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Porträt

Herrenschneider Egon Brandstetter: Mit Perfektion bis nach Hollywood

Der Herrenschneider Egon Brandstetter ist einer der wenigen seiner Art, denn er fertigt feinste Maßanzüge in seinem Berliner Atelier. Hinter ihm liegt ein bewegtes Leben, viel harte Arbeit und zuletzt ein Auftritt im Film „Tár“.

Anzüge nach Maß fertigen nicht mehr viele Schneider in Berlin. Egon Brandstetter ist einer von ihnen. Foto: Henning Moser Fotografie

Egon Brandstetters Anzüge sind eine vollkommene Einheit

Wie ein ausgeweidetes Tier liegt das dunkelblaue Jackett auf dem massiven Holztisch. Weiße und rote Nähte ziehen sich wie ein Gefäßsystem über den Stoff, an den Achseln kommen unter dem Satin-Innenfutter darunterliegende Stoffschichten hervor. „Hier siehst du eine Einlage aus Rosshaar und Leinen“, sagt Egon Brandstetter und zeigt auf den beigefarbenen, gröberen Stoff. Sie dient der Festigkeit für Brust und Schulterpartie. Anders als beim Jäger liegt sein Handwerk jedoch nicht im Zerlegen eines Ganzen in seine Einzelteile, sondern im präzisen zusammenfügen von Elementen zu einer vollkommenen Einheit. In seinem Fall: ein Anzug.

Wir sind im Ladengeschäft von Brandstetter in der Chauseestraße, gegenüber die Zentrale des Bundesnachrichtendienstes, schicke Apartmenthäuser drumherum. Im warm beleuchteten Raum hängen Jacketts und Anzughosen an Kleiderstangen, in Glaskästen liegen Krawatten und Manschettenknöpfe und auf dem Tisch stapeln sich einige Stoffballen. Die Nähmaschine rattert, an der ein Auszubildender in einem der Hinterzimmer sitzt und vor wenigen Minuten hat ein junger Mann mit Faible für den 1930er-Jahre-Look den Laden verlassen. Dann klingelt das Telefon, ein Kunde aus London am anderen Ende der Leitung. Alles so, wie man es sich bei einem Herrenschneider vorstellt.

Egon Brandstetter ist einer der wenigen Vollmaßschneider in Berlin

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Egon Brandstetter ist nicht irgendein Herrenschneider, er ist einer der wenigen Vollmaßschneider in Deutschland und nach eigener Aussage einer von dreien in Berlin. Außerdem ist er derjenige, der in der Anfangssequenz des Hollywoodfilms „Tár“ Hauptdarstellerin Cate Blanchett, beziehungsweise Star-Dirigentin Lydia Tár, einen Anzug auf den Leib schneidert. Seitdem klingelt das Telefon nonstop – es sind entweder Journalist:innen oder Kund:innen aus aller Welt. Aber eins nach dem anderen.

Egon Brandstetter näht noch viel von Hand. Foto: Brandstetter
Egon Brandstetter näht noch viel von Hand. Foto: Henning Moser Fotografie

Egon Brandstetter arbeitete sich durch Europas Kostümwerkstetten

Unter Vollmaß versteht man, dass sehr viel von Hand gearbeitet ist und dass der Anzug zu einhundert Prozent bei ihm im Atelier entsteht, erklärt der 46-Jährige mit mildem Lächeln und wachen Augen. Um die 80 Stunden Arbeiten fließen in einen Anzug, und bis zu vier Monate wartet der Kunde darauf, kommt zwei bis drei Mal zur Anprobe vorbei. Dabei bestimmt er alles von der Auswahl des Stoffes, Jackettlänge und der Reversbreite bis zu den Knöpfen und kann an verschiedenen Stadien des Projektes mitreden. „Das hier ist ein Erlebnis und eine Beziehung, die man über Monate aufbaut. Ich nenne es auch bewusst Zusammenarbeit“, sagt der Schneider, dem man seine österreichische Herkunft leicht anhört. 

Was man Brandstetter auch anhört, ist seine Leidenschaft für das Handwerk, das er in vielen Lehr- und Arbeitsjahren zur Meisterschaft führte. Nach einer Ausbildung zum Damen- und Herrenmaßschneider in Linz kam er in die Kostümabteilung des English National Opera in London, arbeitete nebenher bei Designern und beim Film, um sich das Leben in der teuren Metropole leisten zu können. Es folgten Stationen an renommierten Häusern in Wien und Paris. Allzu lange hielt es ihn an keinem Ort: „Ich habe jedes Mal für mich erkannt, wie weit ich wo kommen kann und dann zog ich weiter.“

Selbständigkeit und harte Arbeit in Berlin

2007 ging er nach Berlin, um eine Freundin zu besuchen, und blieb. Mit Anfang 30 schien dem wandernden Schneider eine Zukunft in Kostümwerkstätten mit viel Arbeit und wenig Gehalt sowie die Aussicht auf eine niedrige Rente in Österreich nicht verheißungsvoll. „Ich hatte das Selbstvertrauen und beschloss, mein eigener Herr zu sein“, sagt er. 

Am Herrenanzug faszinierte ihn die Beschränkung  und zugleich die Komplexität. Auch wenn es sich scheinbar immer um die gleichen Schnitte handle, seien die Menschen jedes Mal anders und mit ihnen die Ansprüche und Herausforderungen, so Brandstetter. Und die wertvollen Materialien selbst sind nicht weniger anspruchsvoll. Ein guter Anzug muss seinen Träger in jeder Größe nicht nur gut aussehen lassen, sondern in den meisten Fällen über Jahre sämtliche Geschäftsreisen, Meetings und Empfänge überstehen.

Der Neu-Berliner teilte sich zunächst mit einer Freundin ein Wohnungsatelier, miete sich dann im Ladenlokal eines Änderungsschneiders einige Häuser von seinem jetzigen Geschäft ein. Damals war die Chauseestraße rau statt blank poliert und im armen aber sexy Berlin die Nachfrage nach Vollmaßanzügen überschaubar. Der arbeitswütige Brandstetter verdiente seinen Lebensunterhalt primär als Kostümbildner in der Deutschen Oper und bei großen Filmproduktionen, schob in gewohnter Manier Nachtschichten. 

Egon Brandstetter trifft einen Gleichgesinnten

Die Schneiderei ist ein hartes Geschäft. Ladenmiete, eventuell Personalkosten, Buchhaltung, Kundenaquise und dann kommt noch die eigentliche Arbeit an sich dazu. Brandstetter arbeitet sechs Tage die Woche um die 60 Stunden, früher waren es noch mehr. Zudem dauert es viele, sehr viele Jahre, um ein hohes handwerkliches Qualitätsniveau zu erreichen. All dessen muss man sich bewusst sein und das muss man wollen, betont er mit Nachdruck und erzählt von zahlreichen Bewerbungen, die ihm junge Menschen, aber auch gestandene Ärztinnen schicken, die sich den Traum vom Schneiderberuf erfüllen möchten. 

Womöglich hätte es Brandstetter wieder aus Berlin getrieben, wenn nicht im Jahr 2012 sein zukünftiger Geschäftspartner im Laden gestanden hätte. Marc Straub war mit einem Burnout der Corporate-Welt und seinem Pariser Apartment entflohen, hatte sich eigentlich geschworen, nie wieder einen Anzug zu tragen. Eines Nachts wurde er auf das Schaufenster mit der eher ungewöhnlichen Auslage in seiner Nachbarschaft aufmerksam. Irgendwann mal zum Schneider gehen stand schon auf seiner Liste, erzählt Straub, der seinem Geschäftspartner vor wenigen Minuten das Mittagessen vorbeigebracht hat. 

Nichts zum Mitnehmen: Diese Anzüge sind Probierteile und Muster.Foto: Brandstetter
Nichts zum Mitnehmen: Diese Anzüge sind Probierteile und Muster. Foto: Brandstetter

Von der One-Man-Show zur Marke „Brandstetter“

Straub ließ sich einen Anzug anfertigen und hat ihn kaum getragen. Heute hängt das Kleidungsstück im Laden, den die beiden gemeinsam führen. In Brandstetter hatte der nicht weniger getriebene Mittvierziger mit einem Faible für die Künste einen kongenialen Mitstreiter gefunden, dessen ästhetisches Handwerk seinen Geschäftssinn symbiotisch ergänzt. Seit zehn Jahren arbeiten die beiden nun zusammen, Lehrlinge und Praktikanten sind dazugekommen. Die Selbstzerfleischung, wie Brandstetter seine und Straubs Arbeitsweise bezeichnet, trägt endlich Früchte. 

Das liegt zum einen an dem Umzug in eigene, repräsentative Räume 2018 und der Einführung einer eigenen Maßkonfektionslinie, bei der die Kleidung genauso auf den Kunden zugeschnitten wird, die Produktion jedoch in Schneidereien in Portugal oder Italien ausgelagert ist. Das kostet Brandstetter weniger Arbeit und seine Kunden weniger Geld. Denn während ein Vollmaßanzug bei 5500 Euro losgeht, ist ein Zweiteiler aus der Maßkonfektion für ungefähr 1400 Euro zu haben. Zudem hat er das Angebot  um vergleichsweise günstigere Produkte wie Maßhemden und Accessoires italienischer und britischer Hersteller erweitert. Am Ende geht es eben ums Geld.

Und auch um Anerkennung, die beide in gewisser Weise durch den Auftritt in einem Hollywoodfilm erfahren haben. In der Anfangssequenz von „Tár“ lässt sich Meister-Dirigentin Lydia Tár, gespielt von Cate Blanchett, ein Hemd und ein Jackett schneidern. Straub spielt einen Ladenmanager, Brandstetter sich selbst. Er zieht Cate Blanchett das Maßband um die Brust, lässt die schwere Schere durch den Stoff gleiten und näht Jackett-Teile von Hand aneinander.

Cate Blanchett hat Egon Brandstetter Aufmerksamkeit verschafft. Im Film „Tár“ hat er einen Auftritt. Foto: Universal Pictures

Hollywood in der Chausseestraße

Zuerst stand ein Location-Scout im Laden und ein paar Tage später der US-amerikanische Regisseur Todd Field. Das war im November 2021. Insgesamt vier Tage haben sie gedreht, zuerst in der Chausseestraße und dann in einer alten Köpenicker Schule, in der ein Studio aufgebaut war. Cate Blanchett sei extrem freundlich gewesen, erzählt Brandstetter. Und er war aufgeregt sowie von der vielen Warterei müde zugleich. Aber als es dann so weit war, kickte das Adrenalin und er tat, was er eben am besten kann: seinen Job. Im Film handelt es sich letztlich nicht um einen Original-Brandstetter, in Anbetracht der kurzen Zeit hatte die Kostümabteilung vorgearbeitet. Dafür ließ sich Todd Field einen Anzug für die Filmfestspiele von Venedig anfertigen. 

Seitdem hat der Schneider noch mehr zu tun. Nicht nur viele Medienmenschen haben ihn besucht, die Anfragen nehmen zu. Und dieses Momentum wird natürlich genutzt. Schließlich soll sich die Marke „Brandstetter“ etablieren: eigene Accessoires, neue Kollektionen und ein Online-Shop sind in Planung. Beide träumen von einem wachsenden internationalen Geschäft – und einem normalen Leben. Auf die Frage, was sich ein Workaholic wie Brandstetter darunter vorstellt, kommt als erstes Zeit, neue Ideen und Projekte umzusetzen. Dann Zeit für Freunde und Urlaub, den hatte er zuletzt 2017.


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