Stadtgeschichte

Mauerbau: Zwei DDR-Flüchtlinge erinnern sich an den 13. August 1961

13. August 1961: Eine Frau verpasst die letzte S-Bahn nach Ost-Berlin. Eine andere Frau sieht auf dem Bahnhof Friedrichstraße den letzten Interzonenzug gen Westen losfahren. Vor 60 Jahren teilte der Mauerbau die Stadt. Wir haben mit zwei Zeitzeuginnen gesprochen, die sich an die dramatischen Stunden erinnern. Zwei junge Frauen aus der DDR, über deren Leben an diesem Sonntag im August auch Bahngleise entscheiden.

Zuerst schließt die DDR die Grenze mit Stacheldraht. Der eigenntliche Mauerbau beginnt wenige Tage später. Foto: picture-alliance/akg-images/Gert Schuetz
Zuerst schließt die DDR die Grenze mit Stacheldraht. Der eigenntliche Mauerbau beginnt wenige Tage später. Foto: picture-alliance/akg-images/Gert Schuetz

Fluchtpläne am Tag des Mauerbaus

Plötzlich rollt der Zug los. Und die junge Frau, Anfang 20, in leichtem Sommerkleid und Leinenmantel, rennt hinterher, hier im Bahnhof Friedrichstraße, dem Nadelöhr zwischen Ost- und West-Berlin. Am 13. August 1961, gegen elf Uhr.

Es sollte der letzte Interzonenzug gen Westen sein an diesem Sonntag. Aber das weiß Eva Kühn, die junge Frau, in diesem Moment noch nicht. Sie sieht ihre Mutter in der Zugtür. Mit ausgestreckter Hand. Eva Kühn arbeitet in Ost-Berlin, wohnt in Strausberg. Seit einem Jahr war ihr klar, sie will aus der DDR in den Westen fliehen. Aber doch nicht jetzt. Und doch nicht so.

Kein Weg zurück nach Ost-Berlin?

Derselbe Sonntag, zehn Stunden zuvor, gut sechs Kilometer südlich. Ingrid Ludwig, damals 22, ein Jahr jünger als Eva Kühn, aus Lichtenberg, ist auf einer Party in West-Berlin. Auch sie hat die DDR satt. Die Wohnung einer Freundin liegt am S-Bahnhof Tempelhof. Man trinkt, feiert, vergisst die Zeit.

Gegen ein Uhr will Ingrid Ludwig, die damals  noch ihren Mädchennamen Reddemann trägt, zurück nach Hause, zur Frankfurter Allee. Und sieht im Bahnhof Rücklichter in der Nacht verschwinden. Die S-Bahn nach Osten. Ihre Bahn. Weg. Auf dem Bahnsteig: viele Menschen, ratlos. Heute käme kein Zug mehr, heißt es. Und morgen? Keiner weiß es. Die junge Frau läuft zurück zur Freundin: „Ich komme nicht mehr nach Hause!“ Sie weint.

An diesem August-Sonntag 1961 riegelt die SED die Grenze nach West-Berlin ab. In dieser Geschichte geht es um zwei junge Frauen aus der DDR, die vor 60 Jahren vom Mauerbau überrascht werden. Mit Fluchtplänen, die plötzlich wertlos scheinen. Und über ihr weiteres Leben entscheiden auch Bahngleise von West- nach Ost. Und umgekehrt.

Grenzbahnhof Friedrichstraße: Letzter Halt im Osten. Unsere Geschichten von Flucht und Mauerbau führen auch an diesen wichtigen Ort. Foto: picture alliance/Hermann Schröer/Timeline Images
Grenzbahnhof Friedrichstraße: Letzter Halt im Osten. Unsere Geschichten von Flucht und Mauerbau führen auch an diesen wichtigen Ort. Foto: picture alliance/Hermann Schröer/Timeline Images

Ab ein Uhr werden alle S-Bahn-Verbindungen nach West-Berlin gekappt. Am Grenzbahnhof Friedrichstraße, einziger Station mit Anschluss in beide Teile Berlins, bereits um Mitternacht. Bei der Stasi heißt der Maßnahmenkatalog: Aktion „Rose“.

„Die planen was, die bauen eine Mauer. Da haben wir alle gesagt: Unmöglich!“

Eva Kühn, heute 83, lebt im Westen Deutschlands und trägt den Nachnamen ihres Mannes, in dieser Geschichte möchte sie aber nur mit ihrem Mädchennamen stehen,  sagt sie am Telefon, „ich habe mich immer ein bisschen als kühn empfunden“. 

Ingrid Ludwig, 82, lebt im Süden Berlins. Seit 1952 die deutsch-deutsche Grenze gesichert wurde, bleibt für Fluchtwillige nur Berlin als Weg aus der DDR. Allein zwischen 1. und 13. August 1961 lassen 47.000 meist junge Menschen das Land hinter sich. Wie lange kann das noch gut gehen?

„Die Gerüchte haben sich im Sommer verdichtet: Die planen was, die bauen eine Mauer“, erinnert sich Eva Kühn. „Da haben wir alle gesagt: Unmöglich, das geht nicht!“ Völlig überraschend bekommt sie für September 1961 eine Urlaubsreise angeboten. Bulgarien, Schwarzes Meer. „Ich dachte: Nach der Reise fährste gemütlich in den Westen und meldest dich im Auffanglager.“ Doch es sollte ganz anders kommen. Beide bereiten ihre Flucht vor.

Aus der DDR in die USA auswandern? Unmöglich

Eva Kühn, geboren in Neukölln, aufgewachsen am Tempelhofer Flugplatz, ist Einzelkind. Der Vater kommt 1947 aus russischer Kriegsgefangenschaft heim, will nicht in der Stadt der Trümmer bleiben, das Wohnhaus ist auch zerbombt. Er stirbt früh, das Herz.

Da lebt die Familie schon östlich von Berlin, in Strausberg. Im Sommer 1960 ist Onkel Adolf aus Amerika zu Besuch, schon um die 70. „Komm zu mir nach Chicago, ich habe ein Haus“, sagt er. Als DDR-Bürgerin darf sie aber nicht in die USA auswandern, erfährt sie. Man müsse erst ein Jahr Bundesdeutsche sein.

Eva Kühn ist Chemie-Ingenieurin, arbeitet damals als technische Assistentin bei der Akademie der Wissenschaften in Ost-Berlin am Zentralinstitut für Physikalische Chemie. Ihren Stiefvater, den letzten selbstständigen Zahnarzt von Strausberg, darf sie zu Konferenzen in die BRD begleiten. Dort stellt sie sich bei Chemiekonzernen vor. Hoechst, Thyssen, BASF. Überall Zusagen. Für später.

„Wir Grenzgänger wussten genau, wie das läuft“

Und sie beginnt, Unterlagen und Fotos zu einer Tante nach Tempelhof zu bringen, vorbei an Kontrollen in der S-Bahn. „Wir Grenzgänger wussten genau, wie das läuft.“ Ingrid Ludwig ist ebenfalls das einzige Kind ihrer Eltern. Und auch sie bereitet ihren Systemwechsel insgeheim vor, wie Eva Kühn.

Ludwig ist beim staatlichen deutschen Reisebüro beschäftigt, die zentrale Leitung nutzt einige Stockwerke in einem ehemaligen, im Krieg stark beschädigten Kaufhaus in Mitte, das später als Tacheles berühmt wird. Zuständig ist sie dort für Anfragen aus Westdeutschland, der Schweiz, Österreich. Aus dem Büro blickt sie auf Kriegsruinen.

In West-Berlin will sie das Abitur machen, meldet sich bei der Schulverwaltung an, für ein 13. Schuljahr. Das Ost-Abitur mit zwölf Jahren wird dort nicht anerkannt. Letzter Auslöser für ihren Fluchtplan ist eine große Liebe, die in die Brüche geht.

Am 12. August ahnte niemand etwas vom Mauerbau

Am 12. August steigt sie gegen 21 Uhr in die S-Bahn, fährt nach Tempelhof. Nicht für die Flucht. Wegen der Party. Der Mann ihrer Freundin ist SFB-Kameramann. „Die hatten immer Besuch, Leute vom Fernsehen.“ Auf der Hinfahrt kommt ihr manches seltsam vor. Der Zug steht sehr lange am Treptower Park. Aber kein Polizist.  Keine Kontrollen. „Das war schon merkwürdig.“

Ungefähr um diese Zeit hört auch Eva Kühn davon. Von der Stiefschwester, die auch in den Westen will. Die kommt am späten Samstagabend aus West-Berlin zurück. Und erzählt von einer komischen Stimmung in Berlin. „Kein Kontrolleur, kein Grenzer. Alle Grenzen sind offen.“ Als würden gerade alle staatlichen Kräfte irgendwo zusammengezogen. „Wenn wir rüber wollen, dann jetzt!“ Am Nachmittag war Eva Kühn selbst noch bei ihrer Tante in Tempelhof. Und kündigt ihr an, am nächsten Tag zu fliehen.

Für den 13. August haben die Mutter und der Stiefvater Genehmigungen und Tickets für den Interzonenzug ab Friedrichstraße nach Köln,  die genaue Zeit weiß Eva Kühn nicht mehr. Vielleicht acht, vielleicht neun Uhr. Auch eine Anfrage an die Deutsche Bahn bringt darüber keine Klarheit.  Als die Familie am Sonntagmorgen gegen vier Uhr in Strausberg vor der Tür tritt, ist viel Betrieb: Polizei, Militär. „Die wussten auch nicht im Detail, was los war. Die waren konfus“, sagt Eva Kühn. Die Familie nimmt die Straßenbahn zum S-Bahnhof Strausberg-Vorstadt.


Eva Kühn als junge Frau und heute: „Wir Grenzgänger wussten genau, wie das läuft“. Foto: Privat

Auch hier: überall Sicherheitspersonal. Aus Lautsprechern schallt die Ansage, die DDR habe die Grenze geschlossen. Nach Ost-Berlin darf nur rein, wer einen triftigen Grund dafür hat. Die Eltern sind berechtigt, in der S-Bahn weiterzufahren. Die Stiefschwestern müssen am Kontrollpunkt Hoppegarten raus. Umkehren. Um acht Uhr sind sie wieder zu Hause. Radio an. Auch die staatlichen Sender melden die Grenzschließung.

Ans Abhauen denkt sie nicht mehr

Ungewissheit, Verzweiflung,  Wut. Plötzlich klingelt  das Telefon. Der Stiefvater. Aus einer Telefonbox. Vom Alexanderplatz. Die Eltern mussten aus der Bahn raus, sagt er. Es sei das totale Chaos.  Sie versuchten jetzt, es zur Friedrichstraße zu schaffen. Und Eva Kühn sagt sich: „Du bleibst nicht hier. Du musst nach Ost-Berlin.“ Ans Abhauen denkt sie nicht mehr. Sie will nur sehen, was los ist. Außerdem hat sie den Eltern ihre Papiere mitgegeben. Ausweise, alles. Wenn sie jetzt bleiben muss, braucht sie die.

Aber wie kommt sie nach Ost-Berlin rein? Da fällt ihr ihr Institutsausweis ein. Zurück in Hoppegarten, allein, die Stiefschwester, bleibt zurück, zeigt sie den Volkspolizisten den Ausweis vor. Eine wichtige Sitzung bei der Akademie, behauptet sie. Sie müsse jetzt, sofort, nach Ost-Berlin. Und kommt damit durch.  Schafft es, über Ostkreuz, zum Alex, irgendwie. Dort geht nichts mehr. Riesiges Gewühl. Menschen, dicht an dicht, aufgebracht. Panzer. Geballte Wut. Sie will erst zum Brandenburger Tor, kehrt um. Eine S-Bahn fährt doch zu Friedrichstraße. 

„Auf dem Bhf. Friedrichstr. besteht  ein völliges Durcheinander“

Das „Journal der Handlung“ vom Präsidium der Volkspolizei hat dort schon um 6.45 Uhr gestörten S-Bahnverkehr in Richtung Alex vermerkt: „Auf dem Bhf. Friedrichstr. besteht  ein völliges Durcheinander. (Verkehrs-)Minister Kramer ist persönlich anwesend, um den Zugverkehr zu regulieren.“ Später,  11.05 Uhr: „Teilweise Sperrung des S-Bahnhofs Friedrichstr. Personenverkehr kann zur Innenstadt nicht bewältigt werden.“

Es muss, wenn Eva Kühns Erinnerung nicht trügt, die Zeit sein, als sie dort aus der Bahn geschoben wird. Auch auf dem Grenzbahnhof: unfassbares Chaos. „Massenpanik, Militär mit Panzern überall, Schießbefehl, Kriegszustand!“ Bevor sie mit dem Strom die Treppe nach unten in die Gänge heruntertreibt,  wirft sie einen Blick durch die Halle.

Oberirdisch gibt es drei Bahnsteige. Zwei für die S-Bahnen. Nach Ost, nach West. Einer für Interzonenzüge. Und dort sieht sie Menschen. Keinen Zug. Nur diese Gruppe. Und hat plötzlich so ein Gefühl. Intuition, wie sie es jetzt nennt. Die Eltern. „Dort sind sie!“

Und Eva Kühn erzählt, wie sie sich in den Katakomben durch eine Kette von Militärs drängelt, „wie eine Irre, ich habe mich nicht festhalten lassen“. Aus den Augenwinkeln sieht sie, dass Volkspolizisten Gewehre auf sie richten. Rennt einen Aufgang hoch. Und plötzlich steht doch ein Interzonenzug auf dem Gleis, die Gruppe ist schon eingestiegen. Der Zug fährt los. Ganz hinten, in der offenen Tür: ihre Mutter. „Mutti, Mutti, Mutti!“

Und Kühn rennt, rennt, rennt. Da, die Tür. Sie sagt: „Meine Mutter reichte mir die Hand, zog mich hoch. Wir flogen beide in den Gang rein.“ Und bangen erst, dass der Zug vor der Grenze, eineinhalb Kilometer hinter dem Bahnhof, doch noch mal stoppt. Und dann, dass er am Bahnhof Zoo auch hält. Und nicht weiterfährt, wieder in die DDR hinein. „Wir hätten dann die Notbremse gezogen“, sagt sie.

Geheimdienste in Marienfelde

Am Zoo steigt Eva Kühn aus, will zur Tante nach Tempelhof. Die Eltern fahren weiter nach Köln. Am nächsten Tag meldet sie sich im Aufnahmelager in Marienfelde, wird von den Geheimdiensten verhört. Die Amerikaner, erzählt sie, hätten sie als Ost-Spionin verdächtigt. Eine andere, irre Geschichte. Den Plan, nach Chicago zu gehen, gibt sie auf.

Am Sonntag überbringt eine Cousine Ingrid Ludwigs ihren Eltern die Nachricht, dass sie im Westen bleiben wird. Der Vater, ein Reichsbahner,  ist danach 14 Tage krank.

Die Cousine bringt ihr etwas Kleidung aus der Wohnung in Lichtenberg mit. Sie legt das West-Abitur ab, studiert BWL, lernt ihren Mann kennen, bekommt zwei Söhne, arbeitet als Statistikerin bei einem Institut.

Eva Kühn geht in West-Deutschland als Forschungsingenieurin in die chemische Industrie. Immer noch, sagt sie, sei sie ein-, zweimal pro Jahr in Berlin. „Ich habe das Sterben unserer Stadt erlebt, die Ruinen, die Zerwürfnisse, den Kalten Krieg. Und den Fall der Mauer, diese Euphorie ohne Ende.“

Und dann lacht sie ins Telefon: „Berlin ist immer noch meine Stadt.“

Die Kontakte hat die Zeitzeugen-Abteilung der Stiftung Berliner Mauer hergestellt.


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