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Kommentar

Hitler, Berghain und West-Berlin in den 1980er-Jahren

Was macht eine Stadt eigentlich aus? Die Kombination aus Menschen, Straßen, Häusern und Plätzen natürlich, und dazu das Zusammenspiel Landschaft, Klima und sozialem Miteinander. Darüber schweben die Geschichte und Kultur, verwoben mit Mythen und Klischees. So entsteht ein urbanes Image und formt sich zu einem eigenständigen Wesen. Dem Stadtwesen. Was macht also dieses Wesen aus, was macht Berlin aus, wieso ist diese Stadt spannend und interessant, was sind ihre Themen? Es scheint, es sind Hitler, Berghain und West-Berlin in den 1980er-Jahren. Klingt nach einem subversiven Theaterprojekt von Christoph Schlingensief? Kann gut sein.

Was ist mit Berlin nur los? Hitler, Berghain und West-Berlin in den 1980er-Jahren sind die Themen der Stadt. Foto: Imago (3)
Was ist mit Berlin nur los? Hitler, Berghain und West-Berlin in den 1980er-Jahren sind die Themen der Stadt. Foto: Imago (3)

Mit dem Blick auf die Klicks fragt man sich, was ist mit dieser Stadt los?

Über eine Sache sind sich PR-Strategen, Werbeleute und Marketingabteilungen einig: Man kann mit bestimmten Schlüsselreizen Leuten für eine Sache gewinnen. Für ein Produkt oder eine Idee etwa. Stellt man sich geschickt an, lässt sich die Sache verkaufen. Das kann man planen und eine Agentur dafür bezahlen, oder aber diese Schlüsselreize bilden sich selbst heraus, sie wachsen wie prächtige Pflanzen aus einem Urschlamm voller Angebote.

Im Prinzip entspricht dieser Prozess einer Facebook-Timeline, durch die man sich schiebt. Völlig willkürlich folgen da Themen aufeinander, komponiert vom eigenen Geschmack und dem mächtigen Algorithmus des Social-Media-Giganten. An manchem wischt man in Zehntelsekunden vorbei und anderes erregt die Aufmerksamkeit. Man verharrt, liest und klickt. Halleluja! Man schenkt dem Thema sein wertvollstes Gut. Es ist nicht Geld, es ist die eigene Aufmerksamkeit.

Stellen wir uns Berlin als so eine Timeline vor. Alles was diese Stadt ausmacht, erscheint in Form eines Posts mit Bild und kurzer Schlagzeile. Ob ein Dackelrennen in Mariendorf, ein Konzert in der Philharmonie, eine Schlägerei in Schöneberg, die Schließung eines Kurzwarengeschäfts in Lichtenberg oder die Sondierungsgespräche einer möglichen neuen Regierungskoalition. Alles. Manche Themen interessieren viele, andere niemanden.

Die Nachricht ist dort, wo die meisten Augen halt machen und das Gehirn jenen von der Werbebranche begehrten Impuls aussendet: Interesse. Für Berlin sind es, zumindest nach der Sichtung der Zugriffszahlen auf die Online-Kanäle unseres Mediums, die drei oben erwähnten Themen: Hitler, Berghain und West-Berlin in den 1980er-Jahren. Der tipBerlin wurde 1972 gegründet, mit dem Auftrag, diese Stadt zu erforschen und über ihre weit verzweigte Kultur zu berichten. Als Magazin für die Stadt, als Stadtmagazin. Seit einem halben Jahrhundert kümmern wir uns darum, was in der Stadt los ist. Plötzlich aber, mit dem Blick auf diese Zahlen, fragt man sich, was ist mit dieser Stadt los?

Die Berliner Mauer als Sinnbild einer vergangenen Jugend. Foto: Imago/kpa/United Archives
Die Berliner Mauer als Sinnbild einer vergangenen Jugend. Foto: Imago/kpa/United Archives

Hitler, Berghain und West-Berlin in den 1980er-Jahren: Mythen, die sich umschlingen

Artikel über Architektur im Dritten Reich, die Geschichte des Olympiastadions oder Wissenswertes über den Führerbunker stehen tagelang ganz oben in der Liste unserer meistgelesenen Artikel. Der Bericht über die Kunst, ins Berghain zu kommen oder die Fehler, die man bei dem Versuch machen kann, werden angeklickt wie wild. Und auch die Erinnerungen an die Zeit der Teilung, vor allem an den West-Berlin in den 1980er-Jahren, finden große Resonanz. Ob Fotos der jungen Christiane F., die 12 Dinge, die wir an West-Berlin vermissen oder Bilder von Punks und besetzten Häusern im Schatten der Mauer.

Hitler, Berghain und West-Berlin in den 1980er-Jahren. Man stelle sich den Gröfaz vor, wie er versucht, an Sven Marquardt vorbei zu kommen, wegen seinem nicht genügend hipstermäßigen Oberlippenbärtchen an der Tür scheitert, und während das gnadenlose „Heute nicht“ in seinem Nazischädel widerhallt, schlendert er versunken zum Todesstreifen und pinselt irgendwas Antisemitisches an den antifaschistischen Schutzwall.

Ja, das Berghain ist im Osten, schon klar. Das passt nicht zusammen? Stimmt. Aber es sind drei Berlin-Narrative, die sich bizarr umschlingen, die Portale zu Berlin-Dimensionen eröffnen, die für sehr, sehr viele Menschen reizvoll erscheinen. Warum eigentlich? Gehen wir der Frage mal auf den Grund. Psychoanalytisch sozusagen. Wir legen dafür Berlin auf die Couch.

Nazis marschieren durchs Brandenburger Tor, Berlin 1933. Foto: Imago/WHA/United Archives International
Nazis marschieren durchs Brandenburger Tor, Berlin 1933. Foto: Imago/WHA/United Archives International

Gut, das Interesse an NS-Themen haben ZDF, „Stern“ und irgendwie alle anderen Medien auch schon längst für sich entdeckt und ausgeschlachtet. Wo Hitler drauf ist, das verkauft sich gut. Man wünscht sich weder als Medium noch als Konsument die NSDAP zurück, aber die Faszination des Bösen wirkt. Es ist ein perverser Trieb. Man will sich das Unvorstellbare in jeder nur erdenklichen medialen Form immer und immer wieder zuführen. Auch wir beschäftigen uns immer wieder mit dem „Dritten Reich“, immerhin ist dieser Teil der Geschichte maßgeblich von Berlin ausgegangen.

Die Auseinandersetzung mit dem Berghain beschwört hingegen ein verruchtes Bedürfnis nach cooler Schlüpfrigkeit. Einen (vielleicht unterdrückten?) Wunsch nach Exzess und Enthemmung. Wenn Leute, die noch nie die heiligen Hallen (außer mal zur Kunstausstellung Studio Berlin) betreten haben, von zügellosen Drogen- und Sexorgien raunen, fühlen sie sich näher dran an einem wilden Leben, das sie selbst nie gewagt haben zu leben.

Spannender Fall für einen Psychoanalytiker

Und die 1980er? Die Zeit der Mauer steht für viele Berliner und Berlinerinnen für Nostalgie, für eine vermeintlich einfachere und auch wildere Zeit. Die diese Zeit erlebt haben, sind heute alt, damals waren sie jung und hatten aufregenden Sex und tolle Ideen und irre Erlebnisse, heute haben viele Sorgen, Schulden und ärgern sich über Touristen, Gentrifizierung oder den rot-rot-Grünen-Senat. Andere sind bestimmt glücklich und zufrieden, aber eines hat die Generation West-Berlin gemeinsam, sie ist nicht mehr jung. Die Jugend, die sie vielleicht in der Mauerstadt verschwendet hat, liegt weit hinter ihr. Der Blick zurück auf diese untergegangene Insel hat etwas Heilsames, es ist die Beschwörung der eigenen Adoleszenz, die genauso verschwunden ist wie die Kohleöfen, die Durchsteckschlüssel und die West-Alliierten.

Die Herleitung würde also folgendermaßen lauten: Es sind die Faszination des Bösen, das Bedürfnis nach cooler Schlüpfrigkeit und die nostalgische Sehnsucht nach der eigenen Jugend, die zum gesteigerten Interesse an Hitler, Berghain und West-Berlin in den 1980er-Jahren führen. Nimmt man das zusammen, wäre dieser Aspekt der Berliner Seele ein spannender Fall für einen Psychoanalytiker. Dit is Berlin!


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