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Interview

Internationaler Tag gegen Gewalt gegen Frauen: Es passiert überall

Der 25. November ist der Internationale Tag zur Beseitigung von Gewalt gegen Frauen. Die Meisten erleben sie in der Partnerschaft. Wir sprachen mit Kristin Fischer von der Berliner Initiative gegen Gewalt an Frauen (BIG e.V.) über Herausforderungen für Betroffene und die Situation in Berlin.

Häusliche Gewalt ist ein großes gesellschaftliches Problem, auf das der Internationale Tag zur Beseitigung von Gewalt gegen Frauen aufmerksam macht. Foto: Imago/ Pixsell/ Davor Puklavec

Gewalt gegen Frauen in Berlin ist zu hoch

tipBerlin Frau Fischer, immer mehr Frauen werden Opfer Häuslicher Gewalt. Wie bekommen Sie das mit?

Kristin Fischer Zunächst zeigen uns Statistiken lediglich das Hellfeld, also nur die polizeilich erfassten Fälle. Frauen, die sich nur an Beratungsstellen wenden oder gar nicht melden, tauchen da nicht auf. Unsere Kolleginnen von der BIG-Hotline berichten von steigenden Anrufzahlen. Insgesamt bemerke ich, dass wir immer noch mit zu viel Gewalt gegen Frauen und Kinder zu tun haben. Ob die Zahlen steigen oder nicht, ist dann fast egal, jede Frau, die Gewalt erlebt, ist eine zu viel.

tipBerlin Femizide, also Tötungen von Frauen, weil sie als Frauen Erwartungen oder partnerschaftliche Besitzansprüche an sie nicht erfüllen, wie zuletzt in Lichtenberg und Zehlendorf, sorgen für Schlagzeilen. Was sind aber die alltäglichen Arten von Häuslicher Gewalt gegen Frauen?

Kristin Fischer Viele denken an körperliche Gewalt, an die blauen Flecken und Rippenbrüche.  Aber es gibt auch psychische Gewalt, von permanenten Beleidigungen, die sich massiv auf das Selbstwertgefühl der Frauen auswirken, bis zu Drohungen. Zur ökonomischen Gewalt gehört, dass Frauen keinen Zugang zum gemeinsamen Konto haben oder nicht selber Geld verdienen dürfen. Sexualisierte Gewalt reicht von erzwungenen sexuellen Handlungen bis zu Vergewaltigungen. Auch im digitalen Raum erleben Frauen Gewalt.

tipBerlin Was hindert Betroffene daran, aus gewalttätigen Beziehungen zu gehen?

Kristin Fischer Es ist nicht so, dass in der Beziehung von Anfang an Gewalt stattfindet, sie entwickelt sich eher mit der Zeit. Nach einer Gewalteskalation zeigt der Täter Reue, entschuldigt sich – und Frauen hoffen auf Veränderung. Oft suchen sie die Schuld bei sich, etwa mit Gedanken wie „Ich hätte dafür sorgen können, dass die Kinder ruhiger sind.“ Es ist eine komplexe Dynamik, die viele in der Beziehung hält.

Gewalt gegen Frauen kommt in allen Gesellschaftsschichten vor

tipBerlin Scham spielt sicherlich auch eine Rolle.

Kristin Fischer Die Scham ist groß. Niemand möchte Gewalt erleben und darüber sprechen ist schwer. Frauen haben oft auch Schwierigkeiten, den Traum der Familie aufzugeben oder stehen unter familiärem Druck, Kindern den Vater nicht zu nehmen. Sie hören auch von anderen Vorwürfe wie „Warum gehst du nicht?“. Dabei sollte der Fokus auf den Tätern liegen: „Warum schlägst du deine Frau?“

tipBerlin Was können Außenstehende tun?

Kristin Fischer Wichtig ist zu verstehen, dass das Ziel der Frauen nicht unbedingt die Trennung ist, sondern dass die Gewalt aufhört. „Geh jetzt“ als erster Lösungsvorschlag ist nicht hilfreich. Warnsignale wie Rückzug oder wiederholte Verletzungen sollten ernst genommen und angesprochen werden. Gewalt gegen Frauen ist keine Privatsache. Wir dürfen und sollen uns einmischen. Es hilft schon, die Situation zu unterbrechen, wenn es zum Beispiel bei den Nachbarn poltert, einfach zu klingeln und nach Mehl zu fragen. Als Helfende sollten wir zuhören ohne zu urteilen, Glauben schenken und Ambivalenzen bei der Betroffenen aushalten. Letztlich muss ja sie die Konsequenzen ihrer Entscheidung tragen, das ist nicht leicht. Man kann die BIG-Hotline-Nummer weitergeben, wo sie anonym Hilfe suchen können.

tipBerlin Welche Frauen betrifft dieses Thema?

Kristin Fischer Gewalt kommt in allen Einkommens- und Bildungsschichten vor. Frauen, die ins Frauenhaus gehen, haben oft keine andere Möglichkeit. Frauen mit mehr Ressourcen können sich anders helfen. Viele verbergen Spuren, und Täter wissen, wie sie schlagen müssen, damit die Gewalt nicht sichtbar wird.  Ich hatte mal eine Frau in der Beratung, da war der Täter ein Professor. Auch erfolgreiche Frauen sind betroffen, wie die Initiative #DieNächste zeigt.

Das „Signal for Help“, also Handzeichen bei häuslicher Gewalt, wurde von der Canadian Women’s Foundation im Corona-Lockdown 2020 entwickelt. Foto: Hanker – stock.adobe.com

Bestehende Netzwerke müssen gestärkt werden

tipBerlin Hat sich das Bewusstsein für Häusliche Gewalt gegen Frauen verändert?

Kristin Fischer Insgesamt hat es sich verbessert. Die Medien sprechen nicht mehr von „Familienstreitigkeiten“, auch die Polizei nicht. Der Berliner Landesaktionsplan zur Umsetzung der Istanbul-Konvention, dem Übereinkommen des Europarates zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und Mädchen, ist ein wichtiger Schritt. Die Corona-Pandemie hat das Thema stärker ins Bewusstsein gerückt und Hilfsangebote bekannter gemacht. Dennoch gibt es noch viel zu tun, insbesondere im Bereich der Prävention.

tipBerlin Gibt es besondere Herausforderungen in Berlin, gerade im Hinblick auf Fälle aus muslimischen Communitys?

Kristin Fischer Ich halte es für ein schädliches Narrativ, Häusliche Gewalt auf bestimmte Communitys zu schieben. Sinnvoller ist es, sich gewaltfördernde Strukturen im sozialen Umfeld der Frauen anzuschauen und welche Möglichkeiten sie haben, sich Hilfe zu holen. Bei der individuellen Unterstützung spielt der kulturelle Hintergrund natürlich eine Rolle, aber das tut es für mich als weiße deutsche Frau genauso. Wenn eine Betroffene zum Beispiel in einem Ort wohnt, wo sich jeder kennt und wo vielleicht der Gewalttäter der Ortsvorsteher ist, wird es Druck und Zwänge geben, die ihn schützen und sie behindern. Wir haben hier immer noch patriarchale Strukturen, die auch in guten deutschen bürgerlichen Haushalten greifen.

tipBerlin Wie gut funktioniert hier die Zusammenarbeit zwischen Sozialarbeit, Polizei und Politik?

Kristin Fischer Es gibt gute Kooperationen, aber auch Hürden. Wir setzen uns für interdisziplinäre Fallkonferenzen für sogenannte Hochrisikofällen ein, bei denen alle beteiligten Akteure zusammenkommen würden, um geeignete Maßnahmen zum Schutz der Frau und gegebenenfalls der Kinder zu besprechen. Bisher scheitert das am Datenschutz, der absurderweise an manchen Stellen über den Opferschutz gestellt wird. Außerdem braucht es dringend mehr personelle und zeitliche Ressourcen, um die bestehenden Netzwerke zu stärken und weiter auszubauen.

Kristin Fischer von BIG e.V. setzt sich gegen Gewalt an Frauen ein. Foto: Privat

tipBerlin Sind die bestehenden Hilfsangebote ausreichend ausgestattet?

Kristin Fischer Leider nein. Die einzelnen Schutzeinrichtungen und Beratungsstellen benötigen eine bessere Ausstattung. Es braucht aber auch mehr Angebote in Berlin. Fachkräftemangel und der Immobilienmarkt verschärfen das Problem. Aber auch die Bekämpfung der Gewalt selbst muss intensiver verfolgt werden. Dafür müssen Täter in Verantwortung genommen werden durch Präventionsmaßnahmen und konsequente Strafverfolgung.

tipBerlin Welche politischen und gesellschaftlichen Veränderungen sind nötig, um Häusliche Gewalt effektiver zu bekämpfen?

Kristin Fischer Präventionsangebote müssen finanziell besser ausgestattet und ausgebaut werden, zum Beispiel an Schulen und Behörden. Wir brauchen das Gewalthilfegesetz des Bundes, hinter dem die Finanzierung von Frauenhäusern und Fachberatungen steht. Häusliche Gewalt ist ein gesamtgesellschaftliches Problem, das folglich auch politisch ressortübergreifend angegangen werden muss. In diesem Zuge wäre in Berlin ein gemeinsamer Finanzierungstopf sinnvoll. Außerdem muss der Zugang zu Hilfsangeboten unbürokratischer und leichter zugänglich gestaltet werden. Unser Anspruch sollte eine Gesellschaft sein, in der wir Gewalt scharf verurteilen und alle einschreiten. Gewalt gegen Frauen ist kein Frauenthema.


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