In der Oranienstraße läuft vieles von dem zusammen, was Berlin ausmacht. Es ist eine komplexe, aufregende Geschichte: Die einstige bürgerliche, jüdisch geprägte Geschäftsstraße hat sich über die Jahrzehnte in eine bunte Kiezmeile verwandelt. Knapp zwei Kilometer zieht sie sich durchs Herz von Kreuzberg 36.
Und an der Oranienstraße lässt sich die Geschichte nahezu aller sozialen Entwicklungen der letzten 50 Jahre ablesen. Von Hausbesetzungen, Krawallen und einer aktiven linksradikalen Szene über die Punk-Revolution, das Aufblühen der Alternativkultur mit Bioläden und vegetarischen Restaurants und einer selbstbewussten internationalen Community, allen voran der türkischen, bis zur Touristenattraktion und Gentrifizierung. Die Oranienstraße ist Berlin in der Nussschale. Ihre Geschichte erzählen wir euch anhand von 12 Fotos.
Die Oranienstraße hat ihre Anfänge im 19. Jahrhundert
Im 19. Jahrhunderte wuchs Berlin in Folge der Industrialisierung. Viele Arbeiter zogen in die Stadt und brauchten Wohnraum. Kreuzberg entwickelte sich zum Arbeiterbezirk, allerdings mit bürgerlichem Einschlag. 1849 erhielt der Verkehrsweg seinen Namen: Oranienstraße. Benannt wurde er nach dem gleichnamigen niederländischem Adelsgeschlecht.
Die „jüdische“ Oranienstraße
An die jüdische Geschichte der Oranienstraße erinnern heute zahlreiche Stolpersteine, die vor vielen Geschäften und Wohnhäusern im Bürgersteig von den einstigen Bewohnern zeugen. Jüdische Ärzte, Handwerker und Händler lebten und arbeiteten in Kreuzberg Seite an Seite mit ihren christlichen Nachbarn. Der Unternehmer Georg Wertheim, selbst getauft, jedoch jüdischer Herkunft, gründete an der Hausnummer 53/54 ein Kaufhaus.
Auch andere prominente Berliner lebten und wirkten vor dem Krieg in der Oranienstraße. Etwa der Erfinder des Computers Konrad Zuse, der Komponist Paul Lincke und der Theaterregisseur Erwin Piscator.
Zerstörungen im Zweiten Weltkrieg
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Im Zweiten Weltkrieg wurde die zentral gelegene Oranienstraße stark beschädigt, sowohl bei Luftangriffen wie auch während der Schlacht um Berlin. Im ruhigeren und weniger bekannten Teil der Straße, zwischen Lindenstraße und Moritzplatz, dominieren daher Neubauten. Berühmt wurde aber das Stück zwischen Oranienplatz und Görlitzer Bahnhof.
Ein Neubeginn und die Straßenbahn verschwindet
Weniger zerstörte Altbauten wurden restauriert, so besteht der Abschnitt bis zum Görlitzer Bahnhof fast ausschließlich aus Altbausubstanz. Die Straßenbahn, die einst auf der Oranienstraße verkehrte, war nach der Verkehrsreform in West-Berlin Geschichte. Man setzte ab den 1960er-Jahren zunehmend auf Auto, Bus und U-Bahn. Die Geschichte der Straßenbahn in Berlin nehmen wir hier in den Blick.
Hausbesetzungen und Instandbesetzungen
Viele Häuser in Kreuzberg befanden sich in den 1970er-Jahren in einem maroden Zustand. Zugleich fehlte Wohnraum. Der Senat plante neue Autobahnen und Neubausiedlungen für den Bereich rund um das Kottbusser Tor und den Moritzplatz. Vor diesem Hintergrund entstand die Hausbesetzerbewegung, die zugleich die Altbauten retten und Wohnraum sichern wollte. Man ging konstruktiv an die Sache ran und sanierte die Häuser selbst. Der Begriff „Instandbesetzung“ machte die Runde.
Punks, die linke Szene und Krawalle
Aus der Hausbesetzerbewegung entstand auf der einen Seite eine linksradikale Szene, die sich seit dem legendären 1. Mai 1987 Straßenschlachten mit der Polizei lieferte. Die „Revolutionäre 1. Mai-Demonstration“ lief auch über die Oranienstraße. Autos und Geschäfte wurden zerstört, Steine flogen, die Polizei ging in den ersten Jahren extrem hart gegen die Demonstranten vor.
Zugleich entwickelten sich Kreuzberg und die Oranienstraße zum Zentrum der Punk-Kultur. Hier lebten und probten die Berliner Punks, man hauste in ranzigen Buden und trieb sich in den Szenekneipen rum. Das SO36 genießt heute einen geradezu legendären Status, hier begann der Punk in Berlin. Vielleicht sogar in Deutschland.
Die Alternativkultur blüht auf
Auf der anderen Seite entstand eine bunte Alternativkultur mit ersten Bioläden und vegetarischen Restaurants in Berlin. Nachhaltige Mode, lokale Produkte und gesunde Ernährung spielten rund um die Oranienstraße eine wichtige Rolle, bevor sich diese Themen auch im Mainstream durchsetzten.
Die „türkische“ Oranienstraße
Genauso prägend wie die Punks, Hausbesetzer, Ökos und Künstlertypen sind für die Oranienstraße auch die Berliner Türken. Seit den 1970er-Jahren zogen viele Gastarbeiterfamilien in den einst wenig beliebten Bezirk und fanden hier eine neue Heimat. Zahlreiche türkische Geschäfte, Imbisse und Restaurants prägen die Oranienstraße und Umgebung. In den 1980er-Jahren wurde Kreuzberg daher etwas verächtlich „Klein Istanbul“ genannt.
Wende und Investoren
Nach der Wende rückte die halb eingemauerte Enklave Kreuzberg plötzlich ins Zentrum der Stadt. Zwar verlegte sich in den 1990er-Jahren die Club- und Subkultur zunehmend nach Ost-Berlin, und auch die Kunstszene fand man eher in der Oranienburger Straße in Mitte und nicht in der Oranienstraße, dennoch wurde der Bezirk attraktiv für Investoren. Am Moritzplatz entstanden neue Geschäftsgebäude, viele Mietshäuser wurden saniert. Die Gentrifizierung nahm heimlich an Fahrt auf.
Essen, trinken und einkaufen
Die Oranienstraße ist vor allem für ihre Geschäfte, Kulturorte und Restaurants bekannt. Neben dem SO36 residieren hier die Weinhandlung Suff, der Comicladen Modern Graphics, der Plattenladen Coretex und der Fahrradladen Zentralrad. Dazu kommen Buchläden, Modeboutiquen und Delikatessläden sowie die obligatorischen Ein-Euro-Shops und Spätis.
Wer mindestens einmal in jeder Bar, Kneipe, Imbiss, Restaurant oder Café was essen oder trinken würde, bräuchte dafür mehrere Wochen. Man kann japanisch, türkisch, mexikanisch, indisch oder persisch speisen, und im Goldies gibt es die besten Pommes der Stadt.
Straße der Widersprüche
Die Gentrifizierung von Kreuzberg schreitet mit großen Schritten voran. Die bunte Alltagskultur zieht immer wohlhabendere Bewohner an, die Mieten steigen rasant, alteingesessene Bewohner und kleine Geschäfte werden verdrängt. Touristen strömen durch den Kiez. Der Kapitalismus, könnte man meinen. Das stimmt, aber nur teilweise.
Die Oranienstraße und nicht wenige ihrer Bewohner bleiben sich und ihren Ideen von einer gerechteren Welt, in der es um mehr geht als nur ums Geld, konsequent treu. Viele Initiativen und Aktionen, die sich gegen Sexismus, Rassismus oder für die Belange der LGBT-Community und Geflüchtete engagieren, konzentrieren sich weiterhin rund um die Oranienstraße.
Abenteuerspielplatz Kreuzberg
Von der Straße, in der einst Erwin Piscator und Paul Lincke an jüdischen Geschäften vorbei flanierten, ist nichts mehr da. Auch die Zeit der Hausbesetzungen und „Klein Istanbul“ gehören der Geschichte an. Heute ist die Oranienstraße stellenweise noch widerspenstig, aber doch gezähmt.
Sie ist eine bunte Einkaufsstraße geworden, deren Herz noch links schlägt, die sich aber den Zeichen der Zeit beugen muss. Am 1. Mai kommen tausende Feierlustige nach Kreuzberg, um sich zu betrinken und Musik zu hören. Die alten Parolen und die Rangeleien mit der Polizei sind zur linken Folklore mutiert. Doch wer weiß, was die Zukunft der Oranienstraße bringen wird?
Mehr Berlin
Mehr über die Geschichte Berlins findet ihr hier. Wir zeigen euch nicht nur die Geschichte der Oranienstraße, sondern immer aktuelle Texte über Kreuzberg. Wir bringen euch kilometerweise Stadtgeschichte: Mehr über die berühmten Straßen Berlins. Nicht nur die Geschichte der Friedrichstraße in Berlin haben wir uns angeschaut, sondern auch die Müllerstraße in Wedding und die historische Sonnenallee in Neukölln. Geschichten erzählen auch die letzten Ruhestätten: 12 berühmte Gräber in Berlin, von Brecht über Juhnke zu Knef.