Das Schöne mit dem Nützlichen verbinden: Immer mehr Menschen schlagen der verstopften Stadt ein Schnippchen und joggen ins Büro. Diese Bewegung hat bereits einen Namen. Wir haben uns unter die Turnschuhpendler begeben
Es ist eine Frage wie jene nach der Henne und dem Ei. Anna Rentsch hat genügend Zeit, um darüber zu philosophieren. 50 Minuten, um genau zu sein. So lange braucht sie von ihrer Wohnung in Friedrichshain bis zur ihrem Agenturschreibtisch in der Genthiner Straße in Tiergarten. Fünf Minuten pro Kilometer, zurückgelegt im durchaus ambitionierten Trab. Anna Rentsch joggt zu ihrem Arbeitsplatz. Sie ist eine Turnschuhpendlerin. So hieß zunächst eine Facebookgruppe und bald eine ganze Laufbewegung, der es grob gesagt darum geht: das Schöne und das Notwendige, den Alltag und die vielzitierte Quality Time zu vereinen. Und, ja, auch das Training.
Aber zurück zur Frage, jener mit der Henne und dem Ei. Was also war zuerst da? Die fehlende Zeit, in den dicht getakteten Großstadtalltag auch noch das Hobby, also den Sport, zu integrieren? Oder die Feststellung, dass, wer sowieso läuft, ja auch irgendwo hinlaufen kann? Anna Rentsch läuft manchmal einfach weg: „Diese fünfzig Minuten funktionieren schon auch wie eine Schleuse. Gerade wenn ein Tag mal nicht so lief oder einfach viel zu voll gepackt war,kommt man angenehm aufgeräumt zuhause an.“
Rund zweimal in der Woche wählt die Projektmanagerin in einer Digitalagentur diesen Weg zur Arbeit. Sie hat Glück: In ihrem Büro gibt es eine Dusche. Mit nur ein paar hundert Metern Umweg läuft sie durch den Tiergarten und ein langes Stück an der Spree entlang. Immer häufiger begegnen ihr dabei Läuferinnen, die wie sie mit einem Laufrucksack unterwegs sind. Eigentlich einmal erfunden, um bei Ultraläufen vor allem im Gebirge Regenjacke und Rettungsdecke, Wechselshirts und Trinkwasser zu transportieren, gibt es neuerdings sogar Modelle mit Laptopfach. Die modernen Normaden reisen, nein, rennen mit leichtem Gepäck. Es geht nicht um Bestzeiten Oder sie hocken auf den Zehenspitzen. In einem S-Bahnzug. Paul Schmidt-Hellinger, deutscher Rekordhalter über die 50-Kilometer-Distanz und Sportmediziner an der Charité, lässt seine Follower mit solchen Bildern am Turnschuhpendeln teilhaben. Zwei Intervalleinheiten, dazwischen Dehnen im Zug. Wer, wie Schmidt, seinen Freizeitsport auf Hochleistungsniveau betreibt, hat gemerkt, dass jede Minute kostbar ist. Wer den Arbeitsweg von Schmidt-Hellinger verfolgt, merkt aber auch: Selbst Topathleten entscheiden sich oft für lockere Einheiten. Überhaupt ist dieses Turnschuhpendeln in der Summe eine Bewegung, der es nicht um Bestzeiten geht. Sondern um eine bessere Zeit.
Ben Owens hat das im vergangenen Herbst gemerkt. Der Brauer bei der Friedrichshainer Kiezbrauerei Hops & Barley läuft gerne im Gelände, durch die Wuhlheide, am Teufelsberg entlang. Was die meisten Turnschuhpendler zu Protokoll gegeben haben: Seit sie Berlin so oft laufend erleben, kommen sie mit der Stadt besser zurecht. Zum einen, so Anna Rentsch, „weil der Arbeitsweg ja immer ein klassischer Moment ist, in dem die große Stadt nervt“. Aber auch, so Ben Owens, „weil man sich plötzlich bemächtigt fühlt –man bestimmt selbst seine Routen“. Einzige Einschränkung: Irgendwann muss man am Schreibtisch sitzen. Michael Arendt trainiert Läuferinnen. Solche vor allem, die möglichst lang und möglichst viel laufen. Was er vom Turnschuhpendeln hält: „Zunächst einmal gewinnt man Trainingszeit, was spätestens für Ultraläufer oder Triathleten auch wichtig sein kann, um den Familienfrieden zu wahren.“
Wichtig sei aber, von diesen Pendelläufen nicht zu viel zu erwarten: „Wer sowohl runterkommen als auch einen qualitativen Tempolauf hinlegen und zwischendurch noch drei Erledigungen machen will, der hat am Ende einfach nur Stress.“ Sein Ratschlag: „Den Hinweg zur Arbeit als ruhigen Erholungslauf nutzen und am Abend eine konzentrierte Tempoeinheit daraus machen.“ Wer beides nicht am selben Tag erledigen möchte, der lässt sein Rad (oder seine Monatskarte) einfach über Nacht im Büro.
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