Protest

Rebellisches Berlin – Expeditionen in die untergründige Stadt

„Rebellisches Berlin“ beschreibt die Berliner Stadtgeschichte von unten, von der Seite der Kämpfe, der Widerständigkeiten, der Aufstände, der versuchten, kaum jemals geglückten sozialen Revolutionen – schreiben die Herausgeber des gut 800 Seiten schweren Bands im Vorwort. Wenn man so will, ist es ein Pflasterstein aus Papier, ein Wurfgeschoss des linken Kampfes gegen Politik, Hausvermieter, Polizei. Es trägt jenen widerspenstigen Geist Berlins in sich und ist eine wichtige und überaus lesenswerte Materialsammlung und Einordnung der Widerstandsgeschichte dieser Stadt.

Rebellisches Berlin: Räumung der Danckelmannstraße 43-45 am 27. Juni 1983. Foto: Wolfgang Sünderhauf/Umbruch Bildarchiv
Räumung der Danckelmannstraße 43-45 am 27. Juni 1983. Foto: Wolfgang Sünderhauf/Umbruch Bildarchiv

Die Erzählung des Protests beginnt mit einer historischen Zeitleiste. Der erste Eintrag führt zum 15. April 1765, das erste „Berliner Mietedikt“ sollte damals dem Häuser- und Mieterwucher entgegenwirken. Es geht also um den Kampf um Wohn- und Lebensraum und die gegenläufigen Interessen von Mietern und Vermietern. Sie haben eine lange Tradition an der Spree. Schon zur Zeiten der preußischen Könige, lange vor der Gründung des Kaiserreichs, regte sich unter den einfachen Leuten die Stimmung, schwang von Unzufriedenheit in Wut und Protest um. Zuweilen auch in Revolution.

Rebellisches Berlin: Zwangsräumungen im 19. Jahrhundert

Und weiter geht es, von Zwangsräumungen im 19. Jahrhundert, über Mieterstreiks in der Weimarer Republik und den Hausbesetzungen der 1980er-Jahre bis in die Gegenwart zieht sich ein roter Faden hindurch. Nicht selten weht darüber auch die rote Fahne. Eigentlich schwebt über all dem aber die Frage, wem die Stadt gehört. Ist sie Beute und Betongold oder Lebensraum für möglichst viele Menschen, auch jene, die sich nicht viel leisten können?

Doch es sind nicht nur der Häuserkampf, Mietproblematik und Gentrifizierung, die das Herausgeberkollektiv Gruppe Panther & Co. hier interessieren. Die Aufsätze, Interviews und historischen Abrisse kreisen um sehr diverse Themen. Widerstand im Nationalsozialismus und Klimaproteste, Frauen- und Lesben-Kämpfe, LGBTIQ*, Arbeiterbewegung, Jugend-Subkulturen, Autonome Szene, das Eintreten für die Rechte von Menschen mit Behinderungen und von Sexworkern sowie einem langen Segment, das sich Geflüchteten, Antirassismus und Migration widmet. Auch die Teilung der Stadt und die verschiedenen Entwicklungen der Protestkultur auf beiden Seiten der Mauer finden eine ausführliche Erwähnung.

Lärmdemo gegen steigende Mieten und Verdrängung in Kreuzberg. Foto: Christina Palitzsch/Umbruch Bildarchiv
Lärmdemo gegen steigende Mieten und Verdrängung in Kreuzberg. Foto: Christina Palitzsch/Umbruch Bildarchiv

Der Reader zum linken Aktivismus beleuchtet in besonderer Weise jene historischen Epochen, in denen sich das Gefühl der Ungerechtigkeit besonders stark ausprägte und die Geduld der Berliner und Berlinerinnen derart strapazierte, dass sie hinausgingen. Raus auf die Straße, mal mit Transparenten, mal mit Steinen, mal gründeten sie Initiativen, die Druck auf die Politik ausübten, mal verloren sich Bewegungen in diffusen Streitigkeiten. Es gab einige Siege und viele Niederlagen, doch stets einen ungebrochenen Ethos des Protests. Das Bedürfnis, sich nicht unterkriegen zu lassen, sondern sich mit Gleichgesinnten zu organisieren und solidarisch für die Sache, welche es auch jeweils sein mochte, einzutreten. Zivilcourage zeigen.

Es sind diese Kulturen des Widerstands, die in „Rebellisches Berlin“ verhandelt werden. Meist nicht verklärend, selten akademisch und in Theorien verfangen, dafür nah am Leben, mitten aus der Praxis heraus. Die Autorinnen und Autoren sind nicht selten selbst engagiert gewesen oder sie sind es immer noch. Viele Gespräche mit Zeitzeugen und Aktivisten beider Geschlechter kreisen um konkrete Ereignisse, verdeutlichen die Realitäten der Rebellion.

Demo gegen Auslieferung und Imperialismus, West-Berlin, 1980er-Jahre. Foto: Manfred Kraft/Umbruch Bildarchiv
Demo gegen Auslieferung und Imperialismus, West-Berlin, 1980er-Jahre. Foto: Manfred Kraft/Umbruch Bildarchiv

Blättert man durch die locker gelayouteten, mit vielen Fotos, Karten, Infokästen und weiterführenden Internetseiten und Literaturtipps durchsetzten Kapitel, wird einem noch einmal und das mit aller Heftigkeit klar, mit wie viel Mist man sich allein in Berlin herumplagen musste. Und das nur in den Jahren nach der Wende. Räumungen, Enteignungen, Olympia-Bewerbungen, Autobahnverlängerungen, antiquierten Paragraphen, Diskriminierung, Ausbeutung und Abschiebungen, dazu Umwelt- und Finanzskandale, Korruption und Lobbyismus. Die Liste des Elends ist lang. Der lokale Ansatz in „Rebellisches Berlin“ hilft, nicht nur etwas über die Protestgeschichte dieser Stadt und ihre Seele zu erfahren, er komprimiert weltweite Probleme auf eine lokale Ebene und macht sie dadurch greifbar.

Tunten für Sozialismus – Transparent bei einer linken Demo am Kurfürstendamm. Foto: Umbruch Bildarchiv
Tunten für Sozialismus – Transparent bei einer linken Demo am Kurfürstendamm. Foto: Umbruch Bildarchiv

Dass die Textsammlung nicht nur um die Gegenwart kreist, sondern eine historische Dimension erlaubt, verleiht der Publikation eine wichtige Zeitlosigkeit. Aus der Zusammenstellung der Themen und Perspektiven entsteht so eine universelle Erzählung vom Kampf gegen die Ungerechtigkeit. Dabei verzichtet das Buch darauf, agitatorisch zu arbeiten oder sich als ein politisches Manifest zu begreifen. „Rebellisches Berlin“ ist eine wichtige Publikation, die in ihrer Materialfülle auf den ersten Blick überfordernd wirken kann, aber mit etwas Mut zur Lücke, kann man sich je nach eigener Interessenslage, die Berliner Protestgeschichte über die Jahrzehnte und Jahrhunderte hinweg, ziemlich gut selbst erschließen.

Nach dem Text zu Punks in Ostberlin einfach zur Geschichte der Freien Radios und Piratensender springen, dann über den Blutmai 1929 und einem Essay zum sagenumwobenen Anarchisten Erich Mühsam wieder zurück zu Schulstreiks und Protesten am Denkmal für die ermordeten Sinti und Roma Europas kommen. Fragmentarisch fügt sich so ein Gesamtbild zusammen. Schön ist dieses Bild nicht, wichtig es zu sehen, um so mehr. Dabei helfen die „Expeditionen in die untergründige Stadt“.

Rebellisches Berlin Expeditionen in die untergründige Stadt heruasgegeben von der Gruppe Panther & Co., Assoziation A, 840 Seiten, Zahlreiche Fotos, Abb. und Karten, Französische Broschur, 29,80 Euro.

Rebellisches Berlin Expeditionen in die untergründige Stadt heruasgegeben von der Gruppe Panther & Co., Assoziation A, 840 Seiten, Zahlreiche Fotos, Abb. und Karten, Französische Broschur, 29,80 Euro. Das Buch kann man direkt beim Verlag bestellen.


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