Mal verliert man, mal gewinnen die anderen: Schon viele wollten Regierender Bürgermeister werden, haben es aber nicht geschafft. Wir blicken zurück auf die Geschichte der freien Wahlen in Berlin – und auf jene, die es nicht auf den ersten Platz geschafft haben. Wer schickte wen ins Rennen? Wer ist gescheitert? Und woran? Knapp Unterlegene, Chancenlose, fast Vergessene und Skurrile: 12 Berliner Spitzenkandidaten.
Spitzenkandidatin 1999 und 2011: Renate Künast (Grüne)
Marsch durch die Institutionen, war da was? Die Alternative Liste, Vorgängerorganisation der Berliner Grünen, ließ sich von Walter Momper noch zähneknirschend im Tausch für Senatorinnenposten vom Gewaltmonopol des Staates und Berlins Zugehörigkeit zum Bund überzeugen. Und dann wurden sie zahmer und zahmer. Renate Künast schickten sie 1999 als halbe Realo-Kandidatin ins Rennen, da war an Spitzenposten jedoch nicht zu denken.
2011 hieß es „Da müssen wir ran“, Künast wollte Wowereit ablösen. Da galt sie jedoch längst als zu missmutig – und war sich für die Landespolitik sowieso zu fein. Entweder Rotes Rathaus, sonst halt weiter Bundestag, das nahm Berlin ihr übel. „Derart krachend wie Renate Künast hat schon lange keiner mehr einen Vorsprung vergeigt“, war unsere Künast-Bilanz bei der Peinlichen-Kür 2001: 17,6% der Stimmen, hinter Wowereit (okay) und hinter Henkel (das war schon ein Kunststück).
Spitzenkandidat 2011 und 2016: Frank Henkel
Was macht man, wenn man Michael Müller an Charisma nicht überbieten kann? Man sieht Politik als Schlachtfeld und schießt sich auf Law and Order ein. Frank Henkel von der CDU setzte 2016 einiges daran, der falsche Mann zur falschen Zeit zu sein. Im Wahlkampf versprach der Unions-Spitzenkandidat mehr Polizei, mehr Videokameras und mehr gefühlte Sicherheit. Dafür gab es eine historische Schlappe: Seine Partei brachte es auf gerade einmal 17,6% der Stimmen.
Henkel zog Konsequenzen und räumte das Feld für Monika Grütters, die allerdings die Arbeit als Kulturstaatssekretärin der Landespolitik vorzieht. Und auch Plan B ging schief: 2017 verpasste Spitzenkandidat Henkel den Einzug in den Bundestag. Für den harten Hund blieben bloß noch Knochen.
Spitzenkandidaten 2016: KIZ (Die PARTEI)
Um Inhalte ging es der Partei Die PARTEI noch nie, auch wenn sie einst mit dem programmatischen Schwerpunkt, die Mauer wieder aufzubauen, gegründet wurde. Zwischen Konzeptkunst und Bürokratie-Parodie konnten die Menschen in der grauen Parteiuniform von C&A eine durchaus respektable Struktur aufbauen. Auf die Ära Martin Sonneborn, der die Ost-West-Gegensätze in den Vordergrund stellte, folgten 2016 die Rapper von KIZ als Spitzenkandidaten. Auf ihren Wahlkampftouren verteilten Nico Seyfrid und Maxim Drüner XXL-Kondome („Die PARTEI fickt dich richtig“) und versprachen „Korruption, nur billiger“. Konsequent geil auf Macht, immerhin 31.924 Stimmen, aber kein Direktmandat – und mit 2% der Stimmen keinen Sitz im Parlament.
Spitzenkandidat 2001: Frank Steffel
Frank Steffel hatte große Pläne: 2001 wollte der CDU-Politiker Eberhard Diepgen beerben, doch statt würdevoll aufzutreten, stolperte er, wo es nur ging. Das von seiner Agentur lancierte Image als „Kennedy an der Spree“ konnte der damals 35-Jährige nicht einlösen. Der Zustand seiner Partei war ohnehin desolat wegen Spendenaffäre und Bankenskandal, und eigentlich war nicht einmal klar, wo Steffels Loyalitäten lagen: Als schönste Stadt Deutschlands hatte er ausgerechnet München bezeichnet. Besonders in Erinnerung blieb ein Auftritt mit Edmund Stoiber. Steffel wollte Schützenhilfe, aber brauchte eher einen Schutzschild: Als Eier flogen, duckte er sich hinter Stoiber weg. Mal gewinnt man, mal verliert man: Regierender Bürgermeister wurde Steffel nicht. Dafür aber peinlichster Berliner des Jahres 2001.
Spitzenkandidat 1958, 1963 und 1967: Franz Amrehn (CDU)
In West-Berlin hatte die CDU es schwer. Bestes Beispiel: Franz Amrehn (1912–1981). Der Rechtsanwalt und gebürtige Berliner war zwar zeitweise (jedenfalls kommissarisch) Regierender Bürgermeister: Er übernahm 1957 die Amtsgeschäfte des verstorbenen Otto Suhr. Im Jahr darauf musste er sich jedoch gegen den äußerst charismatischen Willy Brandt behaupten – geklappt hat das nie. Beim zweiten Versuch 1963 rutschte die CDU unter Amrehn auf 28,8% der Stimmen, und beim dritten Versuch unterlag er der SPD erneut. Amrehn wechselte nach Bonn.
Spitzenkandidat 2006: Friedbert Pflüger (CDU)
Konservative haben es schwer in Städten, das weiß man von München bis Bremen. Friedbert Pflüger wollte mit der brachialen Art der CDU aufräumen und setzte auf ein intellektuelles Profil. Er war es, der dem damaligen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker ausredete, in dessen berühmter Rede zum 8. Mai 1985 die Begnadigung von Rudolf Heß zu fordern. Und er war einer der wenigen, der Widerworte wagte, wenn der Titan Kohl sich vergaloppierte oder Unsinn redete.
Nutzte alles nichts: 2006 konnte sich Pflüger als CDU-Spitzenkandidat nicht gegen Wowereit durchsetzen, die rot-rote Landesregierung wurde bestätigt. Pflüger verlor 2008 auch den Posten als Fraktionsvorsitzender. Ingo Schmitt, dem auch schon das Wort „Politnutte“ über die Lippen gegangen war, trat die Nachfolge an.
Spitzenkandidat 1971 und 1975: Peter Lorenz (SPD)
Peter Lorenz machte sich schon Ende der 1940er-Jahre für die Gründung der Freien Universität stark. Seine CDU-Karriere führte ihn gleich zweimal an die Spitzenposition der Partei. Er hatte 1971 und 1975 das Ziel, den Regierenden Bürgermeister Klaus Schütz von der SPD zu stürzen. Am 27. Februar 1975, drei Tage vor der Wahl, überfielen Terroristen der „Bewegung 2. Juni“ Lorenz’ Auto und nahmen den Politiker als Geisel.
Schütz musste über das Leben seines Konkurrenten bestimmen. Die Bundesregierung gab den Forderungen nach und tauschte Lorenz gegen verurteilte Mitglieder der „Bewegung 2. Juni“ und der RAF. Am 4. März, zwei Tage nach der Wahl, kehrte Lorenz nach Berlin zurück. Mit 43,9 % der Stimmen lag die CDU zwar vor der SPD, aber hatte die Wahl verloren. Klaus Schütz setzte die sozialliberale Koalition fort.
Spitzenkandidat 1981: Hans-Jochen Vogel (SPD)
Hans-Jochen Vogel (1926–2020) war ein SPD-Schwergewicht – und hat die Berliner Landesregierung sogar kurzzeitig geführt. Nach dem Rücktritt Dietrich Stobbes suchte West-Berlin Hilfe vom Bund. Die kam prompt: Vogel verließ 1981 das Bundeskabinett, um in West-Berlin zu regieren. Erfahrung mit Städten hatte er schließlich, war er doch lange Zeit bereits Oberbürgermeister in München. Ein Volksbegehren zur Auflösung des Abgeordnetenhauses war ohnehin lanciert, also rief Vogel Neuwahlen aus – und verlor als Spitzenkandidat prompt. Nach einem halben Jahr im Amt unterlag er Richard von Weizsäcker. Vogel kehrte in die Bundespolitik zurück und versuchte, Helmut Kohl als Kanzler abzulösen – wie schwierig das wieder und wieder werden würde, konnte ja keiner ahnen.
Spitzenkandidat 1995: Bela B. (KPD/RZ)
Den Spaß im Berliner Wahlkampf hat die PARTEI nicht erfunden. Besonders hervorzuheben und wegen ihrer skurrilen Forderungen schwer zu überbieten: die Kreuzberger Patriotischen Demokraten/Realistisches Zentrum, kurz KPD/RZ. Die 1988 gegründete Truppe forderte unter anderem ein Ausgehverbot für Männer bei Außentemperaturen über 30°C, einen ganzjährig eisfreien Tiefseehafen in Kreuzberg sowie Rotationsprinzip für Straßennamen.
Mit dem Plattenladenbetreiber und Heino-Doppelgänger Norbert Hähnel teilte sich zur Abgeordnetenhauswahl 1995 ein besonderer Punk-Prominenter den Spitzenplatz auf der Liste: Bela B von den Ärzten. Griffiger Slogan: „Was wir versprechen, sind Versprechungen“. Um Eberhard Diepgen in die Opposition zu schicken, reichte das allerdings nicht.
Spitzenkandidat 1985: Hans Apel (SPD)
Für seine Unterstützung des NATO-Doppelbeschlusses wurde er mit Tomaten beworfen, Finanzminister war er schon, und auch im Ressort Verteidigung hatte er gearbeitet. Was also wollte Hans Apel (1932–2011) in Berlin? 1985 trat er als SPD-Spitzenkandidat jedenfalls an, um Eberhard Diepgen zu bezwingen. Das misslang gründlich, der Widersacher war zur Jahrtausendwende immer noch Bürgermeister. Apel hingegen beließ es bei einer SPD-Ehrenmitgliedschaft im Wedding, ansonsten zog sich der SPD-Politiker aus der Stadt zurück. Seine große Liebe galt ohnehin der Hansestadt Hamburg. Ein Aufsichtsratsvorsitzender von St. Pauli als Regierender Bürgermeister? In der Hertha-Fankurve unvorstellbar.
Kein Spitzenkandidat: Raed Saleh (SPD)
Der Mann hat aber auch Pech. Seit 2006 ist er MdA, aber wirklich durchsetzen konnte er sich nie. Der vernetzungsfreudige Spandauer hatte schon 2014 fest damit gerechnet, Wowereits Nachfolge anzutreten. Im Interview sprach Raed Saleh damals mit uns über große Pläne und Umarmungen. In der parteiinternen Abstimmung um den Posten des Super-Sozis landete Saleh auf dem dritten Platz, knapp hinter Jan Stöß, weit abgeschlagen hinter Michael Müller.
Auf dem Weg nach vorn konnte er sich auch 2021 nicht durchsetzen, den SPD-Auftritt prägt Franziska Giffey. Aber Saleh stand sich auch oft genug selbst im Weg. 2020 ließ er sich in einem rumpelnden Gastbeitrag in der „Berliner Zeitung“ über die mangelnde Verfassungstreue von CDU und FDP aus, und bei Kurt Krömer hangelte er sich von einer Floskel zur nächsten: „Spandau ist ein toller Bezirk mit tollen Menschen, mit viel Wald, mit viel Grün und viel Wasser.“ Raed Saleh bleibt der Fraktionsvorsitz. Spitzenkandidatin für das Amt der Regierenden Bürgermeisterin ist Franziska Giffey.
Kein Parteimitglied: Wladimir Kaminer
Kaminer ist Lieblingsrusse der Berliner, unermüdlicher Schriftsteller, Ost-West-Erklärer und Partyveranstalter. Die alternativen Volksbühnen-Weihnachtsfeste sind ohnehin fester Bestandteil des Berliner Kulturlebens. 2005 hielt Kaminer zum ersten Mal seine Füße ins kalte Wasser der Landespolitik – indem er sich selbst als Kandidat für das Amt des Regierenden ins Gespräch brachte. Und er meinte es durchaus ernst, wie er in zahlreichen Interviews bekräftigte. Der „Morgenpost“ verriet er, er wolle ein „Bürger-Bürgermeister“ sein, also einer, der mit Polit-Profis und dem Zynismus nichts zu tun hat.
Warum ist er’s nie geworden? Es lag weder an schlechten Umfragewerten noch an Skandalen, sondern am ersten Schritt. Kaminer hat die Russendisko immer den Parteikadern vorgezogen – aber ganz ohne politische Hausmacht wird es nichts. Auf Kaminers Kandidatur warten wir bis heute.
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