Fotografie

Ulrich Wüst – Stadtbilder 1979–1985: Zwischen Kunst und Dokumentation

In den 1970er-Jahren begann der Ost-Berliner Fotograf Ulrich Wüst, den Zustand der Städte in der DDR zu dokumentieren. Mit präzisen Schwarz-Weiß-Aufnahmen schuf er einen visuellen Kommentar zur realsozialistischen Wirklichkeit im SED-Staat. Der bei Hartmann Books erschienene Fotoband „Ulrich Wüst – Stadtbilder 1979–1985“ versammelt die wichtigste Werkserie des 2017 bei der documenta 14 gewürdigten Fotokünstlers.

Alexanderplatz, Berlin, 1982 aus „Ulrich Wüst – Stadtbilder 1979–1985“ © Ulrich Wüst

Ulrich Wüsts Fotos sind „Abbilder geistig-räumlicher Situationen“

In jeder Stadt existieren Orte, die tausendfach fotografiert wurden. Von Touristen, Amateuren und Profis. Immer wieder aufs Papier oder die digitale Matrize gebannt. Big Ben, Eiffelturm, der Alexanderplatz im Herzen Berlins. Tausendfache, gar millionenfache Blicke auf die prägnanten Symbole einer Metropole, die das Wesen der Stadt einfangen wollen. Von solchen direkten Konzepten war Ulrich Wüst weit entfernt. Sein Blick auf den Alexanderplatz ist fast scheu, eher eine vorsichtige Annäherung, und doch bekommt er den Ort zu fassen. Um Berlin geht es aber nicht in erster Linie. Wüsts Stadtbilder sind weniger Untersuchungen konkreter Städte als vielmehr „Abbilder geistig-räumlicher Situationen“, wie der Kunsthistoriker und Rektor der Dresdner Hochschule für Bildende Künste Matthias Flügge in seinem aufschlussreichen Text zum Fotoband „Ulrich Wüst – Stadtbilder 1979–1985“ feststellt.

Liest man Flügges Text, wird einmal mehr klar, dass ein Bild nicht einfach nur ein Bild ist und das es mehr bedarf als einer flüchtigen Betrachtung, gerade bei einem Sujet wie dem Stadtbild. Denn man könnte leicht zu dem Schluss kommen, das vorliegende Motiv sofort zu begreifen, schließlich ist man selbst Stadtbewohner und sich seines Habitats bewusst. Doch eine Fotografie ist auch ein Ausgangspunkt für tiefergehende Reflexionen. Wüsts Aufnahmen von Plattenbauten in Ost-Berlin, Leerstand in Magdeburg, dem zentralen Platz in der Karl-Marx-Stadt sind keine ungesehenen Motive. Viel mehr sind sie allzu gut bekannt. Allen, die in der DDR der 1970er- und 1980er-Jahre lebten, aber selbst Nachgeborenen oder im Westen Sozialisierten dürften solche urbanen Konstellation nicht fremd sein.

Was macht Wüsts Fotografie also so einzigartig? Zwischen 1979 und 1985 entstanden mehrere Dutzend Bilder, eher beiläufig und spontan und nicht als konzeptuell angelegte Serie. Und doch fügen sie sich zu einer Art visuellem Essay, ohne direkten Bezug aufeinander zu nehmen. „Den Status quo der gebauten, geformten, gedruckten oder sonst wie produzierten gegenständlichen Welt mit allen ihren Spuren, Verletzungen, Fehl- und Leerstellen im Bild feststellen, auf dass die Dinge von sich selbst zu sprechen beginnen“, ist das, was Wüst tue, schreibt Flügge. Bevor sich Wüst, Jahrgang 1949, der Fotografie zuwandte und in die Hauptstadt der DDR, nach Ost-Berlin zog, studierte er in Weimar Architektur und Bauwesen und arbeitete anschließend als Stadtplaner.

Berlin, 1982 aus „Ulrich Wüst – Stadtbilder 1979–1985“ © Ulrich Wüst

Klarheit und kompositorische Eleganz

Es mag also auch beruflich bedingte Disposition gewesen sein, die ihn dazu verleitete, der DDR-Stadt besondere Aufmerksamkeit zu schenken. Schließlich war er vom Fach. Wüst war ein Experte auf dem Feld des Stadtbaus, er wusste sehr genau, was er da fotografierte. Inmitten der „bleiernen Zeit“ der DDR, einer Ära kurz vor dem Zusammenbruch, in der sich kaum etwas zu bewegen schien. Mitte der 1970er- bis Mitte der 1980er-Jahre. Längst hat sich der Städte- und Wohnungsbau von den verheißungsvollen Idealen einer besseren, weil sozialistischen, Versprechung verabschiedet. Die Realität war pragmatisch und gnadenlos. Maroder Altbau und verfallende Substanz auf der einen und serieller Plattenbau auf der anderen Seite.

So sind Wüsts Bilder, die in ihrer Klarheit und kompositorischen Eleganz zuweilen eine eigentümliche Ironie entwickeln, durchaus auch als politische Statements zu begreifen. „Sie betrieben auf eine in der DDR ungewohnte Weise Spurensuche als Vergewisserung des real empfundenen Zustands der Gegenwart“, schreibt Flügge über den Fotografen, der exakt wusste, was er finden und festhalten wollte. Schon das Abbilden der Realität konnte im Arbeiter- und Bauernstaat als subversiv gelten. Dinge zu zeigen, wie sie waren, gehörte sich nicht. Man sollte eher die Dinge so zeigen, wie sie sein sollten

Doch Wüst hielt sich auch fern von plumper Kritik, er hielt sich fern vom Trubel, lieber entlarvte er die Stupidität der Architektur, indem er sie dokumentierte. Damit erlangten seine Arbeiten eine politische Dimension über die Form- und Sozialkritik hinaus. Seine Kunst war die Perspektive und die Wahl des Bildausschnitts, das, was man lapidar als „gutes Auge haben“ bezeichnet. Mit geschultem Blick suchte und fand er seine Motive, wie etwa die drei windschief wirkenden Häuschen in Freiberg, die er 1982 ablichtete. Durch „die Begrenzung des Bildausschnitts zwingt er die Realität zu eigener Formulierung“, resümiert Flügge.

Freiberg, 1982 aus „Ulrich Wüst – Stadtbilder 1979–1985“ © Ulrich Wüst

Die verschiedenen historischen Epochen fügen sich in seinen Bildern aneinander. Relikte aus der Vorkriegszeit, oft Ruinen, daneben die stolzen Beispiele der Ostmoderne aus der Nachkriegszeit, und schließlich die billig und schnell gebaute Architektur der damaligen Gegenwart. Wichtig sind diese Aufnahmen heute noch, und das nicht nur für Architekturhistoriker und Fotografiekenner. Wüsts Bilder der DDR-Stadt sind visuelle Befunde über die Verfassung ihrer Bewohner, auch wenn die Menschen auf ihnen abwesend sind. Flügge zitiert in seinem Text aus Alexander Mitscherlichs Buch „Die Unwirtlichkeit unserer Städte. Anstiftung zum Unfrieden“, in dem der Arzt, Psychoanalytiker und Schriftsteller bereits 1965 die westdeutsche Stadt untersuchte: „Rückläufig schafft diese Stadtgestalt am Charakter der Bewohner mit“. In seinem Buch schöpfte Mitscherlich die Hoffnung, die Stadt würde einmal zum „Biotop für freie Menschen“ werden. Ganz so kam es nicht, ganz falsch lag Mitscherlich damit in gewisser Weise aber auch nicht. Schon bald sollte die DDR verschwinden und mit ihr die DDR-Stadt.


Fotogalerie: „Ulrich Wüst – Stadtbilder 1979–1985“

Karl-Marx-Stadt, 1984 © Ulrich Wüst

Magdeburg, 1981 © Ulrich Wüst

Magdeburg, 1982 aus "Ulrich Wüst – Stadtbilder 1979–1985" © Ulrich Wüst
Magdeburg, 1982 aus © Ulrich Wüst

Alter Krug aus "Ulrich Wüst – Stadtbilder 1979–1985" © Ulrich Wüst
Alter Krug © Ulrich Wüst

Aus "Ulrich Wüst – Stadtbilder 1979–1985" © Ulrich Wüst
Stadtbilder 1979–1985 © Ulrich Wüst

Leipzig aus "Ulrich Wüst – Stadtbilder 1979–1985" © Ulrich Wüst
Leipzig © Ulrich Wüst

Ulrich Wüst – Stadtbilder 1979–1985 Hartmann Books, 158 Seiten, 105 Duplex Abb. Text von Matthias Flügge, Interview von Katia Reich mit Ulrich Wüst, Deutsch/Englisch, Design: Florian Lamm, Berlin, Hardcover mit Schriftprägung und amerikanischem Schutzumschlag (mit allen Abbildungen in der Reihenfolge des Buches), 40 Euro


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