Protest

Ostermärsche in der Geschichte Berlins: Friede sei mit euch!

Früher waren Ostermärsche, diese Prozessionen der Friedensbewegung, einmal Massendemos. In West-Berlin endete die Kundgebung 1968 sogar in Bambule mit der Polizei – eine Konfrontation, die zugleich Gründungsmythos der 68er-Bewegung war. In den frühen 1980er-Jahren gab es wegen der neuen Eiszeit im Kalten Krieg eine Renaissance des Protestrituals. Diese Art der Friedenskundgebung, die heute aus der Zeit gefallen wirkt, ist während des Ost-West-Konflikts eine große Sache gewesen, auch in Berlin.

Ostermarsch nach dem Mauerfall: Am 15. April 1990 ziehen Demonstraten aus dem Osten und Westen Berlins durch die Stadt – hier entlang der Heinrich-Heine-Straße. Foto: Imago/Peter Homann

Ostermärsche in Berlin: Friedensbewegt in den 1960er-Jahren

Ein apartes Ereignis war die Berliner Premiere eines Marschs, dessen Prozessionen anderswo schon Hunderttausende angezogen hatten. Am 26. März 1967 demonstrierten rund 1.500 Friedensbewegte auf dem Ostermarsch in der City West gegen den Vietnamkrieg. Bestaunt wurden sie von Feiertagsbummlern im sonst so braven Stadtviertel. Der große Aufreger: dass ein paar junge Unruhestifter ihr näheres Umfeld mittels Ölfarbenwürfen ins Visier nahmen – die Hausfront des „Amerika-Hauses“ in der Nähe des Bahnhofs Zoo, genauso die Leiber von Polizisten.

Dabei kam es auch zu Streifschüssen. Ein „B.Z.“-Berichterstatter sorgte sich um Passanten, die wegen der ballistischen Verwendung von Behältnissen, gefüllt mit Farbe, in Mitleidenschaft gezogen worden waren. „Ihre meist neuen Sonntagsgarderoben oder ihre Autos sind durch große Kleckse greller Ölfarbe verunziert“, reportierte er später im Boulevardblatt.

In der damaligen Enklave an der Spree, bewohnt von rund 2,2 Millionen Menschen, protegiert von den Militärs der Alliierten, galt der pazifistische Protest am Ostersonntag zunächst als skurriles Schauspiel. Jenseits der deutsch-deutschen Grenze, an Rhein, Weser und Donau, waren die Ostermärsche in dieser Phase des Ost-West-Konflikts dagegen seit Jahren schon eine feste Größe.

Dort hatten seit 1960 jährlich Weltverbesserer, mit denen sich public intellectuals solidarisierten, etwa Hans-Magnus Enzensberger, Rolf Hochhuth oder der evangelische Geistliche Martin Niemöller, ihre Passion für eine waffenfreie Welt auf die Straßen getragen.

Es war ein Spaziergang an einem christlichen Feierdatum, den die Organisatoren aus Großbritannien importiert hatten, wo schon Ostern anno 1958 tausende Menschen vom Londoner Trafalgar Square ausgeschwärmt waren ins südenglische Aldermaston, wo im dortigen Atomforschungszentrum die nukleare Technologie verfeinert wurde. Es war der Urmoment einer Bewegung, die besonders in Westdeutschland sehr erfolgreich werden sollte. Nicht nur in den 60er-Jahren, wo sie irgendwann auch in West-Berlin kurz für Furore sorgte. Sondern auch in den frühen und mittleren 80er-Jahren.

Die Ostermärsche haben sich ins nationale Gedächtnis gebrannt. Als Konsens-Veranstaltung fürs gesellschaftskritische Bürgertum, darunter Kirchenleute und Gewerkschafter, Studierende und Intellektuelle. Der Soundtrack: „Dona nobis pacem“ meets Ton Steine Scherben.

Ostermärsche sind ein Indikator für die Weltlage

___STEADY_PAYWALL___

Die Besucherzahlen waren stets Indikatoren für die allgemeine Weltlage, auch in West-Berlin. Je verbreiteter Friedenstauben oder andere Symbolik auf Kundgebungen, desto tiefer die Angst vor Kriegsausbrüchen. Heute wollen Populistinnen wie Sahra Wagenknecht und Alice Schwarzer angesichts des Ukraine-Kriegs den Geist dieser Gegenkultur reanimieren. Im Jahrzehnt von Beatmusik, Peace & Love und Studentenrevolte war hingegen der Kalte Krieg die dräuende Kulisse im Hintergrund.

Die Streitkräfte der USA hatten schon in den frühen 1960er-Jahren auf ihren deutschen Stützpunkten 1.500 Atomwaffensprengköpfe gelagert. „Kampf dem Atomtod!“, lautete eine Parole. Ein Schrecknis war auch die Kubakrise im Jahr 1962 gewesen, die filmreife Konfrontation zwischen den Blockmächten in Mittelamerika. Dann folgte der US-Einsatz im Vietnamkrieg. Ein denkbarer Grund, warum die Protestwelle in den 60ern erst spät nach West-Berlin schwappte: dass die Insulaner in der schutzbedürftigen Frontstadt des Ost-West-Konflikts anfangs skeptisch gegenüber vermeintlich naiven Friedensmelodien waren. Dafür aber mündete die geplante Kundgebung 1968, also ein Jahr nach dem ersten Marsch, gleich in die größte Bambule in der noch jungen BRD. Typisch Berlin.

Der Ostermarsch im April 1968 ereignete sich kurze Zeit nach dem Attentat auf Rudi Dutschke. Wegen der aufgebrachten Stimmung kam es zu Konflikten mit der Polizei. Revolution lag in der Luft. Foto: Jürgen Henschel, FHXB Friedrichshain-Kreuzberg Museum

Wer diese Eskalation verstehen will, muss mit Hajo Funke sprechen. Der namhafte Politikwissenschaftler, später Professor am Otto-Suhr-Institut, studierte damals an der FU, ein junger Bob-Dylan-Fan in Aufbruchsstimmung. Er wohnte in einer WG in Dahlem.

„Wir waren empört, jeder auf seine Weise“, sagt der 78-Jährige im Rückblick.

Man muss sich dafür die Vorgeschichte des Ostersonntags im Tumult- und Umbruchsjahr 1968 vor Augen führen. Am Gründonnerstag, dem 11. April, wurde der junge, fiebrige Studentenführer Rudi Dutschke das Opfer eines Attentats – in aller Öffentlichkeit, am Ku’damm. Den damaligen Adorno-Leserinnen und Parka-Trägern, Blumenkindern und Rock’n’Roll-Fans war die Bluttat der endgültige Beweis für die Verderbtheit der Nachkriegsgesellschaft. Ein 25-jähriger Rechtsextremist namens Josef Bachmann hatte Dutschke mit drei Schüssen niedergestreckt, wohl auch angestachelt von Pamphleten in Springer-Zeitungen. Der Spiritus Rector der Studentenbewegung sollte etwas mehr als ein Jahrzehnt später an den Folgen des Attentats sterben.

Die Gewalttat brachte die Wut der Jugend zur Explosion. Zumal bereits im Sommer zuvor Benno Ohnesorg, ein argloser Hochschüler, 26, vom Polizisten Karl-Heinz Kurras getötet worden war – am Rande der Demo gegen den Besuch des Schahs von Persien in West-Berlin, einem Buddy der US-Regierung.

Die Zielscheiben der Erhebungen: jene Kreise der Gesellschaft, wo reaktionäres Gedankengut zirkulierte, etwa konservative Medienhäuser oder die Polizei. Die aufflammenden Studentenproteste wurden später in Schulbüchern und TV-Dokus verewigt. Ein fast ikonisches Bild dabei: junge Randaleure vor dem Springer-Hochhaus, ihre Brandschatzungen und die Löschtrupps der Feuerwehr.

Hajo Funke war Demonstrant. „Der damalige Hass gegen Studierende, die sich politisch engagierten, wurde als regelrechte Pogromstimmung wahrgenommen“, begründet er heute den Zorn der Jugend.

Ostermärsche nach der 68er-Revolte: Die Zersplitterung der Bewegung

Für Ostersonntag hatte die „Kampagne für Abrüstung“, die tonangebende Gruppe der Friedensbewegung, eigentlich eine so genannte „Picketing-Aktion“ im Stil der Ostermärsche angedacht: Demonstranten sollten zwischen Wittenbergplatz und Olivaer Platz im Kreis laufen und dabei Protestschilder tragen, um Aufmerksamkeit für die amerikanischen Verbrechen im Vietnamkrieg zu erregen. Doch „Kumbaya“-Laune kam inmitten der aufgehitzten Lage nicht mehr auf.

Stattdessen wurde Charlottenburg zum Schauplatz einer Straßenschlacht. Studenten bauten Barrikaden. Polizisten ritten auf Rössern in die Menschenmengen einer Demo, die 3.000 Leute angezogen hatte. Durch den Lautsprecher eines Beamten röhrte es: „Die Polizei kennt keine Gnade mehr.“ Am gesamten Osterwochenende wurden im Zuge der Ausschreitungen knapp 400 Menschen festgenommen. Statt eines Friedensmarschs vollzog sich die Geburt einer gesellschaftsverändernden Kraft – der 68er-Bewegung.

Die Historie von Ostermärschen war im West-Berlin der 60er-Jahre damit nur ein kurzes Intermezzo. In den folgenden Jahren verloren die Kundgebungen ihre Anziehungskraft, auch in der restlichen Republik. „Sie waren ein altes Modell des Protests, das nicht mehr sexy war“, erzählt Hajo Funke, einst Insider der Studentenbewegung.

Der Ostermarsch im Jahr 2022, ein paar Wochen nach dem Einmarsch russischer Truppen in der Ukraine. 1.300 Menschen kamen. Viele Friedensbewegte fielen auf wegen Verharmlosungen des Despoten Wladimir Putin. Foto: Imago/Peter Homann

Zuvor hatten die Anhänger der Ostermärsche in ganz Deutschland noch eine wichtige Keimzelle für die Außerparlamentarische Opposition (APO) ausgemacht, also für jenes Sammelbecken mit aufsässigen Youngstern, die damals ihren Frust über die herrschenden Verhältnisse jenseits des Parteiensystems kanalisierten. Über den unmenschlichen US-Krieg in Indochina, über die Altnazis in der Bundesrepublik von Kanzler Kiesinger.

Die Friedensbewegung zersplitterte auch, weil sich Fans des Sowjetkommunismus mit weniger dogmatischen Linken zerstritten, nämlich über die Haltung zum blutigen Einmarsch der UdSSR während des Prager Frühlings in der Tschechoslowakei des Jahres 1968. Darin zeigte sich auch die dunkle Seite der Szene: die Verklärung totalitärer Regimes, geleitet von der eigenen Ideologie. Eine Klitterung, die heute den Epigonen um Wagenknecht & Co. wegen ihres Appeasements gegenüber Putin und seinen Tschekisten vorgeworfen wird.

Ein Zeitsprung in die frühen 1980er-Jahre: Das solipsistische Lebensgefühl der 1970er-Jahre schien verflogen, also die damalige Flucht linker Jungakademiker in sperrige Theoriegebäude, der Nihilismus, der Rückzug ins Private, der RAF-Terror.

Ostermärsche in den 80ern: US-Präsident Ronald Reagan triggert die Bewegung

Wer verstehen will, wie dann die Friedensbewegung in West-Berlin wiederbelebt wurde, könnte einen deutsch-jüdischen Kommunisten ins Feld führen, der einmal gesagt hat: „Es gilt, die Glut über die Zeit zu tragen.“ Fritz Teppich, 2012 im Alter von 93 Jahren gestorben, kämpfte ganz früher für die Republikaner im Spanischen Bürgerkrieg und wurde nach dem Zweiten Weltkrieg zum Journalisten in seiner Geburtsstadt West-Berlin. Während der neuen Eiszeit im Kalten Krieg, mit Nato-Doppelbeschluss und Säbelrasseln, war er Mastermind des „Teppich-Kreises“, eines Netzwerks von Dissidenten. Es spielte eine wichtige Rolle beim Update der Ostermärsche in den Eigthies.

Ein Spruch, der auf den Märschen skandiert wurde: „Haut dem Reagan, diesem Geier, die Raketen um die Ohren!“ Oder prägnanter, auf einem Schild: „REAGAN! FUCK OFF“.

Der US-Präsident Ronald Reagan polterte als krachlederner Cowboy durch die Weltpolitik. Das westliche Militärbündnis plante, Pershing-II-Raketen in der BRD zu stationieren – technisch ausgereifte Geschosse mit atomaren Sprengköpfen. Jenseits des Eisernen Vorhangs war Michail Gorbatschow, der später als Kreml-Herrscher das Tauwetter bringen sollte, noch mittlerer Funktionär im Politbüro.

Eine Zeitzeugin, damals um die 30, erinnerte sich an die Ostermärsche in West-Berlin: „Das war unter jungen, coolen Menschen so sehr Mainstream wie heute die Klimastreiks.“ Das Maskottchen war der „Friedensbroiler“, eine ziemlich groß geratene Taube aus Pappmaché.

Allein am Ostermontag 1983 waren in ganz Deutschland rund 200.000 Menschen unterwegs, ob in Käffern oder großen Städten. In West-Berlin waren es 15.000 – sie unternahmen einen Sternmarsch zum Platz der Luftbrücke, dem Vorhof des Tempelhofer Flughafens, wo GIs der US Air Force ihren Dienst taten. Am Tag zuvor hatten Aktivisten die Zufahrt zur amerikanischen Radarstation auf dem Teufelsberg blockiert.

In den Stadtbezirken bündelten sich unterdessen „Friedensinis“ zu einer Graswurzelbewegung.

1981 hatten Berühmtheiten wie die Schauspielerin Eva Mattes, bekannt aus Filmen von Fassbinder und Herzog, die überregionale Initiative „Künstler für den Frieden“ gegründet – und der Friedensbewegung damit die Absolution der Hochkultur erteilt. Das „Künstler für den Frieden“-Festival in Bochum 1982 vereinte einen Walk of Fame der Kulturlandschaft. Mit Joseph Beuys, Udo Lindenberg und Konstantin Wecker.

Die Ostermärsche waren im damaligen Deutschland ein Termin unter vielen im Protestkalender. Darunter die Demos im Bonner Hofgarten, wo sich 1981 und 1983 jeweils hunderttausende Menschen versammelten.

Ostermärsche und ihr Slogan „Schwerter zu Pflugscharen“

So präsent war die Antikriegsstimmung, dass selbst beim Klassenfeind die Friedenspfeife geraucht wurde. Dort trugen Rebellen angesagte Aufnäher mit dem Slogan „Schwerter zu Pflugscharen“. Eine Mode, die Klaus Gysi, humorloser Staatssekretär für Kirchenfragen, verbannen wollte. Die Buttons würden, so hieß es im Kasernen-Ton, missbräuchlich zur Schwächung der DDR-Wehrbereitschaft benutzt.

„Schwerter zu Pflugscharen“ war ein zentraler Slogan der Friedensbewegung in den 80ern. Das Banner ist entrollt worden auf einer Demo in Bonn gegen nukleare Nachrüstung, die allerdings kein Ostermarsch war. Foto: Imago/Sven Simon

Dabei hätten die SED-Kader der westlichen Friedensbewegung auch eine gute Seite abgewinnen können. Das Bild der Ostermarschleute vom Warschauer Pakt, der vor Waffen starrt wie die Nato, war teils beschönigend. In der West-Berliner Friedensbewegung waren die Blockflöten-Aktivisten der Sozialistische Einheitspartei West-Berlins (SEW), einem Ableger der SED, eifrige Vasallen des realsozialistischen Projekts. Deren Blick aufs atomare Wettrüsten: Die Pershing-II-Raketen der USA sind satanisch, die Stationierung von SS-20-Raketen im Ostblock ist verständlich.

Vielleicht hatte Klaus Gysi, der SED-Politiker, aber auch geahnt, dass die Solidarität mit der Friedensbewegung in der DDR mehr ist als nur Fahnenflucht von pubertierenden Softies. Nämlich ein Vorzeichen für die Abkehr ganzer Gruppen vom Arbeiter- und Bauernstaat. Jedenfalls wuchs die Zahl der Regimegegnerinnen und -gegner.

Ostermärsche nach dem Epochenbruch: Kein Land in Sicht

Im weiteren Verlauf der 80er sank die Begeisterung für Ostermärsche wieder, in West-Berlin sowie im restlichen Land. Erneut war die Friedensbewegung ein Barometer für die geopolitische Weltlage. Michail Gorbatschow, der neue Machthaber in der UdSSR, machte bekanntlich Glasnost und Perestrojka zur Chefsache. Die Arsenale mit der schrecklichsten aller Waffen wurden verkleinert; der Rest ist Geschichte.

Vom Epochenbruch 89/90 konnte sich die Friedensbewegung nicht mehr erholen. Die alten Muster der Welterklärung passten nicht mehr ins neue Zeitalter. Vor allem der Anti-Imperialismus, der eine mutmaßlich stetige gewaltsame Vergrößerung der US-Einflusssphäre zum ewigen Naturgesetz aufdonnert.

Selbst der verbrecherische Angriff der USA auf den Irak im Jahr 2003, vom US-Heer als „Anti-Terror-Krieg“ etikettiert, mit hunderttausenden Toten, konnte die Menschen nicht mehr in Massen zu den Ostermärschen mobilisieren. Auch wenn kleinere Ansammlungen im neuen Jahrtausend immer wieder in die Nachrichten fanden.

Eines macht die Idee immer noch anziehend: dass sich die Protestkundgebungen auf die ganze Republik verteilen, ob in Berlin, im Ruhrgebiet oder irgendwo in Bayern.


Mehr zu Berlin im Zeitalter des Ost-West-Konflikts

Die große Zäsur während des Ost-West-Konflikts war in der geteilten Stadt der Mauerbau im Jahr 1961 – historische Fotos erzählen von der Entstehung dieses Symbols der Trennung. Wer das auftauende Lebensgefühl zwei Jahrzehnte später verstehen will, blättert einfach in Aufnahmen aus Berlin im Jahr 1983. Damals ist beispielsweise Udo Lindenberg im Palast der Republik aufgetreten. Ein erfolgreicher Schriftsteller, der das Berlin des Kalten Kriegs als Schauplatz für Agenten-Thriller verwendete, war übrigens John Lé Carre, der 2020 gestorben ist. Wir blicken gern zurück: Besucht unsere Rubrik zur Berliner Geschichte.

Berlin am besten erleben
Dein wöchentlicher Newsletter für Kultur, Genuss und Stadtleben
Newsletter preview on iPad