Ost-West-Geschichte

West-Berliner im DDR-Urlaub: So waren die Ferien beim Systemfeind

Simson fahren, Diesel von der LPG klauen und „Bravo“-Hefte schmuggeln: In den 1970er-Jahren gehörte Urlaub in der DDR für manche West-Berliner zum Sommer wie Eis und Seeausflüge. Zwei Transit-Erprobte erinnern sich, wie es sich anfühlte, als West-Berliner im DDR-Urlaub Ferien beim Systemfeind zu machen.

West-Berliner im DDR-Urlaub: Natalie Moritz mit ihrem Cousin Heiko, Luftdruckgewehr und gerupften Tauben. Foto: privat
West-Berliner im DDR-Urlaub: Natalie Moritz mit ihrem Cousin Heiko, Luftdruckgewehr und gerupften Tauben. Foto: privat

Andreas war der Held ihrer Kindheit. Ein zupackender Junge vom Land, Typ großer Bruder und Tunichtgut, der einem kleine und mittelgroße Illegalitäten beibrachte. Zum Beispiel, wie man mit Hilfe eines Schlauchs einen Tankinhalt ansaugt, um Diesel zu klauen. Mit Andreas und Heiko, ihren Cousins zweiten oder dritten Grades, verbrachte Natalie Moritz die Sommer, wenn sie in den 70er-Jahren zu Besuch bei ihrer Oma auf dem Land war. Die Kinder schliefen gemeinsam auf dem Heuboden, lasen die „Digedags“, fingen heimlich Fische, ­fuhren mit der Simson zum Eisessen – und illegalerweise Trecker. Als Zehnjährige saß Natalie Moritz unter Aufsicht ihrer Ferienbrüder hinterm Steuer und ruckelte über den Acker.

Diese schönen, gesetzlosen Sommer, ihre Wochen der „Anarchie in Büllerbü“, wie sie heute sagt, erlebte sie ausgerechnet in einem Land, das kaum einer mit Laissez-faire verbindet: in der DDR. Den Diesel stahlen sie und Andreas nachts von einem Trecker, der auf dem Feld abgestellt war, der Ort mit dem besten Eis war das brandenburgische Pretschen, zum Knüppel-Kaufen fuhr sie mit dem Rad nach Schlepzig. Natalie Moritz und ihr Bruder aus West-Berlin, Stadtteil Mariendorf, machten Urlaub beim Systemfeind.

„Seit dem Inkrafttreten des Berlin-Abkommens sind die Westberliner den Bewohnern der Bundesrepublik um eine Nasenlänge voraus“, schrieb die Wochenzeitung „ZEIT“ im September 1972. „Während Bundesbürger nach wie vor nur zu Verwandtenbesuchen und zur Leipziger Messe in die DDR einreisen können, fahren die Berliner jetzt auch als Touristen in den anderen Teil Deutschlands.“

West-Berliner im DDR-Urlaub: Willy Brandt machte es möglich

BRD und DDR, Anfang der 70er-Jahre: Willy Brandts Ostpolitik hatte die Beziehungen zwischen den beiden deutschen Staaten entspannt. Das Transitabkommen von 1971 erleichterte den Reiseverkehr zwischen BRD und West-Berlin – was aber nicht bedeutete, dass eine Tour über die Transitautobahnen eine Fahrt wie jede andere war.

Westler auf Durchreise durften nicht von der vorgesehenen Route abweichen, mit völlig willkürlichen Kontrollen durch die Volkspolizei mussten die Reisenden jederzeit rechnen. An den Raststätten, an denen Ost- wie Westdeutsche stoppten, trank auch die Stasi ihren Kaffee. Die ruckeligen Betonplattenautobahnen der DDR wurden zu berüchtigten, mit Mythen und Hoffnungen beladenen Straßen ins Ungewisse: Bereits in der allerersten „Tatort“-Folge „Taxi nach Leipzig“, die schon 1970 ausgestrahlt wurde, war ein Leichenfund an der Transitautobahn nahe Leipzig Dreh- und Angelpunkt des hochpolitischen Plots. Fahrten in und durch die DDR waren möglich, aber nervenaufreibend.

Allein die Bewohnerinnen von West-Berlin, der Insel mit Sonderstatus, die juristisch kein Teil der BRD war, hatten ein leichteres Leben beim Reisen. Das Viermächteabkommen über Berlin, das 1971 unterzeichnet wurde, und der Verkehrsvertrag von 1972 erlaubten es West-Berlinerinnen, Verwandte und Bekannte in Ost-Berlin und der gesamten DDR zu besuchen – wenn sie den „Berechtigungsschein zum Empfang eines Visums in der DDR“ hatten. Mit so einem „Passierschein“ konnten West-Berliner*innen schon zeitweise in den 60ern, als Willy Brandt noch Bürgermeister war, in den Ostteil der Stadt reisen.

FKK und Kittelschürzen

Knapp zehn Jahre später warteten Natalie Moritz, heute Chefin vom Dienst beim tipBerlin, und ihre Familie an einer der fünf Passierscheinstellen – zum Beispiel in der Jebensstraße – auf den Wisch, der ihr eine neue, wenn auch streng begrenzte Welt ­eröffnete: „Plötzlich hatte ich eine Oma“, sagt Moritz. Die Familie ihrer Mutter, die aus Krausnick im Spreewald kommt, hatte sie noch nie gesehen, bis sie 1972 zum ersten Mal nach Brandenburg aufbrach.

Nachdem sie sich vor Reiseantritt den Passierschein gesichert hatte, fuhr die Familie zum Grenzübergang an der Friedrichstraße, von dort aus weiter nach Königs Wusterhausen und dann mit der Dampflok bis nach Schönwalde.

Als Kind, erzählt Moritz, habe sie die Unterschiede zwischen ihrem Eltern- und Großelternhaus, zwischen den verfeindeten Staaten, nicht unbedingt als West-Ost-Gefälle erlebt, sondern eher als Differenz zwischen Stadt und Land. Sie erinnert sich an die hölzernen Stromüberlandleitungen mit den Keramikisolatoren, die tägliche „Lausitzer Rundschau“ und die frische Milch in Pfandflaschen, in denen unter dem Alu­deckel ­dicke Sahne obenauf schwamm. Frauen trugen Kittelschürzen aus Dederon, gekocht wurde, was der Gemüsegarten hergab, und „Recycling“ hieß „Wertstoffsammlung“.

Als verrottet oder kaputt – zwei Attribute, mit denen viele Westdeutsche die DDR verbanden – habe sie Brandenburg aber nie wahrgenommen. Moritz fütterte die Kälbchen, Schweine und Hühner und war fasziniert von dem dicken Tonkrug, in dem ihre Oma die Spreewaldgurken einlegte – „und von den vielen Nacktbadern“, sagt sie. Die ostdeutsche FKK-Kultur fand sie als Stadtkind aus dem Westen befremdlich.

Mitte der 70er: Natalie Moritz mit Cousin Heiko vor dem Haus der Oma. Foto: Privat

Einmal, erzählt sie, stand sie mit einem Sweatshirt ihres Steglitzer Gymnasiums in einer LPG in Gröditsch, als irgendjemand sie fragte: Das ist doch ’n Bezirk in West-Berlin? Nee, habe sie da selbstbewusst geflunkert. Das sei ein Ort in der Schorfheide – der in Wirklichkeit Stegelitz heißt. „Ich hatte schon im Hinterkopf, dass man in der DDR vorsichtig sein muss und nicht alles erzählen darf“, sagt sie. „Aber vor allem hatte ich eher kindlich-naive Fragen zu Brandenburg, die das Landleben betrafen.“

Den Systemunterschied habe sie nicht so stark gespürt, dabei war der Vater ihrer Cousins sogar LPG-Vorsitzender. „Er muss also in der SED gewesen sein. Ich habe mich immer gewundert, dass wir uns so frei bewegen konnten und es keinen Ärger für sie gab, weil sie Westbesuch empfangen haben.“ Ihr Cousin habe ihr kürzlich erzählt, dass sie auf Fragen von Nachbarn antworteten, sie seien Besuch einer Tante. Polizeilich waren sie bei ihrer Oma gemeldet, die einige Dörfer weiter lebte.

Schlimmer Kaffee, super Brötchen

Eine andere Geschichte kann die gebürtige West-Berlinerin Ulrike Storp erzählen. Die heute 52-Jährige arbeitet als Physiotherapeutin in Schöneberg und besuchte als Kind oft ihre Verwandtschaft in Neuruppin oder Bernau. Einmal seien sie zu Besuch bei ihrem Onkel gewesen, die Cousine hatte ihren Freund mitgebracht. Die Familie saß bei Kaffee und Kuchen zusammen, als Storps Eltern etwas über eine Fernreise berichteten.

Plötzlich sprang der Freund der Cousine auf und rannte aus dem Zimmer. „Er war bei der NVA“, sagt Storp. „Meine Cousine hatte völlig vergessen, ihm zu erzählen, dass wir Besucher aus der BRD sind. Er durfte aber absolut keinen Westkontakt haben. Wenn das rausgekommen wäre, hätte er echt Probleme gekriegt.“

Es war der wahrscheinlich größte Irritationsmoment in ihrer DDR-Reisehistorie. „Als Kind erlebt man viele Einschränkungen und Besonderheiten eher als Abenteuer“, sagt sie. Zum Beispiel die lange Schlange am Eisgeschäft. Die Blicke der andere, wenn Storp mit ihren Westklamotten durch die Brandenburgische Provinz spazierte. Den kleinen Nervenkitzel, wenn sie Bravo-Hefte für ihre Cousine schmuggelten. Den schlechten Kaffee, den ihre Familie so ungern trank, dass sie lieber eigenen mitbrachte – wohingegen die Brötchen in der DDR ­unschlagbar gewesen seien. Oder die Läden für die russischen Offiziere am Sow­jet-Militärstandort Neuruppin, wo die Verkäufer mit einem altertümlichen Abakus rechneten.

Überforderte Grenzer

Unfrei habe sie sich auf Ost-Besuch nicht gefühlt. Wenn man in ein Gasthaus kam und sich als Westdeutsche zu erkennen gab, sagt Storp, durfte man allerdings schon mal extra lange auf sein Essen warten – auch, wenn nicht alle Plätze im Lokal belegt waren.

An der Grenze erlebte sie eher unterhaltsame Zwischenfälle als echte Schikane, erzählt sie. Einmal wollte sie einen Korn­blumenstrauß aus der DDR ausführen. „Das hat die Grenzbeamten überfordert, weil wir die Blumen weder geschenkt bekommen noch gekauft hatten“, sagt sie. „So ein Fall war auf ihrer Liste nicht vorgesehen.“

Ulrike Storps Ferienparadies am Neuruppiner See. Foto: privat

Auch Natalie Moritz sei während der ­Familienurlaube nie besonders streng durchsucht worden, erzählt sie. Das änderte sich, als sie mit der Religions-AG ihrer Schule eine Kirchengemeinde in Berlin-Karlshorst besuchte und Katja kennenlernte, eine Ost-Berlinerin in ihrem Alter. Plötzlich fand auch Moritz, mittlerweile Teenager und 16 Jahre alt, sich im Tränenpalast wieder, wie sie sich bei einer Durchsuchung vor den Vertretern des zunehmend nervöser werdenden Staats gefühlt bis auf die Unterhose ausziehen musste. Kontaktschuld, oder eher: Kontaktverdacht. Mit diesem Erlebnis endete Anfang der 80er-Jahre die Zeit der regelmäßigen, unbeschwerten Reisen nach Brandenburg.

Für viele andere, ob aus DDR oder BRD, waren Grenzkontrollen nicht nur lästig, sondern auch tödlich. Nach Angaben des Berliner Mauermuseums sind an der inner­deutschen Grenze etwa 350 Menschen infolge von Kon­trollen verstorben, angeblich an stressbedingten Herzinfarkten. Die Dunkelziffer dürfte noch höher liegen.

West-Berliner im DDR-Urlaub: Begeistert vom Zonen-Landleben

Geschichten wie die von Ulrike Storp oder Natalie Moritz, die von verhältnismäßig unkomplizierten Reisen zwischen den beiden deutschen Staaten erzählen, durften nicht alle erleben. Moritz und Storp haben heute ein anderes Bild – oder vielmehr: andere Bilder – von der DDR im Kopf als viele West-Berliner. Und waren vom Zonen-Landleben begeisterter als manche Verwandte schließlich vom Westen, wie Ulrike Storp erzählt: „Mein Onkel war nach der Wende total enttäuscht, dass man die Mon-Chéri- Pralinen, die wir ihm im Sommer immer mitgebracht hatten, in jedem Supermarkt kaufen konnte.“

Natalie Moritz’ Mutter, die gebürtige Krausnickerin, lebt mittlerweile auf den ­Kanaren. Bei ihrem letzten Telefonat erzählte sie ihr eine Geschichte von ihrem Cousin aus der Schorfheide: Einmal sei er mit Unmengen an Aalen nach Hause gekommen. Auf die Frage, wie er zu denen gekommen sei, sagte er nur: „Drei Minuten Angst“. Er hatte Honeckers Staatsreusen geplündert.


Mehr Ausflüge ins Umland

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