Die neuen Corona-Maßnahmen sind beschlossen: Schulen dicht, Geschäfte schließen, kein Alkohol in der Öffentlichkeit – aber eine Homeoffice-Pflicht für alle, die zuhause arbeiten könnten, gibt es immer noch nicht. Zugespitzt: das Glühwein-Verbot soll es richten. Da bleibt die Frage: Wen sollen diese Maßnahmen schützen? Ein Kommentar von Aida Baghernejad
Knapp mehr als ein Jahr ist es nun her, seit die Pandemie in China ihren Anfang nahm. Mehr oder weniger – so genau weiß es ja immer noch niemand. Und wer hätte gedacht, wie sehr so ein Virus unser aller Leben auf den Kopf stellen würde, weltweit.
Als Deutschland im Frühjahr in seinen ersten Teil-Lockdown ging – denn es nahm hierzulande ja nie die Ausmaße wie in Frankreich, Spanien oder eben Taiwan an, um nur mal Demokratien aufzuzählen –, konnte man uns ja noch zu Gute halten: Es hatte uns kalt erwischt.
Glühwein-Verbot: Schulen können von W-Lan nur träumen
Ja, Deutschland hinkt seit Jahren hinterher, was den Breitbandausbau angeht, Schulen konnten von W-Lan nur träumen und Konzepte wie Homeoffice waren in diesem Land, in dem die klassische, aber immer seltener werdende Festanstellung als „Normarbeitsverhältnis“ hochgehalten wird, noch neu.
Wir haben uns aber irgendwie zusammengerauft und uns in den Sommer gerettet. Nur um uns dann überheblich als Corona-Musterland zu feiern, statt vermeintliche „Querdenker“ in den Griff zu kriegen und uns auf die von Virolog*innen vorausgesagte zweite Welle vorzubereiten.
Monate gingen ins Land, in denen man etwa Milliarden hätte investieren können, um Schulen zukunftsfähig und vor allem: pandemieresilient zu organisieren. Und wenn’s nur endlich Internetanschlüsse gewesen wären. Schließlich lehren uns selbst die konservativsten Volkswirtschaftler: Investitionen in Bildung sind nie, nie herausgeschmissenes Geld.
Doch nein, stattdessen wurde Lufthansa gerettet und viel Lebenszeit damit verbracht, Verständnis für Corona-Leugner*innen entgegenzubringen – diverse Ministerpräsidenten in Ostdeutschland waren da besonders ambitioniert unterwegs.
Spaßverbot statt Lösungen
Nun ist die zweite Welle, wie schon prognostiziert, da und plötzlich stehen wir vor den selben Problemen wie schon Anfang des Jahres: In den Schulen gibt es kein W-Lan und kein Konzept für digitalen oder hybriden Unterricht, von der Betreuung von Kindern jüngeren Alters ganz zu schweigen. Statt Lösungen zu präsentieren, wird die Verantwortung auf die Familien abgewälzt. Denn klar ist nur eines: die Wirtschaft, die muss weiterlaufen. Museen, Kinos, Theater, all die Kulturorte mit Hygienekonzept sind seit Anfang November dicht, die Gastronomie auf Minimalniveau heruntergefahren, der letzte Spaß, Glühweinstände, werden allenthalben fast schon kriminalisiert.
Nicht, dass wir uns missverstehen: Pulkbildung und volle Gehsteige sind eine schlechte Idee, und die Schließung von Weihnachtsmärkten dieses Jahr war notwendig. Aber wie kann man Glühwein mit „Abstand und Anstand“ kriminalisieren, während auch in der aktuellsten Verordnung Arbeitgeber*innen nur freundlich gebeten werden, Homeoffice doch bitte, bitte zu ermöglichen, statt sie endlich dazu zu zwingen? Wo doch klar ist, dass die Wahrscheinlichkeit, sich an der frischen Luft anzustecken, so viel geringer ist als in geschlossenen Räumen?
Glühwein-Verbot statt Homeoffice-Pflicht: das Primat der Wirtschaft
Denn die Realität ist ja eben die: Viel zu viele Arbeitgeber*innen verbieten ihren Angestellten immer noch, zuhause zu bleiben. Und so sind viele Berliner*innen gezwungen, täglich in vollen Bahnen in volle Büros zu fahren, wo sie sich voll anstecken können – und oftmals auch tun. Aber problematisiert wird dann der Glühweinstand, an dem man abends vorbeispaziert, um wenigstens noch irgendetwas zu erleben, um wenigstens zwischen Arbeit und Netflix auf dem Sofa fünf Minuten Freund*innen zu sehen, den Kopf freizukriegen, nicht produktiv sein zu müssen.
Die letzten Monate haben es eindeutig gezeigt: die Gesundheit der Bevölkerung – physisch wie psychisch – steht hinten an, wenn es darum geht, die Wirtschaft zu schützen. Da bekommt sogar die Autoindustrie, deren Geschäft durch Corona kaum beeinflusst wurde, eher Förderung als dass wirklich relevante, sichtbare, überlebenswichtige Investitionen den Kulturbetrieb, Freiberufler*innen, die Gastronomie oder den für unser langfristiges Überleben wichtigen Bildungsbereich erreichen.
Dabei ist es doch eigentlich ganz einfach: Die Wirtschaft, das sind immer noch wir. Und sie sollte uns dienen statt umgekehrt. Es wird Zeit, das System vom Kopf auf die Füße zu stellen – denn wem bringen fleißige Arbeitsbienchen etwas, wenn sie krank sind?
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