Während Neonazis nicht-weiße Menschen in Serie töten, wird im April 1992 ein rechtsextremer Funktionär erstochen – in einem Neuköllner China-Restaurant. Die Täter: migrantische Linke. Über eine politische Gewalttat, die einen langen Schatten geworfen hat
Eine politische Gewalttat mit langem Schatten
In rechtsextremen Kreisen ist das Opfer, anno 1992 im China-Restaurant „Jin Shan“ erstochen, bis heute ein Märtyrer. „Gerhard Kaindl, wir werden dich rächen“, so hatte bereits nach seinem Tod der Sänger einer hasserfüllten Musikgruppe namens Commando Pernod in einem Lied gegrölt; in den vergangenen Jahren ist der apostrophierte Held, dem mehrmals ein Messer in den Rücken gerammt worden war, immer wieder zur sagenhaften Figur stilisiert worden. In Publikationen wie „Compact“ oder „Freilich“.
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Mit Kumpanen hatte der Politiker, Landesschriftführer einer Sammelpartei namens „Deutsche Liga für Volk und Heimat“, abends in der Gaststätte gespeist. Ein Asia-Lokal an der Ecke Sanderstraße/Kottbusser Damm in Neukölln.
Als die Runde aufbrechen wollte, stürmten Vermummte den Laden. Ein Überfall in der Nacht zwischen dem 3. und 4. April. Hierzulande ohne Beispiel in der jüngeren Geschichte politisch motivierter Gewalt. Die linksradikalen Täter waren Migranten mit türkischen und kurdischen Wurzeln, großteils oder zur Gänze. Ihre Programmatik: Militanz gegenüber Neonazis und rechten Szenegrößen.
Gerhard Kaindl war nationalistischer Funktionär, zudem Elektroingenieur, Kleinunternehmer, Familienvater.
Schwer verwundet wurde ein anderer Ultrarechter: Thorsten Taler, Parteikollege und Publizist. Heute Vize-Chefredakteur der „Jungen Freiheit“.
Vor dem Angriff hatte anscheinend ein Gast linken Barrikadenkämpfern in der Nachbarschaft gesteckt, dass Faschos um die Ecke speisen würden. Flüsterpost à la carte.
Politische Gewalt: Faschos speisen um die Ecke
Ein zeithistorischer Exkurs: Rassisten mit Springerstiefeln waren in der vogelwilden Nachwendezeit allgegenwärtig – und auch Vordenker an den Schreibtischen rochen Lunte. An den Tischen im „Jin Shan“ ertönte der Ruf: „Faschisten!“ „Nazi-Chef beim Chinesen erstochen“, titelte der „Berliner Kurier“.
Eine Enthemmung inmitten einer Welle der braunen Hetze. Im November des Vorjahres hatten Neonazis nicht-weißen Menschen in Hoyerswerda ihren german dream zur Hölle gemacht. Während einer Gewaltserie griffen sie vietnamesische Händler an und belagerten eine Flüchtlingsunterkunft. In den Monaten nach dem Vorfall im „Jin Shan“ sollten weitere Exzesse die Prime-Time-News bestimmen: die Pogrome von Mölln und Solingen sowie die beispiellosen Ausschreitungen von Rostock-Lichtenhagen.
Zugleich machte die linke Szene mobil. In Köln knüppelten Leute den Stadtrat Manfred Rouhs aus der „Deutschen Liga für Volk und Heimat“ nieder.
Politische Gewalt in Berlin: Der mutmaßliche Haupttäter floh in die kurdischen Berge
Cengiz U., angeblich der zentrale Akteur, tauchte unter. Er floh aus Almanya – und verbrüderte sich mit Partisanen in den kurdischen Bergen. Später tötete ihn das türkische Militär.
Andere Verdächtige fasste die Polizei. Auf einem Protestzug zum Untersuchungsgefängnis in Moabit solidarisierten sich tausende Sympathisanten mit den Häftlingen. Laut Anklage war das Rollkommando mit Baseballschlägern, Messern, einem Stahlspieß und einer Metallstange bewaffnet. Im Herbst 1994 fällte das Kriminalgericht im Saal 500 ein Urteil: Drei Angeklagte verdonnerte die Kammer zu jeweils drei Jahren Haft wegen gemeinschaftlicher Körperverletzung mit Todesfolge, zwei weitere zu Bewährungsstrafen.
Vorher hatte sich die Justiz einige Schnitzer geleistet. Ein designierter Kronzeuge litt unter Schizophrenie. Seine Aussagen: obsolet. Einen anderen Verdächtigen hatten Beamte des Staatsschutzes auf manipulative Weise ins Verhör genommen – der 33-jährige Abidin E. verbrachte daraufhin elf Monate unschuldig in U-Haft. Die Grünen-Ikone Hans-Christian Ströbele, der im Jahr 2022 verstorbene Alt-68er in der Anwaltsriege, wetterte über einen „Skandal“. Die ursprüngliche Anklage wegen Mordes mussten die Robenträger fallen lassen.
In der radikalen Linken wurde über den Abgrund der Straßengewalt diskutiert. „Dieser Tod war uns so nötig wie ein Kropf“, hieß es im „Antifaschistischen Infoblatt“. Es ging aber auch um andere Denkgebäude – etwa darum, wie Gruppierungen während eines Prozesses ein politisches Narrativ vortragen können. Vor Gericht waren die Angeklagten individualistische Einzelkämpfer. So empfanden es jedenfalls Kritiker.
Im Fadenkreuz der Behörden war nach dem Ableben von Gerhard Kaindl auch eine Gruppe namens „Antifaşist Gençlik“ – der türkische Begriff für „Antifaschistische Jugend“. Ihr haben Jäger mit Dienstmarken eine tragende Rolle vorgeworfen. Mindestens Cengiz U., der Hauptverdächtige, war ein Mitstreiter von „Antifaşist Gençlik“. In dieser Clique verbündeten sich junge Menschen aus Problemvierteln. Andere Gangs waren die „36 Boys“ in Kreuzberg oder die „Black Panther“ im Wedding. Sie waren Pioniere im selbstorganisierten Kampf gegen Rechts – und faszinieren heutzutage die jüngere Generation. Eine gegenwärtige Organisation, die in dieser Erbfolge steht, ist die Migrantifa. Sie spart körperliche Gewalt aus.
Politische Gewalt in den 90ern: Bis heute hallt die Tat nach
Raul Zelik, Schriftsteller und Politikwissenschaftler, geboren 1968, ein Urgestein der linken Szene, hat den Kaindl-Fall in seinem Debütroman „Friss oder stirb trotzdem“ verarbeitet; das authentische Buch erschien Ende der 90er. Ein Gesellschaftstableau, angerichtet mit Fakten und Fiktion. Erzählt aus der Perspektive von migrantischen Kids mit Antifa-Hintergründen. Darin nimmt das Unheil in einem griechischen Gastrobetrieb seinen Lauf: „Die Retter des Abendlandes, kreidebleiche Figuren, stürzen unter den Tisch, japsen nach Luft oder schreien mit überraschend hohen Stimmen um Hilfe, aber wir beginnen einfach zu schlagen, als ob wir eine Arbeit zu erledigen hätten (…)“.
Heute findet der Kaindl-Fall auch ein Echo in Mutmaßungen rund um einen anderen Tatkomplex: der Mord an Burak B. im Süden des Bezirks Neukölln. Der 22-jährige Azubi mit türkischem Migrationshintergrund war in der Nacht zwischen dem 4. und 5. April 2012 an der Rudower Straße erschossen worden – fast genau zwanzig Jahre nach dem Überfall im „Jin Shan“.
Der Mord ist noch immer ungelöst. Angehörige wollen die Theorie nicht ausschließen, dass das Kapitalverbrechen eine Revanche gewesen sein könnte.
Mehr über die linke Szene in Berlin
Ein jährliches Ritual der linken Szene mit großem Medienecho ist die Revolutionäre 1. Mai-Demo, deren Route üblicherweise durch Neukölln und Kreuzberg verläuft. Besonders in Erinnerung geblieben ist der Aufmarsch im Jahr 1987, als der Bolle-Supermarkt gegenüber an der Skalitzer Straße brannte und der Kiez für „bullenfrei“ erklärt worden ist. Überhaupt ist der Stadtteil Kreuzberg schon immer Nährboden für linke Gegenkultur gewesen. Zu einem politischen Skandal kam es, als der 18-jährige Hausbestzer Klaus-Jürgen Rattay im Jahr 1981 während eines Polizeieinsatzes ums Leben kam. Was passiert, wenn die Rechten übernehmen? Arne Semsrott liefert eine Anleitung zum Widerstand. Interessantes aus Berlins Vergangenheit findet ihr in unserer Geschichts-Rubrik. Bewegte Zeiten: Alles zur politischen Lage gibt es in unserer Politik-Rubrik.