Reise in die Geschichte: Heute ist Neukölln ein Bezirk der Gegensätze. Hipster und Gentrifizierung auf der einen Seite, Clan-Kriminalität und soziale Probleme auf der anderen. Wer zwischen Hermannplatz und Grenzallee unterwegs ist, sieht Müll und Verwahrlosung neben schicken Restaurants und coolen Boutiquen. Großstadt eben. Neukölln hat sich entwickelt, die Veränderungen sind massiv und immer wieder taucht der Stadtteil in den Nachrichten auf. Razzien in Shishabars, Chaos in den Schulen oder Krawalle in der Sonnenallee, doch Touristen und frisch Zugezogene hindert es nicht, in die einst ungeliebte Gegend zu strömen.
Im Gegensatz zu Kreuzberg ist Neuköllns Image immer noch im Wandel, und es wird sich zeigen, was aus dem Bezirk noch werden wird. Wie es aber einmal war, bevor die großen urbanen Umwälzungen begannen, wissen wenige. Einst war Neukölln eine klassische Arbeitergegend, dort lebten in schummrigen Mietskasernen kleine Handwerker, Angestellte, Berliner mit wenig Geld. An jeder Ecke gab es eine Kneipe, in der nach Feierabend die Männer ihr wohlverdientes Pils zischten.
Kopfsteinpflaster, Gaslaternen, Hinterhöfe. Das „alte Berlin“ konnte man in Neukölln leicht finden und während in Charlottenburg und Mitte das Leben tobte und die Welt hier zuhause war, blieb man im Kiez unter sich. Die Kinder spielten auf der Straße, über den Straßenschluchten donnerten die Flugzeuge beim Anflug auf den Flughafen Tempelhof, vor allem in der Zeit der Luftbrücke, und ab den 1950er-Jahren stellten die Wirte in ihren Bierkaschemmen Jukeboxen auf und ließen die Halbstarken hinein. Die Rock‘n‘Roll-Ära begann.
Lange spürte man noch die Nachkriegszeit in der Pannierstraße, am Reuterplatz und selbst im beschaulichen Rixdorf, einem der schönsten Dorfkerne in Berlin, wirkten die verheerenden Zerstörungen nach. Ein Buch aus dem Sutton Verlag erinnert nun an Neukölln in den Jahren 1945 bis 1966. Die Autoren Manfred und Brigitte Heyde sowie Addi Jet haben eigene Erinnerungen, Fotos und Geschichten rund um den (un)geliebten Bezirk gesammelt und geben Einblicke in eine vergessene Zeit der Berliner Stadtgeschichte.
„Stunde Null, Rock’n’Roll und Wirtschaftswunder“ ist ihr Band untertitelt und zeichnet so die deutsche Nachkriegszeit am Beispiel von Neukölln nach. Wer dort in jener Zeit selbst aufwuchs, wird in „Neukölln 1945 bis 1966“ eigene Erlebnisse und Erfahrungen wiederfinden. Und wer den Bezirk nur aus späteren Jahrzehnten oder der Gegenwart kennt, dem Eröffnet sich eine neue Perspektive auf die historische Dimension eines Kiezes.
Neukölln 1945 bis 1966 Stunde Null, Rock’n’Roll und Wirtschaftswunder von Matthias Heyde, Brigitte Heyde und Addi Jet, Sutton Verlag, 128 Seiten, ca. 85 Abbildungen, Hardcover, 19,99 €
Fotogalerie: Neukölln 1945 bis 1966
Hier sind Fotos, die teilweise aus dem besprochenem Band stammen, die ins Neukölln der 1940er- bis 1960er-Jahre führen. Mit diesen Bildern im Kopf kann man Neukölln und seine Geschichte heute neu begreifen. Viel Spaß auf der Zeitreise und bei eigenen Entdeckungen!
Straßenbahn auf der Sonnenallee
Sonnenallee, Anfang der 1960er von der Roseggerstraße aus gesehen; an der Ecke steht einer der ab 1926 in Berlin eingeführten „modernen“ Handfeuermelder. Bis zum 2. Mai 1965 fuhr hier die Straßenbahnlinie 95. Nach deren Stilllegung wurde die Promenade bald als Parkfläche genutzt und verkam schnell zu einem hässlichen, von den Reifen aufgewühlten zerfurchten Mittelstreifen. Mehr zur Geschichte der Sonnenallee lest ihr hier.
Eine Kindheit in Trümmern
Trümmer und Zerstörung gehörten in den 1940er-Jahren nicht nur in Neukölln zur Normalität. Andere Bezirke, etwa Mitte oder Wedding, haben unter den Bomben und der Schlacht um Berlin gelitten. Die Kinder nahmen es hin und verwandelten die Trümmerberge in Abenteuerspielplätze.
Autoscooter im Kiez
In den 1950er-Jahren besuchte man die vom Kunstamt Neukölln verwalteten Institutionen. Es gab Kino, Theater und einen Konzertsaal. In den Kneipen spielte man Kicker. Der Hit war aber die „Neue Welt“ in der Hasenheide, dort gab es sogar Autoscooter.
Der Sound der Halbstarken
Der damals noch unbekannte Drafi Deutscher stand am Anfang seiner Laufbahn gemeinsam mit Addi Jet and the Jetniks auf einer Neuköllner Rock’n’Roll-Bühne. Und die Halbstarken tanzten dazu.
Mauerbau an der Grenze zu Treptow
Mauerbau in Neukölln in der Harzer Straße, Ecke Boucheestraße; auf der Treptower Seite ist der Gebäudekomplex der ehemaligen Pianoforte-Fabrik Hoepfner zu sehen. Die anfangs behelfsmäßig wirkende Eingrenzung sah später aus wie die Mauer eines Hochsicherheitsgefängnisses.
Neukölln nach dem Krieg
Hermannstraße Ecke Warthestraße. Anti-nationalsozialistisches Transparent: „Das war die Neuordnung Europas. 4,5 Millionen Antifaschisten wurden allein im KL Auschwitz grausam ermordet! Darum Ausrottung des Nazismus mit allen Wurzeln“
Panzersperre am S-Bahnhof Hermannplatz
Das faschistische Deutschland im wird am 1. Februar 1945 zum „Verteidigungsbereich“ erklärt. Eine Panzersperre am S-Bahnhof Hermannplatz in Neukölln wird von Volkssturmsoldaten mit Material aus zerbombten Häusern verstärkt.
Eine geteilte Stadt
Nach der Teilung der Stadt veränderte sich das leben der Berliner massiv, die Zonengrenzen verliefen meist quer durch die Wohngebiete, so wie hier in der Harzer Straße, wo sich Neukölln und Treptow treffen.
Neukölln von oben
Blick auf Neukölln aus der Luft, die Aufnahme entstand 1958. Die Stadt wirkt noch unfertig, doch das Wirtschaftswunder rollt langsam an. Hier haben wir mehr Luftaufnahmen von Berlin versammelt.
Hasenheide in den 1950er-Jahren
An der Grenze von Kreuzberg und Neukölln war schon immer viel los, das ist bis heute auch so. Schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts zog die Neue Welt viele Besucher an, die sich amüsieren wollten, später sorgte das Karstadt-Warenhaus am Hermannplatz für Furore, es galt als modernstes Kaufhaus Europas.
Mehr Neukölln
12 Tipps für den Szenebezirk Neukölln: Shopping, Essen & Kultur. Wer gar nicht genug von Hummus bekommt, sollte bei Kitten Deli in der Neuköllner Friedelstraße vorbeischauen. Von Britzer Garten bis zur Hufeisensiedlung – Neukölln erleben: 12 Ziele, die immer gehen. Nirgendwo ist die Dichte an Hobbykünstler:innen, DJs und Hedonist:innen höher als rund um die Weserstraße: Warum wir den Kreativen-Kiez lieben und hassen. Immer neue Texte über Neukölln findet ihr hier.