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Lieferdienst-Krieg: Was Berlin noch erwartet – und wie es den Fahrern geht

Im Lockdown haben sich einige Wirtschaftszweige massiv entwickelt. Die Berliner Tech-Lieferbranche – Dinge per App bestellen – füllt die Straßen der Stadt mit Massen an Fahrradkurieren, die meisten von ihnen Expats, die auf befristete Verträge und flexible Arbeitszeiten aus sind. Vor den aufsehenerregenden Streiks bei Gorillas Anfang Juni haben wir uns mit einigen Angestellten unterhalten, die diese boomende Branche mit ihren hohen Einsätzen am Laufen halten. Von Andrea Birmingham.

Gorillas wurde zum Top-Lieferanten in Berlin. Nach nur kurzer Zeit hat sich das Liefergeschäft in Deutschland ausgebreitet. Foto: Imago/Michael Gstettenbauer

Gorillas: Nie weiter als zehn Minuten von der Basis

Arjun kommt fünf Minuten früher, um 15:25 Uhr, zu seiner Abendschicht im Gorillas-Hauptlager in der Torstraße in Mitte. Er meldet sich per App an, begrüßt seine Kollegen, setzt dann seine Maske auf und geht hinein, um von seinem Vorgesetzten einen Schlüssel für eines der schnittigen, schwarzen E-Bikes vor der Tür zu erhalten. Er checkt das Rad, schnappt sich einen Helm und wählt eine Pausenzeit auf einem Anmeldebogen – damit ist er bereit, seinen ersten Auftrag anzunehmen. Die nächsten siebeneinhalb Stunden verbringt er mit seinen Kollegen im Lagerhaus, wenn er einen Auftrag bekommt, dann cruist er durch die umliegenden Straßen und entfernt sich nie weiter als zehn Minuten von seiner Basis.

Gorillas ist das neue Kind in der Liefer-Branche. Im vergangenen Jahr hat sich das Berliner Start-up von einem einzigen Lager in der Danziger Straße in Prenzlauer Berg auf 14 verschiedene Gebiete in Berlin und 75 bundesweit sowie in Großstädten in den Niederlanden, Großbritannien und Frankreich ausgebreitet. Mit Ein-Jahres-Verträgen und stylischer schwarzer Kleidung für seine 1000-köpfige „Rider-Crew“ hebt sich der Newcomer von anderen App-Firmen ab. Sein Image steht ganz im Zeichen der Geschwindigkeit, mit dem erklärten Ziel, Lebensmittel „zu Einzelhandelspreisen“ innerhalb von 10 Minuten nach der Bestellung an die Kunden auszuliefern. Das Unternehmen zahlt seinen Mitarbeitern 10,50 Euro pro Stunde und lässt sie nach der Schicht kostenlos Obst und Gemüse mitnehmen, das nicht mehr verkauft werden kann.

„Es ist wirklich so cool da draußen, ich habe eine tolle Zeit“, sagt Arjun über die 20 Stunden pro Woche, die er am Standort Mitte verbringt. Der aus Indien stammende Student begann seine Kurierkarriere bei Wolt, dem finnischen Lieferservice für Take-aways, der im August 2020 in Berlin startete. Wolt ist von seinem Start in Helsinki im Jahr 2014 bis heute in mehr als 170 Städten in 23 Ländern aktiv und beschäftigt 40.000 „Kurierpartner“. Das Unternehmen bietet seinen Mitarbeiter:innen einen kürzeren Vertrag als Gorillas, sechs Monate, mit einem Basis-Stundensatz von 10 Euro – der durch ein Bonussystem steigen kann. Dieses basiert darauf, wie viele Aufträge man erledigt und wie weit man fährt. Nach Angaben des Unternehmens verdienen seine Kuriere im Durchschnitt zwischen 12 und 15 Euro pro Stunde.

Gorillas-Mitarbeitende: Findet eure Crew

Auch wenn das Geld bei Wolt höher war, zieht Arjun Gorillas deutlich vor. Bei Wolt mietete er sein E-Bike für 79 Euro im Monat von einer externen Firma. Er verbrachte viel Zeit damit, alleine draußen zu warten, und sein einziger Kontakt mit seinem Vorgesetzten war über eine App auf seinem Telefon. Bei Gorillas trifft er sich mit anderen Fahrer:innen in einem überdachten Gemeinschaftsbereich mit Tee, Kaffee und Snacks.

Der Lebensmittel-Lieferdienst Gorillas hat sich auf einen Markt begeben, der von Streitigkeiten und Gewerkschaftskämpfen geprägt ist. Foto: Gorillas

„Sie sind keine Kollegen, sie sind wie meine Freunde“, sagt er über die gleichgesinnten, jungen Internationalen, die mit ihm arbeiten und von denen viele, wie er sagt, aus Südamerika kommen. „Wir verständigen uns auf Englisch, aber um ehrlich zu sein, sollte ich Spanisch lernen“, sagt der Jura- und Politikstudent, der sein Gorillas-T-Shirt trägt, obwohl er keine Schicht hat. „Es sieht einfach cool aus, deshalb trage ich es immer.“ Als er von den sozialen Vorteilen des Jobs spricht, zeigt er ein Video auf seinem Handy von einer Geburtstagsfeier für seinen Gorillas-Kollegen Carlos, mit lauter Musik und einer großen Auswahl an Snacks und Getränken. „Ich schwöre, Mann, selbst wenn es kein Geld gäbe, würde ich hingehen“, sagt er fröhlich. „Es ist wie mein Zuhause!“

Während sich verschiedene Arbeitgeber um die Pedale drängeln, stellt sich Gorillas gerne als die coolste Liefer-App dar, für die man arbeiten kann. Der On-Demand-Lebensmitteldienst stellt seine Fahrer:innen „in den Mittelpunkt unseres Handelns“, heißt es in seinem Manifest, das mit Schlagwörtern wie „Gemeinschaft“ und „Vielfalt“ gespickt ist und sogar zur Verwendung des Hashtags „#riderpride“ auffordert. Gorillas bietet gelegentlich Boni an, wie zu Weihnachten oder nachdem es Ende März den Status eines „Einhorn“-Startups erlangte, indem es in seiner zweiten Finanzierungsrunde 245 Millionen Euro einnahm, was zu einer Milliarden-Dollar-Börsenbewertung führte.

Der steiler Aufstieg von Gorillas in einer boomenden, aber schwierigen Branche

Die Mitarbeiter:innen von Liefer-Apps haben es nicht immer leicht. Gorillas hat sich in einen Markt begeben, der von Streitigkeiten und Gewerkschaftskämpfen geprägt ist. Die Spannungen in der boomenden Branche kochten während des extremen Kälteeinbruchs im Februar in Berlin über, als bis zu 20 Zentimeter Schnee den Boden bedeckten und die Temperaturen weit unter dem Gefrierpunkt lagen.

Lieferando ist einer der beliebtesten Essenslieferdienste in Berlin. Foto: Imago/Stefan Zeitz

Die Mitarbeiter:innen von Lieferando, einem Unternehmen in niederländischem Besitz, das 2009 in Berlin an den Start ging und als Teil des Just Eat/Takeaway.com-Konglomerats mittlerweile den deutschen Markt dominiert, wurden von ihrem Betriebsrat, einem geschützten Gremium von Mitarbeitenden, die gewählt wurden, um ihre Kollegen und Kolleginnen auf Unternehmensebene zu vertreten, angewiesen, sich zu melden und mitzuteilen, dass sie sich bei der Arbeit unsicher fühlen. Daraufhin wurde der Betrieb der Takeaway-Liefer-App in der Stadt für drei Tage eingestellt. Lieferando erkennt nun das Recht seiner Mitarbeiter:innen an, selbst zu bestimmen, ob sie sich bei der Arbeit sicher fühlen, heißt es in einer Erklärung des Unternehmens zu seinen Beschäftigungspraktiken.

In der gleichen Erklärung behauptete Lieferando, gegen die Einstellung von „Gigworkern“, also unabhängigen Auftragnehmer:innen, zu sein. Das Unternehmen bietet seinen 10.000 „Fahrern“ international ein „umfassendes“ Paket als Teil eines „Beschäftigungsmodells, das Standards in der Branche setzt“. Die Mitarbeitenden erhalten einen ähnlichen Sechs-Monats-Vertrag und eine ähnliche Vergütungsstruktur wie Wolt mit einem deutschlandweiten Durchschnittslohn von 12 Euro pro Stunde, der in stark nachgefragten Gebieten auf bis zu 16,50 Euro ansteigen kann.

Ursprünglich wurden den Lieferando-Mitarbeiter:innen kostenlos E-Bikes zur Verfügung gestellt, die sie für ihre Schichten an lokalen „Hubs“ abholen konnten. Seit der Pandemie wurde dies jedoch zugunsten von Kurieren, die E-Bikes von externen Unternehmen zu monatlichen Raten von 110 Euro mieten, eingestellt, so die Lieferando-Mitarbeitenden, die sich über die Gewerkschaft der Freien Berufe (FAU) organisiert haben. Lieferando sagt, dass Arbeiter und Arbeiterinnen, die sich für das Mieten von Fahrrädern entscheiden, für die Kosten entschädigt werden.

Die verbesserten Bedingungen, die die meisten Kuriere in Berlin jetzt erwarten können, wie sichere Verträge und Winterschutz, sind ein Ergebnis gewerkschaftlicher Aktionen wie bei Lieferando, so Reza, ein Vertreter der FAU Deliverunion, der seit Ende 2019 für Lieferando arbeitet. Kurierdienst war eine „Abwechslung zur Büroarbeit“ und Reza gefiel es, beruflich draußen auf dem Fahrrad zu sein. Er fand den Job besser als die Arbeit im Gastgewerbe, bei der er nachts arbeitete und unbezahlte Überstunden machen musste. Er engagierte sich in der Gewerkschaft „mehr aus Überzeugung“ als aus einer Beschwerde heraus, sagte er.

In der Kälte stehen gelassen

Seitdem ist Rezas Meinung über den Essenslieferanten jedoch gesunken, vor allem nach einem kürzlichen Zerwürfnis. Während er Bestellungen auslieferte, erhielt er eine Textnachricht von der Firma, in der es hieß, dass er „zu lange an einer Stelle gestanden“ habe und dass er eine Abmahnung erhalten würde. Der Grund dafür war eine anhaltende Störung in seiner Arbeits-App, die das GPS nicht aktualisierte.

Als er seinen Vorgesetzten anrief, um dies zu erklären, wurde ihm gesagt, er solle eine E-Mail an das Unternehmen schicken, das daraufhin mit einer Copy-and-Paste-Warnung über die Konsequenzen des Nicht-Arbeitens während des Dienstes antwortete. Obwohl die Angelegenheit später geklärt wurde, hinterließ dies bei Reza den Eindruck, dass das Unternehmen seine Kuriere nicht schätzt.

Während des extremen Kälteeinbruchs in Berlin im Februar, als bis zu 20 cm Schnee den Boden bedeckten und die Temperaturen weit unter dem Gefrierpunkt lagen, kochten die Spannungen in der boomenden Lieferbranche über. Foto: Imago/Stefan Zeitz

Lieferando wurde 2014 von Takeaway.com übernommen, das im Februar 2020 mit dem britischen Unternehmen Just Eat fusionierte, um einen Essenslieferanten zu schaffen, der aus mehreren Unternehmen besteht, die in verschiedenen Ländern unter verschiedenen Namen operieren (in Deutschland jedoch nur Lieferando). Der Zusammenschluss war umstritten; die britische Wettbewerbs- und Marktaufsichtsbehörde (UK Competitions and Markets Authority) verzögerte den Zusammenschluss bis April 2020, weil sie befürchtete, dass er zu einer „erheblichen Beeinträchtigung des Wettbewerbs“ führen würde.

Lieferando hat das Quasi-Monopol schnell verloren

Einige Menschen aus Berlin erinnern sich vielleicht noch an Foodora, das ursprünglich 2014 in München startete und im folgenden Jahr von Delivery Hero aufgekauft wurde, das wiederum 2018 von Takeaway.com gekauft wurde. Nach dem Abschluss des Deals in der ersten Jahreshälfte 2019 beschloss der Mutterkonzern, –die Marke Foodora einzustellen und alle Geschäfte unter Lieferando zusammenzuführen. Als nächstes zog sich Deliveroo aus dem Markt zurück, da es mit dem niederländischen Schwergewicht nicht konkurrieren konnte, so dass Lieferando mit einem Quasi-Monopol auf dem Berliner Markt zurückblieb – bis zum Einmarsch von Wolt im letzten Jahr.

Noah, ein Brite, der nach Berlin gezogen ist, um in der Musikindustrie zu arbeiten, hat diese schleichende Konsolidierung des Marktes in Berlin aus erster Hand erfahren. Er kämpfte damit, seinen Lebensunterhalt allein durch Musik zu bestreiten und begann 2017 bei Foodora zu arbeiten, bis zu deren Fusion mit Lieferando im Jahr 2019. „Insgesamt war es kein schlechter Job, bis auf zwei schreckliche Wintermonate“, sagt er.

Er konnte dort arbeiten, während er durch Podcasts Deutsch lernte. Der Job ist weniger sozial als bei den Gorillas, aber sich nicht mit einem Chef oder Kollegen auseinandersetzen zu müssen, „kam mir als Introvertierter entgegen“, sagt Noah. Außerdem war der Job „sehr einfach zu bekommen“.

Noah spürte, wie sich sein Job drastisch veränderte, nachdem Foodora den Besitzer wechselte. Vorbei war die Start-up-Kultur mit dem Angebot an kostenlosen Yogakursen und einem echten Menschen, mit dem man reden konnte, wenn man Probleme hatte. Er bemerkte eine neue und kalte Firmenumgebung, in der man Warnmeldungen wie die von Reza erhalten konnte, wenn man als herumstehend gesehen wurde.

Die Auslieferungsbereiche vergrößerten sich dramatisch, so dass man nun „um 23:30 Uhr eine Schicht in Neukölln beenden und dann eine Bestellung im Wedding bekommen“ konnte. Die Flexibilität, die Noah an der Kurierarbeit genossen hatte, war plötzlich weg – und damit auch seine Begeisterung. Ein E-Bike wurde ihm nicht angeboten, als man begann, diese in das Lieferando-Modell einzubauen, und als sein Foodora-Vertrag auslief, wurde er nicht wieder eingestellt.

Wettrennen mit dem Fahrrad

Kampf um das Lieferanten-Monopol. Wir sind gespannt wie sich der Markt in der nächsten zeit entwickelt. Foto: Imago/Emmanuele Contini

Heute sind die Kuriere in Berlin überwiegend dreifarbig: orange für Lieferando, blau für Wolt und schwarz für Gorillas. Es soll noch bunter werden – und voller, denn neue Unternehmen drängen auf den Markt. Flink, ein weiteres Berliner Start-up, positioniert sich als Herausforderer von Gorillas, und auch Uber Eats ist in der Hauptstadt angekommen. Unterdessen plant der im DAX notierte Lieferdienst Delivery Hero seine Rückkehr nach Deutschland unter dem Namen Foodpanda, zwei Jahre nachdem er sein Geschäft hier verkauft hat.

CEO Niklas Östberg sagte, das Unternehmen werde Take-aways und „alles andere“ ausliefern, eine Testphase soll noch in diesem Monat beginnen. Amazon hat von den Aufsichtsbehörden grünes Licht für die Übernahme von Deliveroo im April 2020 erhalten, was zu einem Zustrom von Finanzmitteln und Plänen geführt hat, das Unternehmen an die Börse zu bringen. Infolgedessen könnten wir bald die blau-grün-belagerte Marke auf Berlins Straßen zurückkehren sehen.

Und dann gibt es da noch das Angebot Khora, ein Underdog aus gutem Grund. Das Food-Delivery-Kollektiv wurde vom ehemaligen Deliveroo-Fahrer Stefano Lombardo gegründet und verspricht seinen Fahrern bessere Konditionen als autonome Freiberufler. Die Takeaways sind teurer bei dieser lokalen Alternative, die sich vor Investitionen gescheut hat, dafür aber nur schwer aus ihren dünn besiedelten Gebieten in Neukölln, Kreuzberg und Friedrichshain ausbrechen konnte.

Digitale Giganten wie Lieferando, Wolt und Gorillas zittern kaum noch in ihren Stiefeln, da sie sich auf ihre eigenen Kämpfe um die Vorherrschaft konzentrieren. In dieser hart umkämpften Branche heißt es also: „Go big or go home“ – aber die Heerscharen von Kurieren werden bleiben.

Der Original-Text ist bei unserem englischsprachigen Schwestermagazin Exberliner erschienen.


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