakatsystemen aus. Auch die Litfaßsäulen mussten, zumindest teilweise, mit der Zeit gehen.
Das Foto aus dem Jahr 2004 zeigt eine der damals modernen Anlagen. Eine sich drehende, beleuchtete Säule, in die die Plakate hinter eine Plexiglasscheibe geklemmt werden. Ein Zwischenschritt, irgendwie analog, aber schon in Richtung einer Litfaßsäule der Zukunft weisend, die vermutlich aus einem 360-Grad-Monitor bestehen wird, der über WLAN mit Inhalten bespielt wird.
Die Litfaßsäule und die Kunst
Die Geschichte der Litfaßsäule, nicht nur in Berlin, ist eng mit dem Siegeszug der Massenmedien und der immer größer werdenden Bedeutung der Werbewirtschaft verbunden. Sie ist ein Produkt des Kapitalismus und diente totalitären Systemen ebenso wie Weltkonzernen. Da hat kritische Kunst nicht viel zu melden. Doch immer wieder werden die Säulen auch für Kunstprojekte genutzt. So wurden 2014 in Berlin gesellschaftskritischen Plakate von Klaus Staeck auf 300 Litfaßsäulen in verschiedenen Bezirken gezeigt. Es gab auch immer wieder subversive Aneignungen und Übermalungen von Litfaßsäulen. Die meist anonymen Künstler und Aktivisten nutzten sie als Leinwand, um auf Missstände oder bestimmte Anliegen hinzuweisen oder in der Tradition der Guerilla-Art die eigene Kunst in die Öffentlichkeit zu tragen. Und der Künstler Michael Wismar nutzt seine eigene Litfaßsäule als Ausstellungsfläche.
Litfaßsäulen in Berlin: Die Würdigung der Ur-Berlinerin
2006 stellte die Stadt Berlin ein Bronze-Denkmal in der Münzstraße auf, unweit vom Alexanderplatz, das an den Erfinder der Litfaßsäule, Ernst Litfaß erinnerte. Natürlich hat das Monument die Form einer seiner Säulen. Die Post gab bereits in den 1970er-Jahren eine Sonderbriefmarke zu Ehren der Säule und ihres Urhebers heraus und in Berlin kam 2011 der Litfaß-Platz hinzu. Es ist ein neu entstandener Stadtplatz am Hackeschen Markt in Mitte, an dem die renommierte Werbeagentur Scholz & Friends residiert. Das passt.
Alt versus Neu
Es kam, wie es kommen musste: Die Litfaßsäule hat nach 165 Jahren ausgedient. Fast. Die großen Aussteller wie die Wall AG und Ilg-Außenwerbung ließen 2019 tausende alte Litfaßsäulen in Berlin abreißen. Vor allem Nachkriegsmodelle aus Eternit und Beton mussten weg. Der Aufruhr war groß, mit den Litfaßsäulen verschwindet ein Stück Berlin, schrieben wir damals.
Aber die Ära der Litfaßsäulen war noch nicht vorbei. „Berlin ist immer noch die Stadt der Litfaßsäulen“, sagte Wall-Sprecher Christian Knappe damals. Es werden in Zukunft aber wohl weniger Säulen in Berlin stehen. Außer Standorten in den zentralen Bezirken wie Mitte, Charlottenburg-Wilmersdorf und Friedrichshain-Kreuzberg rentieren sich die alten Werbeträger nicht mehr. Heute trägt schließlich nahezu jeder Mensch eine eigene Litfaßsäule in der Hosentasche, sie heißt jetzt Smartphone.
Hat die Litfaßsäule eine Zukunft?
Ganz so wie befürchtet ist es nicht gekommen, die Litfaßsäulen sind nicht aus Berlin verschwunden. Die Aufsteller halten an den klobigen Dingern fest, doch zeitgemäß sind diese mittelgroßen Türmchen, an die Hilfskräfte in unregelmäßigen Abständen bedrucktes Papier kleistern, wohl wirklich nicht mehr. Eine Herzensangelegenheit für die zu Nostalgie neigenden Berliner und Berlinerinnen sind sie aber allemal. Tradition ist ja nicht das Schlechteste, zumindest in dieser Angelegenheit, und dieses lieb gewonnene Stadtmöbel möchte man nicht einfach so verschwinden sehen. Ob sie mal komplett digital sein werden oder sich zum „Schwarzen Brett“ im öffentlichen Raum und einem direkten Ausdrucksmittel der Demokratie wandeln, ist ungewiss. Aber dass wir bald 170 Jahre nach ihrer Erfindung immer noch von Litfaßsäulen umgeben sind, dürfte den alten Drucker Ernst Litfaß mit Stolz erfüllen.
Mehr Berlin
Wie sieht die Stadt von oben aus? Das zeigen wir euch hier mit 12 Luftaufnahmen von Berlin. Und wir blicken zurück: Historische Luftaufnahmen von Berlin seht ihr hier. Von der Straße schauen wir hoch: 12 Fotos vom Himmel über Berlin mit Wolken, Blitzen und Regenbögen. Wir stellen Fotos von damals und heute gegenüber: Unsere Galerie mit 12 Fotos vom Kriegsende 1945 und denselben Orten in der Gegenwart. Ihr interessiert euch für die Vergangenheit? Dann ist unsere Geschichte-Rubrik genau richtig für euch.